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Sehnsuchtsland DDR

"Der letzte Kommunist - das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau" heißt das Buch des Autors und ehemaligen TV-Moderators Matthias Frings, das in der Rubrik Sachbuch für den Leipziger Buchpreis nominiert wurde. Schernikau ist ein früh verstorbener Schriftsteller, der im September 1989 als letzter Westdeutscher in die DDR übergesiedelt ist. "Traumhaft", wie es im Untertitel heißt, war dessen Leben eigentlich nicht.

Von Ralph Gerstenberg |
    Auch wenn sein Buch "Der letzte Kommunist" über den früh verstorbenen Schriftsteller Ronald M. Schernikau in der Rubrik "Sachbuch" für den Leipziger Buchpreis nominiert wurde, ob es wirklich ein Sachbuch ist, da ist sich Matthias Frings nicht so sicher.

    "Ich habe im Zug der Produktion des Buches überhaupt erst festgestellt, dass bei allen Verlagen Biographie unter Sachbuch läuft. Das ist einfach so. Und ich hab immer von Anfang an gesagt: Kinders, das ist kein Sachbuch. Allein schon deswegen, weil die Hälfte des Buches szenisches Erzählen ist. Es gibt natürlich einen Unterschied zur Fiktion. Und das ist, dass die Leute, die auftreten, reale Personen sind und das, was sie tun
    und das, was sie sagen, aus der Realität geschöpft wird. Also es ist so ein Zwischending, ein Hybrid."

    Frings hat Ronald M. Schernikau gekannt, der bei ihrer ersten Begegnung schon als eine Art Wunderkind galt. Zwanzigjährig hatte Schernikau mit seiner "Kleinstadtnovelle" debütiert. Die Geschichte einer homosexuellen Annäherung an einem Provinzgymnasium wurde als Generationsporträt verstanden und sorgte bei ihrem Erscheinen für ein Rauschen im Blätterwald. "Es gibt keine Alternative zum Nichtstun" lautet ein viel zitierter Satz aus dem Buch. Lesereise, Talkshowauftritt - ein Jungdichter hatte die Bühne betreten und ging dorthin, wo man Anfang der achtziger Jahre als schwuler Schriftsteller und Kommunist einfach hingehen musste: nach Westberlin!

    "Wir haben uns in einer Schwulenbar getroffen. Und da kam dieser Mann rein. Das war eigentlich kein Mann, das war eine Erscheinung: ein sehr, sehr schöner junger Mann, sehr groß, sehr bleich, mit langen roten Haaren, eleganten schmalen Händen. ( ... ) Und es war jemand, der neben seiner Klugheit ungeheuer gerne lachte. Und das nahm einen so ein für ihn. ( ... ) Dann hatte er ein unendliches Wissen über Literatur, über Literaturgeschichte. ( ... ) Er kannte sich ausnehmend gut in der ostdeutschen und der westdeutschen Literatur aus, und das Ganze dann auch noch mal auch auf der politischen Ebene, in der politischen Literatur und in der politischen Diskussion."

    Ronald M. Schernikau war früh in die DKP und dann in die SEW, die Sozialistische Einheitspartei Westberlins, eingetreten. Seine politische Überzeugung kam nicht von ungefähr. 1960 war er in Magdeburg als uneheliches Kind geboren worden. Seine Mutter, die Krankenschwester Ellen Schernikau, glaubte an den sozialistischen Staat. Dennoch folgte sie dem Vater ihres Sohnes, der vor der Steuerfahndung in den Westen geflohen war. In der Hoffnung auf ein gemeinsames Familienleben verließ sie im Kofferraum eines Diplomatenwagens mit ihrem sechsjährigen Sohn, den sie Rolo nannte, das Land. Matthias Frings erzählt die Vergangenheit von Ronald M. Schernikau im Präsens und aus der Sicht dieser Frau, wodurch die Ereignisse und Erlebnisse in ihrer persönlichen Dramatik und Unmittelbarkeit nachvollziehbar werden. Ronalds Vater hatte inzwischen längst eine eigene Familie gegründet. Ellen fühlte sich fremd im Westen, sie bereute ihre Flucht. Nur die Angst vor dem Gefängnis verhinderte eine Rückkehr in die DDR.

    "Also liest sie ihre DDR-Bücher, schaut ihr DDR-Fernsehen und schweigt ansonsten still. Soll sie etwa Zeitungen lesen, in denen die DDR in Gänsefüßchen steht? Sie hat große Angst, dass ihr Kind die DDR vergisst. Das wäre, als ob er sich von Ellen abwendet. Wenn Rolo von den Büchern erzählt, die er für die Schule liest, und sie kennt die Verfasser nicht, ist sie in Sorge. Was die ihm wohl beibringen? Es lässt ihr keine Ruhe, und so geht sie in den Elternrat, wird sogar Elternsprecher. Wie faul die anderen Eltern sind, meist kommen sie gar nicht erst. Es dauert, bis sie begreift, dass die froh sind, wenn nichts läuft. Merkwürdige Leute, es gelingt ihr einfach nicht, dieses Denken zu verstehen."

    Die Kindheitserlebnisse aus Sicht der Mutter kontrastiert Matthias Frings mit sehr dialogisch gestalteten Erlebnisberichten aus den Achtziger Jahren in Westberlin. Travestieshows, Clubs, Drogen, Mode, Musik - die schwule Community gedieh im subkulturellen Biotop. Mittendrin der rothaarige Kommunist und Literat Ronald M. Schernikau sowie der ehemaliger Kellner und Laiendarsteller Matthias Frings, der sich nach und nach mit Sachbüchern über Homosexualität als Autor einen Namen machte.

