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Sehnsuchtsfiguren und Außenseiter der Gesellschaft

Die Umherziehenden, die sich schon immer aus der Vielzahl der möglichen Wege einen aussuchen mussten, haben eine eigene Identität gebildet. Der Sammelband widmet sich dem Vagabunden als Außenseiter der Gesellschaft und Volksgruppen, die umherwandern.

Von Cordula Echterhoff |
    Der Vagabund: faszinierend frei und zutiefst verdächtig. Und als Krisenfigur hoch-aktuell. Besonders in Zeiten des Umbruchs fängt er an, auf der Suche nach Arbeit umherzuziehen. Er ist mobil, flexibel, und nicht sesshaft. So wie wir auch, wie der postmoderne Mensch. Grund genug, auf diesen Außenseiter der Gesellschaft zu blicken. Ein Blick auf ihn ist immer auch einer auf uns, wie die Herausgeberin Johanna Rolshoven schreibt:

    Die Geschichte der Vagabondage ist die Geschichte unserer Gegenwart. Die langfristige, ja langwierige historische Entwicklung – die longue durée – kann zeigen, wie geronnene Mentalität als Folgeerscheinung von komplexen wirtschaftlichen und nationalstaatlichen Politiken, von Ordnungs- und Grenzregimes zustande kommt.

    Der erste Teil des Sammelbandes widmet sich dem Vagabunden als Außenseiter der Gesellschaft. Der Grundstein für seine Ausgrenzung wurde im 13. Jahrhundert gelegt. Wer damals keinen festen Wohnsitz vorweisen konnte, galt als "unehrlich"; durfte keine Ehe mit einem Ehrbaren eingehen, kein Sakrament empfangen und auch nicht erben. Die Herumfahrenden fielen aus der Ordnung heraus; galten bald als suspekt und kriminell.

    Die Geschichte der Ausgrenzung lässt sich fortschreiben. Es ist eine Geschichte von den Wert- und Normvorstellungen der jeweiligen Zeit, vor deren Hintergrund man die Nicht-sesshaften ausschloss, sie zu disziplinieren oder zwangsweise vom Laster des Müßiggangs zu "heilen" versuchte. Die Vagabunden: "Antitypen der Norm". Doch mittlerweile ist der Vagabund als "Totalnegation der Ordnung", wie der Wiener Kulturwissenschaftler Florian Oberhuber schreibt, "tot". Denn heute erkennt man Obdachlosigkeit – offiziell zumindest – als soziales Phänomen an, versucht den Vagabunden nicht mehr auszuschließen, sondern zu integrieren.

    Noch vor knapp einer Generation, im Jahr 1987, hatte die UNO das‚ "Jahr der Obdachlosen" ausgerufen … . In den folgenden Jahren gelang in vielen Städten durch eine Kombination von Maßnahmen eine Entschärfung der Lage: Entkriminalisierung der ehemaligen "Landstreicher"" und Inklusion in die Sozialhilfe … . Kurz, aus Vagabunden wurden Klienten, und das fortschrittliche Dispositiv folgt nicht mehr einem Paradigma von Grenzziehung und Ausschluss, sondern arbeitet unter der Prämisse eines "Entwicklungspotentials" seiner Klienten an der Herstellung der Normalität.

    Vollkommen abgekoppelt von der sozialen Wirklichkeit war der Vagabund auch immer Sehnsuchtsfigur. Mit ihm träumten wir von der grenzenlosen Freiheit. Doch auch diese Sehnsuchtsfigur ist tot, meint Florian Oberhuber. Da die Strukturen zerfallen und wir ohnehin flexibel und mobil sein müssen, ist die Sehnsucht nach Entgrenzung der Suche nach einer neuen Ordnung gewichen. Und nach uns selbst, könnte man mit dem Kulturraumforscher Karl-Heinz Wöhler sagen, der das Prinzip des vagabundischen Umherziehens mit identitätsphilosophischen Fragen verknüpft.

