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Sehnsuchtsort Klausen

Zwischen Brixen und Bozen steckt Klausen wie ein Pfropfen im engen Flaschenhals des Eisacktales. Hier drängten und zwängten sich Kaiser und Könige, Heere und Händler, Künstler und Kleriker: Also machen wir uns auf zu einem Sonntagsspaziergang durch Klausen, wo auch Goethes oder Heinrich Heines Kutschen durchgerumpelt sind, wo Albrecht Dürer Ort und Landschaft malte.

Von Franz Nussbaum | 02.06.2013
    August 1828, vor rund 190 Jahren. Denken wir uns in die rappelvolle Reisekutsche von Heinrich Heine ein, in diesem schaukeligen Holzkäfig mit laut dröhnenden, eisenbeschlagenen Radreifen über das rumpelige Kopfsteinpflaster. Die Flüster-Asphaltstraße war noch nicht erfunden. Heine ist 29 Jahre. Er reist über Innsbruck, Klausen nach Genua und Venedig. Er reist, um darüber schreiben zu können. Heines Verleger Johann Friedrich Cotta hat dessen Reisenotizen schon eingeplant, will sie im Dezember mit 17 Kapiteln in seinem "Morgenblatt für die gebildeten Stände" drucken. Kaum über den Brenner gießt es für Heine wie aus Eimern. Er hat sein Notizbuch auf den Knien und schreibt uns eine Art Ansichtskarte von unterwegs.

    "Im südlichen Tirol klärt sich das Wetter auf, die Sonne von Italien ließ schon ihre Nähe fühlen, die Berge wurden wärmer und glänzender, ich sah schon Weinreben, ich konnte mich schon öfter zum Wagen hinauslehnen. So lehnt sich auch mein Herz mit mir hinaus. Und dann schaute ich himmelhohe Berge, die mich ernsthaft ansahen und mir mit den ungeheuren Häuptern und langen Wolkenbärten eine glückliche Reise zunickten. Dabei kreischten überall die Waldbäche, die sich wie toll von den Höhen herabstürzten und in den dunklen Talstrudeln versammelten. Die Menschen steckten in ihren niedlichen Häus'chen, die an den schroffesten Abhängen zerstreut liegen. Balkonartige Galerien, die sie mit Wäsche und Heiligenbildern, Blumentöpfen und Mädchengesichtern ausschmückten."

    Der Hallodri Heine schwärmt in seinen Notizen auch von den beiden Töchtern seiner Wirtin in Sterzing, er schreibt auch von der, Pardon, ... von der servilen Blödheit der immer lustigen Tiroler. Heine muss ja auch unterwegs dauernd schreiben, notieren, reflektieren. 17 Kapitel wollen ja auch anschaulich gefüllt sein. Die Reporter der Windrose lassen grüßen.

    Unser Postillon kündigt nun mit einigen deftigen Peitschenknallern den Ort Klausen an. Die durstigen Rösser kennen instinktiv alle Haltepunkte und wittern schon ihre Tränke und die gefüllten Haferbeutel. Die Kutsche fährt in vorsichtigem Schritttempo durch das enge Brixener Tor von Klausen und hält am Rossmarkt. Die Pferde werden gewechselt, die Radachsen mit triefendem Fett geschmiert. Es riecht nach verbranntem Hufhorn. Man hört derbe Flüche. Verrußte Gesellen hämmern an vier offenen Schmiedefeuerstellen, rund um den Pferdemarkt.

    Heinrich Heine und Mitfahrer vertreten sich die Beine, suchen nach den kleinen Häuschen mit den Herzchen, lassen den Damen den Vortritt zum Abtritt. Dann kommt das Posthornsignal zur Weiterfahrt. Die Damen raffen die weiten Röcke und eilen über die Straße zur Kutsche. Die vielen Schlaglöcher und Pfützen sind mit Pferdeäpfeln, Kuhfladen und undefinierbaren Rinnsalen gefüllt. Die frischen Gäule hören die Peitsche und wissen sowieso Bescheid. Und wir, wir bleiben am Pferdemarkt von Klausen zurück, winken hinterher. Gute Fahrt.

    Wenden wir uns einer anderen Kutsche zu, die im September 1786 in Klausen abgefertigt wird. Also rund 40 Jahre vor Heine. Johann Wolfgang Goethe, 37, inkognito, hat sich ohne ein Sterbenswort von seinem Weimarer Herzog und von der säuerlichen Charlotte von Stein abgesetzt. Wir lesen ...

    "Goethe ist 1786 weniger als Schriftsteller oder Dichter unterwegs. Er sieht sich als lernender Maler unter Malern. Goethe, alias Filippo Miller. alias Maler Möller, bringt nach zwei Jahren an die tausend Blätter mit Skizzen und Ansichten aus dem Land, wo die Zitronen blühn ... als seine Reisenotizen nach Weimar zurück. Goethes Manuskript seiner "Italienischen Reise" kommt dagegen erst 30 Jahre später zur Leipziger Messe auf den Markt."

    Wir wählen uns daraus Goethes nächtliche Kutschfahrt zwischen Brenner und Klausen aus. In der Nacht (!), quasi mit dem Nachtexpress unterwegs ...

    "Der Postillon schlief ein und die Pferde liefen den schnellsten Trab bergrunter, immer auf den bekannten Wegen fort. Kamen sie an einen ebenen Flecken, so ging es langsamer. Der Führer wachte auf und trieb sie wieder an. So komme ich sehr geschwind, zwischen den hohen Felsen, an dem reißenden Eisack hinunter. Die Postillons fuhren, dass einem Hören und Sehen verging ..."

