Als seien sie aus der Zeit gefallen, muten die Gedichte von Esther Kinsky zunächst an. Nicht nur, weil es immer wieder das einfache, mitunter ärmliche Dorfleben ist, von dem sie erzählen. Mehr noch ist es ihr Ton, der glauben macht, sie kämen von weit, sehr weit her. Behutsam und zurückgenommen, kein überflüssiges Wort, weder Ausschmückung noch Ausschweifung ist den Versen von Esther Kinsky eigen.
Tatsächlich aber sind diese Gedichte alles andere als aus der Zeit gefallen. Vielmehr sind sie fest verwurzelt in "der leisen Seite der Zeit", wie es in dem Gedicht "alte landschaft" heißt: verwurzelt in der Landschaft genauso wie in der Abfolge der Jahrzeiten.
Wenn Esther Kinsky die Natur und das Leben mit und in ihr beschreibt, dann tut sie das in ebenjener stillen Unbeirrbarkeit, die auch den Zyklen der Natur eigen ist. Sie tastet die Furchen der Landschaft nach, in der die Zeit ihre Spuren hinterlässt, in die sie sich eingegraben hat. Und stets sind diese Spuren, nach denen Kinsky tastet, auch die Spuren eines vergangenen Lebens. Die Bäume und Pflanzen werden zu Wegmarken der Erinnerung.
Unwegsames gelände
der zeit
zu lange schon
hängt der mond
dort im baum dieser kindernacht
müde
hält sich das dunkel
abhanden gekommen der tag
da dieser baum mir
im rücken blieb
die pfade
ins morgengrauen verstellt
oder ganz dem gelände
entfallen das heißt
nach der zeit.
Natur wird in diesen Gedichten zur Heimat. Sie ist das Vertraute, das Ursprüngliche, mit dem man einmal eins gewesen ist. Eine Verbundenheit, die allenfalls noch als eine vage Ahnung da ist. Die vielen Reminiszenzen an Kinderspiele und kindliches Naturerleben sind wie Anker, die Kinsky nach dem Verlorenen auswirft, um es aus den Schichten der Erinnerung wieder hervorzuholen. Und es ist bei jedem einzelnen Gedicht erstaunlich, wie Kinsky diese Welt wieder leise zum Klingen bringt.
Selbst aus der Unwirtlichkeit, die der Umgebung bisweilen eigen ist, aus der Kargheit der Natur erwächst ein Empfinden von Geborgenheit. Aufs Neue entsteht das kindliche Gefühl eines Aufgehobenseins, bei dem Glück und Melancholie allerdings immer dicht beieinander liegen. Denn so wie die Natur einem Werden und Vergehen unterworfen ist, ist bei Kinsky auch dem Leben die Vergänglichkeit immer schon eingeschrieben.
Der sommer ging früh die pappeln
warfen die herzen ab
die glatten
gelben wir spielten im laub
die vögel sahen uns zu
aus dem verlassenen gezweig
wir spielten im laub
das wären die toten
die uns um die knöchel standen
sie rochen nach falscher
süße des sommers
streiften raschelnd unsere haut
doch sie ließen uns spielen
bis in die tiefe nacht.
So zurückgenommen, so wenig ausschweifend der Ton, so schmal, grazil fast ist auch das Schriftbild von Kinskys Versen. Und doch oder gerade deswegen sind diese Gedichte nie verdunkelt oder vernebelt, sondern von einer leuchtenden Klarheit, einer beglückenden Richtigkeit.
Anders als in Esther Kinskys erstem Lyrikband "Die ungerührte Schrift des Jahrs", in dem die Schönheit gerade aus der beinahe spröden Konzentriertheit der Sprache erwuchs, werden die Gedichte in "Aufbruch nach Patagonien" nun allerdings sinnlicher, je weiter man blättert. Sie werden sinnlicher, weil da eine Sehnsucht ist, die sie durchzieht. Und diese Sehnsucht richtet sich nicht nur auf das Vergangene und Verlorene, sie richtet sich auch noch vorn. Es ist die Ahnung von etwas anderem, etwas Unbekanntem, die den Gedichten einen Drang nach einem Aufbrechen einschreibt, eine Dynamik, die in die Ferne strebt. Eine Sehnsucht ist das, die erst gelernt werden muss. Aber schon in diesem Lernen, in dem Versprechen, das in ihm steckt, scheint etwas zu liegen wie ein milder metaphysischer Trost.
Ein herz sich erfinden
das an der ferne hängt
diesen muskel
im eigenen dunkel zum
kompass ernennen
der immer ins andere zeigt ins
anderswo anderwann immer
dem auge voraus immer
die landschaft absuchend
nach verlorenem immer
sein eigener widerhall.