    Seit der Moderne irren wir ohne einen von Gott zugewiesenen Platz umher. Müssen uns selbst entwerfen und einen Weg finden im Meer der Möglichkeiten. So wie der Vagabund, der sich im ganz konkreten Sinne schon immer einen Weg suchen musste. Das Paradox, das Karl-Heinz Wöhler herausarbeitet: Wir fahren weg, in den Urlaub, um dort unser Zuhause und uns selbst zu finden; müssen uns bewegen, um der permanenten Bewegung im Alltag zu entkommen.

    Reisende grenzen sich selbst aus; sie entziehen sich dem alltäglichen Bewegungszwang und suchen andernorts sozialpsychologische Infrastrukturen der Inklusion, Sicherheit und Beständigkeit auf. Wer sich nicht bewegt, bekommt nicht nur nichts, sondern er kommt auch nicht zu sich selbst. Dass Tourismusorte last resorts – gleichermaßen letzte Auswege und Infrastrukturen für eine selbstbezügliche Identitätssuche sind, macht sie zu exklusiven Orten. Von diesen Orten, also von außerhalb, kann die Welt und das eigene Verhalten reflexiv betrachtet werden.

    Der Sammelband widmet sich aber auch ganz konkret den Volksgruppen, die umherwandern: den Juden, Jenischen, Samen oder Roma. Bei manchen dieser Artikel wünscht man sich bisweilen, dass man einen anschaulicheren Einblick in das Selbstverständnis der Herumziehenden bekommt. Silvia Weißengruber, Studierende der Volkskunde, schildert dagegen sehr lebendig, was es heißt "on the road" zu sein. Sie ist durch Osteuropa getrampt und hat sich selbst und ihre Erlebnisse zum Gegenstand der Betrachtung gemacht. Ihre Reise: eine Schleife von Aufbrechen, Unterwegssein, Ankommen.

    Ich mache einen PKW mit Wiener Kennzeichen ausfindig, spreche das junge, südländisch aussehende Paar an und sitze kurz darauf auf der Rückbank neben einem Kleinkind. Im Wegfahren winke ich Florin – er lächelt mir zu, mit einer Spur Unbehagen und Bedauern, dass ich meinen Weg Richtung Österreich so schnell fortsetze, und schon ist er Vergangenheit. Gerade hörte ich noch Blasmusik. Diese zwei kolumbianischen Menschen, welche in Österreich aufwuchsen, versorgen mich mit Salsa.

    Ein Hoffnungsschimmer für das Vaganten-Dasein: Es kann auch heute noch genussvoll sein, zumindest, wenn es selbst gewählt und kurzfristig ist. Und auch wenn wir permanent unterwegs sind: Wir selbst sind es, die die disparate Welt zusammenhalten. Und ganz konkret schaffen wir uns immer kleine Inseln, auf denen wir uns zuhause fühlen, resümiert die Studentin Weißengruber. So wie der LKW-Fahrer, der sich sein Führerhäuschen wohnlich einrichtet.

    Auch wenn der Band, "Das Figurativ der Vagabondage", bezüglich des Selbstverständnisses des postmodernen Menschen keine neuen Erkenntnisse liefert, so ist es dennoch spannend, unsere spätmodernen Bewegungsweisen mit denen des mobilen, nicht-sesshaften Vagabunden zu vergleichen. Und zugleich auch einen konkreten Blick auf die Umherziehenden zu werfen, die sich schon immer aus der Vielzahl der möglichen Wege einen aussuchen mussten - und die sich dabei nicht verloren, sondern eine eigene Identität gebildet haben. Vielleicht ein kleiner Trost bei aller kulturpessimistischen Melancholie angesichts des "flexiblen Menschen", der gezwungen ist, sich den auflösenden Strukturen zu stellen.


    Johanna Rolshoven und Maria Maierhofer (Hg.): Das Figurativ der Vagabondage: Kulturanalysen mobiler Lebensweisen. Transcript Verlag, 250 Seiten, 24,80 Euro
    ISBN: 978-3-837-62057-3