    "Dass ich selber drin vorkomme, war nicht unbedingt meine Idee, das war die Idee meiner Agentin. Und ich habe mich lange Zeit dagegen gewehrt. Ich fand das total unmöglich, das wirkt vollkommen eitel, das gehört sich nicht, so was macht man nicht, habe dann aber im Laufe des Schreibens gemerkt, dass es eine grandiose Idee von ihr war.

    Denn dadurch hat der Protagonist einen Gegenpart. Das ist im Grunde wie im Film. Es muss Spannung entstehen zwischen zwei Personen. Und das gibt es. Er ist der überzeugte Kommunist, ich war das nie, ich war das, was man früher einen Sponti genannt hat, ein hedonistischer Linker vielleicht, und er war der Parteikommunist. Und durch diese Auseinandersetzungen, die wir auch im Buch führen, auch politische Auseinandersetzungen und sexuelle Auseinandersetzungen, dadurch kommt Spannung ins Buch."

    "'Dieser ganze Pluralismus ist doch eine einzige Verarsche', sagte Ronald. 'Locker drauf sein und alles sagen dürfen, und es hat keinerlei Effekt. Alle reden, und keiner hört hin.'
    'Aber man muss doch ... '
    'Und diese ungeheure Verflachung der BRD! Es soll mir doch keiner erzählen, dass die Abschaffung der Zensur eine Blüte der Literatur hervorbringt. Dafür ist die BRD nun wirklich das Gegenbeispiel. Die Literatur der DDR war immer besser als die der BRD."
    Verzweifelt studierte ich meine Fingernägel. Auf diese Diskussion wollte ich mich nicht einlassen. Erfahrungsgemäß würde Ronald mir eine Armada von DDR-Autoren inklusive Zitaten und Werkanalysen um die Ohren hauen, und ich wäre draußen. Und dennoch. Konnte ein Land "bessere" Literatur haben als das andere?'"

    1986 zog Ronald M. Schernikau dorthin, wo seiner Meinung nach die bessere Literatur entstand. Er studierte am Leipziger Literaturinstitut, das damals noch den Namen Johannes R. Becher trug. Um diese Zeit zu beschreiben sprach Matthias Frings mit ehemaligen Kommilitonen Schernikaus und zitiert Passagen aus dessen Essay "Die Tage in L". Am Ende des Studiums bat Schernikau den von ihm verehrten Peter Hacks um einen dringenden Rat. Er fragte ihn, ob er in die DDR übersiedeln soll.

    "Und Peter Hacks schreibt ihm einen wunderschönen Brief zurück und sagt: Falls Sie vorhaben, ein großer Schriftsteller zu werden, dann müssen Sie in die DDR, denn die stellt Ihnen auf ihre entsetzliche Art die richtigen und wichtigen Fragen. Falls Sie aber das Talent haben, Leute zu amüsieren und Erfolg zu haben, dann würde ich Ihnen sehr abraten, in die DDR zu kommen."

    Im September 1989, während Tausende Ostdeutsche sich der Fluchtbewegung gen Westen anschlossen, ließ Ronald M. Schernikau sich in die DDR einbürgern. Selbst als die Mauer gefallen war und die Massen "Wir sind ein Volk" skandierten, glaubte er nicht daran, dass dieses Land sich einfach an die Bundesrepublik anschließen lassen würde. In seiner einzigen Rede vor dem DDR-Schriftstellerverband sprach er davon, dass die Konterrevolution gesiegt habe und man nur noch mit diesem Bewusstsein Bücher schreiben könnte. Kurze Zeit später musste er miterleben, wie sein Sehnsuchtsland einfach abgeschafft wurde.

    "Die DDR war gefallen, es war nichts mehr zu gewinnen für ihn, er wurde krank. Er wusste, dass er eine tödliche Krankheit hat. Er hatte das HI-Virus, und er wusste auch, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Und dann hat er die letzten anderthalb Jahre eigentlich nicht mit Trauer, sondern damit verbracht, sein letztes Buch zu Ende zu bringen. Und er hat auch gesagt: Ich kann nicht vorher sterben, ich muss diesen dicken Wälzer fertig schreiben, und wie das manchmal so ist. Ihm ist es wirklich gelungen. "

    Im Oktober 1991 starb Ronald M. Schernikau. Sein Opus Magnum "Legende" erschien acht Jahre später in einem Dresdner Kleinverlag. Matthias Frings Buch über Schernikaus "traumhaftes Leben" - wie es im Untertitel heißt - ist das sehr persönliche Porträt eines talentierten Schriftstellers, den es vielleicht noch zu entdecken gilt. Mit viel Sinn für Details und beeindruckender Leichtigkeit schafft es Frings, den Zeitgeist einer Ära und die Lebensumstände seines Freundes, dessen Hoffnungen und Enttäuschungen, einzufangen. Die episodische Schreibweise und das epische Breitwandformat tun dem Buch sehr gut, auch wenn einige Kürzungen - vor allem in Frings autobiografischen Passagen - ratsam gewesen wären. "Der letzte Kommunist" ist dennoch ein spannendes Buch geworden, weil es auf anrührende Weise eine ungewöhnliche Lebensgeschichte erzählt, ohne sie erklären zu wollen, und einen etwas anderen Blick auf das geteilte Deutschland wirft, von dem in diesen Tagen soviel die Rede ist.



    Matthias Frings, "Der letzte Kommunist - Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau", erschienen im Aufbau Verlag, 488 Seiten, Kosten 19,95 Euro