Die Sehnsucht ist bei Esther Kinsky stets beides: Die Sehnsucht nach etwas anderem und zugleich die Sehnsucht nach einer Ursprünglichkeit, die einmal war. Es ist ein ur-romantisches Prinzip, das Kinsky hier zum Movens ihrer Gedichte macht: Das Aufbrechen, das gleichsam ein Ankommen, ein nach Hause kommen ist. Das goldene Zeitalter nannten es die Romantiker oder auch die Suche nach der blauen Blume. Und stets hieß es bei den Romantikern auch, es gälte, den ursprünglichen, vergessenen Namen der Dinge finden.
Die blaue Blume, das Sehnsuchtsbild der Romantiker, wird bei Kinsky das titelgebende Patagonien. Jene dünn besiedelte Landschaft an der Spitze Südamerikas, die zwar längst nicht mehr der weiße Fleck auf der Landkarte ist, die aber in Kinskys Gedichten ein utopischer Ort bleibt, von dem man gar nicht wissen muss, wo und was er genau ist. Es ist vor allem der Klang des Namens, der verführt: Patagonien. Und mythisch geradezu klingt natürlich auch die vorgelagerte Inselregion: Feuerland.
"Mitgenommen hat uns das bloße / wort", schreibt Kinsky, "patagonien / hat die zunge verzerrt / und der anblick der feuer im traum oder / halbtraum jedenfalls".
Diese Verführung schlägt in eine bei Kinsky bisher nicht gekannte Emphase um:
"brechen wir auf brechen/ wir auf in das land von dem / es heißt es sei fern", heißt es da etwa. Und es ist bereits ein leises Wogen zu vernehmen allein in dem Gedanken an diesen Aufbruch.
Der Blick auf das Meer, das es zu überqueren gilt, um nach Patagonien zu kommen, macht dieses Wogen stärker, lässt den Horizont aufreißen und die Verse, die immer gezähmt, bedacht komponiert sind, werden zusehends durchlässig. Durchlässig auch für bisweilen magische, märchenhafte Bilder. Von Engeln ist da plötzlich die Rede und immer wieder von Vögeln. Von Raben vor allem, die zu dunklen Zaubervögeln werden. Draußen vor der Stadt werden diese Zaubervögel mit den Herzen der Toten gefüttert, schreibt Kinsky, dadurch würden die Raben ein unerschöpfliches Wissen in Herzensdingen erwerben. Unversehens schlägt hier die Natur in Magie um.
Ich höre
raben ich weiß
sie sitzen bewachen
ein stück licht
an dem wollen
sie ihre schwärze erproben
immer wieder immer
dunkel
hell dunkel andere
meinen
sie suchen nach
nahrung.
Die Vögel werden, wie in der Mythologie, zu Boten des Schicksals. So wie die Vögel im Wind stehen, so werde der Tag, heißt es etwa. Ihr Rufen wird zum Schmerzensruf, der durch die Luft schallt und zum allgegenwärtigen Ausdruck des Leids wird, auch wenn die Raben ihn womöglich gar nicht als solchen meinen.
Die Vögel werden aber auch, in ihrem Auf- und Abwogen in den Lüften, zu Versinnlichungen ebenjener Sehnsucht, die nicht nur ein Wegstreben ist, sondern immer zugleich auch ein Hinstreben, Erneuerung und Ewigkeit. Wie auch das Meer in seinem beständigen Kommen und Gehen, in seinem Vor und Zurück. Und hier hört man sie plötzlich so deutlich wie kaum zuvor: die ursprüngliche Melodie der Natur, die Kinskys Verse nicht nachahmen, sondern im Zusammenklang der Worte und Silben neu entstehen lassen.
Namen finden
für die flügelschläge die
winkel der schatten
von kopf
schnabel
zerklüftetem rand des gefieders
im scharfen licht
für das steigen und sinken
und streifen von rauem
in den schründen des winds
für die schrift im salz im
ratlosen sand für
die erinnerung.
Es wird kein Ankommen geben in Patagonien, keine Erfüllung der Sehnsucht, denn damit wäre sie zunichte gemacht. Es gibt nur diese Bewegung, die eine Bewegung der Texte ist, eine Suchbewegung, die immer wieder die heimlichen verborgenen Namen findet, aufhebt und ein Stück mit sich trägt, um sie dann sanft zu Boden gleiten zu lassen.
Und doch wird diese Bewegung in "Aufbruch nach Patagonien" für Momente in einem harmonischen Ende aufgehoben. "Stilleben" heißt das letzte Gedichte, das den Band sanft in einen zart melancholischen Abend gleiten und scheinbar zur Ruhe kommen lässt. Aber klammheimlich liegt in dieser Ruhe schon wieder ein neuer Aufbruch, eine Sehnsucht nach dem Unbekannten verborgen.
Etwas licht
liegt auf den dingen
etwas
aus einem unbekannten tag
der irgendwo noch
hängt und nicht
vergehen will
Esther Kinsky: "Aufbruch nach Patagonien". Gedichte. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2012. 88 S., kat., 17,90 €.
Tatsächlich aber sind diese Gedichte alles andere als aus der Zeit gefallen. Vielmehr sind sie fest verwurzelt in "der leisen Seite der Zeit", wie es in dem Gedicht "alte landschaft" heißt: verwurzelt in der Landschaft genauso wie in der Abfolge der Jahrzeiten.
Wenn Esther Kinsky die Natur und das Leben mit und in ihr beschreibt, dann tut sie das in ebenjener stillen Unbeirrbarkeit, die auch den Zyklen der Natur eigen ist. Sie tastet die Furchen der Landschaft nach, in der die Zeit ihre Spuren hinterlässt, in die sie sich eingegraben hat. Und stets sind diese Spuren, nach denen Kinsky tastet, auch die Spuren eines vergangenen Lebens. Die Bäume und Pflanzen werden zu Wegmarken der Erinnerung.
Unwegsames gelände
der zeit
zu lange schon
hängt der mond
dort im baum dieser kindernacht
müde
hält sich das dunkel
abhanden gekommen der tag
da dieser baum mir
im rücken blieb
die pfade
ins morgengrauen verstellt
oder ganz dem gelände
entfallen das heißt
nach der zeit.
Natur wird in diesen Gedichten zur Heimat. Sie ist das Vertraute, das Ursprüngliche, mit dem man einmal eins gewesen ist. Eine Verbundenheit, die allenfalls noch als eine vage Ahnung da ist. Die vielen Reminiszenzen an Kinderspiele und kindliches Naturerleben sind wie Anker, die Kinsky nach dem Verlorenen auswirft, um es aus den Schichten der Erinnerung wieder hervorzuholen. Und es ist bei jedem einzelnen Gedicht erstaunlich, wie Kinsky diese Welt wieder leise zum Klingen bringt.
Selbst aus der Unwirtlichkeit, die der Umgebung bisweilen eigen ist, aus der Kargheit der Natur erwächst ein Empfinden von Geborgenheit. Aufs Neue entsteht das kindliche Gefühl eines Aufgehobenseins, bei dem Glück und Melancholie allerdings immer dicht beieinander liegen. Denn so wie die Natur einem Werden und Vergehen unterworfen ist, ist bei Kinsky auch dem Leben die Vergänglichkeit immer schon eingeschrieben.
Der sommer ging früh die pappeln
warfen die herzen ab
die glatten
gelben wir spielten im laub
die vögel sahen uns zu
aus dem verlassenen gezweig
wir spielten im laub
das wären die toten
die uns um die knöchel standen
sie rochen nach falscher
süße des sommers
streiften raschelnd unsere haut
doch sie ließen uns spielen
bis in die tiefe nacht.
So zurückgenommen, so wenig ausschweifend der Ton, so schmal, grazil fast ist auch das Schriftbild von Kinskys Versen. Und doch oder gerade deswegen sind diese Gedichte nie verdunkelt oder vernebelt, sondern von einer leuchtenden Klarheit, einer beglückenden Richtigkeit.
Anders als in Esther Kinskys erstem Lyrikband "Die ungerührte Schrift des Jahrs", in dem die Schönheit gerade aus der beinahe spröden Konzentriertheit der Sprache erwuchs, werden die Gedichte in "Aufbruch nach Patagonien" nun allerdings sinnlicher, je weiter man blättert. Sie werden sinnlicher, weil da eine Sehnsucht ist, die sie durchzieht. Und diese Sehnsucht richtet sich nicht nur auf das Vergangene und Verlorene, sie richtet sich auch noch vorn. Es ist die Ahnung von etwas anderem, etwas Unbekanntem, die den Gedichten einen Drang nach einem Aufbrechen einschreibt, eine Dynamik, die in die Ferne strebt. Eine Sehnsucht ist das, die erst gelernt werden muss. Aber schon in diesem Lernen, in dem Versprechen, das in ihm steckt, scheint etwas zu liegen wie ein milder metaphysischer Trost.
Ein herz sich erfinden
das an der ferne hängt
diesen muskel
im eigenen dunkel zum
kompass ernennen
der immer ins andere zeigt ins
anderswo anderwann immer
dem auge voraus immer
die landschaft absuchend
nach verlorenem immer
sein eigener widerhall.
Die Sehnsucht ist bei Esther Kinsky stets beides: Die Sehnsucht nach etwas anderem und zugleich die Sehnsucht nach einer Ursprünglichkeit, die einmal war. Es ist ein ur-romantisches Prinzip, das Kinsky hier zum Movens ihrer Gedichte macht: Das Aufbrechen, das gleichsam ein Ankommen, ein nach Hause kommen ist. Das goldene Zeitalter nannten es die Romantiker oder auch die Suche nach der blauen Blume. Und stets hieß es bei den Romantikern auch, es gälte, den ursprünglichen, vergessenen Namen der Dinge finden.
Die blaue Blume, das Sehnsuchtsbild der Romantiker, wird bei Kinsky das titelgebende Patagonien. Jene dünn besiedelte Landschaft an der Spitze Südamerikas, die zwar längst nicht mehr der weiße Fleck auf der Landkarte ist, die aber in Kinskys Gedichten ein utopischer Ort bleibt, von dem man gar nicht wissen muss, wo und was er genau ist. Es ist vor allem der Klang des Namens, der verführt: Patagonien. Und mythisch geradezu klingt natürlich auch die vorgelagerte Inselregion: Feuerland.
"Mitgenommen hat uns das bloße / wort", schreibt Kinsky, "patagonien / hat die zunge verzerrt / und der anblick der feuer im traum oder / halbtraum jedenfalls".
Diese Verführung schlägt in eine bei Kinsky bisher nicht gekannte Emphase um:
"brechen wir auf brechen/ wir auf in das land von dem / es heißt es sei fern", heißt es da etwa. Und es ist bereits ein leises Wogen zu vernehmen allein in dem Gedanken an diesen Aufbruch.
Der Blick auf das Meer, das es zu überqueren gilt, um nach Patagonien zu kommen, macht dieses Wogen stärker, lässt den Horizont aufreißen und die Verse, die immer gezähmt, bedacht komponiert sind, werden zusehends durchlässig. Durchlässig auch für bisweilen magische, märchenhafte Bilder. Von Engeln ist da plötzlich die Rede und immer wieder von Vögeln. Von Raben vor allem, die zu dunklen Zaubervögeln werden. Draußen vor der Stadt werden diese Zaubervögel mit den Herzen der Toten gefüttert, schreibt Kinsky, dadurch würden die Raben ein unerschöpfliches Wissen in Herzensdingen erwerben. Unversehens schlägt hier die Natur in Magie um.
Ich höre
raben ich weiß
sie sitzen bewachen
ein stück licht
an dem wollen
sie ihre schwärze erproben
immer wieder immer
dunkel
hell dunkel andere
meinen
sie suchen nach
nahrung.
Die Vögel werden, wie in der Mythologie, zu Boten des Schicksals. So wie die Vögel im Wind stehen, so werde der Tag, heißt es etwa. Ihr Rufen wird zum Schmerzensruf, der durch die Luft schallt und zum allgegenwärtigen Ausdruck des Leids wird, auch wenn die Raben ihn womöglich gar nicht als solchen meinen.
Die Vögel werden aber auch, in ihrem Auf- und Abwogen in den Lüften, zu Versinnlichungen ebenjener Sehnsucht, die nicht nur ein Wegstreben ist, sondern immer zugleich auch ein Hinstreben, Erneuerung und Ewigkeit. Wie auch das Meer in seinem beständigen Kommen und Gehen, in seinem Vor und Zurück. Und hier hört man sie plötzlich so deutlich wie kaum zuvor: die ursprüngliche Melodie der Natur, die Kinskys Verse nicht nachahmen, sondern im Zusammenklang der Worte und Silben neu entstehen lassen.
Namen finden
für die flügelschläge die
winkel der schatten
von kopf
schnabel
zerklüftetem rand des gefieders
im scharfen licht
für das steigen und sinken
und streifen von rauem
in den schründen des winds
für die schrift im salz im
ratlosen sand für
die erinnerung.
Es wird kein Ankommen geben in Patagonien, keine Erfüllung der Sehnsucht, denn damit wäre sie zunichte gemacht. Es gibt nur diese Bewegung, die eine Bewegung der Texte ist, eine Suchbewegung, die immer wieder die heimlichen verborgenen Namen findet, aufhebt und ein Stück mit sich trägt, um sie dann sanft zu Boden gleiten zu lassen.
Und doch wird diese Bewegung in "Aufbruch nach Patagonien" für Momente in einem harmonischen Ende aufgehoben. "Stilleben" heißt das letzte Gedichte, das den Band sanft in einen zart melancholischen Abend gleiten und scheinbar zur Ruhe kommen lässt. Aber klammheimlich liegt in dieser Ruhe schon wieder ein neuer Aufbruch, eine Sehnsucht nach dem Unbekannten verborgen.
Etwas licht
liegt auf den dingen
etwas
aus einem unbekannten tag
der irgendwo noch
hängt und nicht
vergehen will
Esther Kinsky: "Aufbruch nach Patagonien". Gedichte. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2012. 88 S., kat., 17,90 €.