    Wir schlendern durch das Zentrum von Klausen. Die "Lange Gasse" hier ist fast filmreif, man bräuchte nur wenig zu ändern und könnte in einer spätmittelalterlichen Kulisse drehen. Vierstöckige Giebelhäuser aus dem 13. Jahrhundert.

    Und in der Gasse war damals auch die Zollstation der Fürstbischöfe von Brixen. In Brixen hätten gewiefte Zollpreller den Ort heimlich umfahren können. Im engen Klausen ist das unmöglich. Lukas Krismer ist unser Stadtführer. Wenn man sich vorstellt, dass hier ein Handelswagen, von sechs Pferden gezogen ... und von oben kommt ein Wagen entgegen?

    "Dann geht nichts mehr. Es gab ganz einfach nicht mehr Platz. Zwei Häuserreihen, eine Straße, mehr ist zwischen dem Eisack und dem Säbener Berg
    nicht Platz. Wir befinden und jetzt an einer ganz besonders engen Bereich der Straße. Hier nämlich war die ehemalige Zollstätte. Und jeder der hier vorbei wollte bezahlt. Und zwar ordentlich. Man bezahlte bis zu einem Dritten dessen, was man mit sich geführt hat."

    33 Prozent!

    "Es ist enorm. Aber im Zuge davon entwickelt sich in Klausen ein reges Handelsleben. Klausen ist eine kleine Stadt mit nicht mal einem Quadratkilometer Fläche. Auf dieser Fläche gab es zu den besten Zeiten 25 Gasthäuser."
    Auch was der Kaufmann, der aus Venedig kam, gut eingekauft hatte, was der draufschlagen musste mit all den vielen Steuern, die er zwischendurch zahlen musste.

    "Es gibt relativ gute Aufzeichnungen aus dem Mittelalter. Wo wirklich alle zehn Minuten hier ein Wagen vorbei kam, und im Jahre 1500 alle fünf Minuten ein Wagen hier bezahlte."

    Und heute? Da erahnen wir Italien-Mythiker von der Brennerautobahn herab den Ort Klausen nicht mal. Ich selber bin rund 25 Mal achtlos auf der Autostrada auf hohen Stelzen hier vorbei gebrettert. Kühne Viadukte und durch lange Tunnel.
    Über diese "Lange Gasse" rollte und staute sich einstmals der gesamte Pferde- und Töff-Töff- und Lastwagen- und Urlauber-Verkehr von Nord nach Süd und umgekehrt, bevor vor 40 Jahren endlich die Autobahn an diesem Engpass fertig ist. Wir lesen:

    "Über 66 Mal sind auf dieser Route durch Klausen deutsche Kaiser und Könige als Pilger oder zur Krönung oder zu Verhandlungen nach Rom geritten, oft mit hochschwangeren Königinnen auf unförmigen Karren im Gefolge. Oder sie marschieren mit zehntausend Bewaffneten und Gepanzerten zu Pferde, auch gegen die Päpste ... bis in die Südspitze des italienischen Stiefels. Oder sie kehren hochbeladen mit geplünderten Reliquien und anderen Schätzen als Sieger ... oder als geschlagener Haufen-Elend zurück."

    "Ob Sonnenschein oder kalt und nass, alles muss durch diese Gass."

    Eine kurze Musikpause, um die vielen Fakten etwas zu verdauen und wir hören etwas handgezupfte Musik aus der kleinen Apostelkirche ...

    Und diese Zither-Variationen von Hans Berger erinnern, dass durch Klausen auch ein 11-jähriger Mozart mit seiner Schwester als unerkannte Wunderkinder auf Italientournee, oder ein 19-jähriger Georg Friedrich Händel kutschiert sind.
    Wechseln wir, nahe der Apostelkirche, in den Gasthof "Zum Agnus Dei", zum Lamm Gottes, in das Jahr 1492. Eine hochkarätige venezianische Gesandtschaft auf dem Weg über die Alpen zum Habsburgischen Kaisers Friedrich III. macht in Klausen Station. Wir lesen in den Reisenotizen …

    "Wir übernachteten und speisten hier zu Abend. Es kamen zwei Lehrer mit fünf Knaben. Sie sangen verschiedene Lieder. Es war ein Gesang, der nicht angenehmer hätte sein können. Besonders ein kleiner Knabe sang mit einer Stimme, so fein und mit hohem Klang wie eine Clarino-Trompete und in bewundernswürdiger Harmonie. Die erlauchten Gesandten gaben jedem Knaben einen Sechser. Vor der Weiterfahrt am nächsten Tage wohnten die Herren aus Venedig noch der Fronleichnamsfeier bei. Überall waren die Wege geschmückt. Von den Balkonen hingen Teppiche und auch Frauengewänder."

    Da darf man nur hoffen, dass man die engelgleiche Stimme des Knaben zur Ehre Gottes nicht mittels eines harmlosen Eingriffs vor dem Stimmbruch gerettet hat. Und wenige Jahre nach der venezianischen Gesandtschaft kommt einer aus Nürnberg hier vorbei. Nebenbei, die Kaufmannschaft Nürnberg unterhält damals schon von April bis November eine Art Dauerverbindung mit Venedig. Die geht über Augsburg, der Stadt der Fugger, mit Expressreiterstaffeln und Handelswagen, quasi im Intercitytakt, auch durch Klausen. Als Albrecht Dürer, um die 24 Jahre jung, erstmals im Herbst 1494 oder '96 in Klausen ankommt, hat der Eisack nach einem Unwetter vieles um- und weggerissen.

    "Und nachdem er zwei Wochen ungefähr hier in Klausen aufgehalten wurde, südlich von Klausen war die Straße weggerissen. Es gab kein Weiterkommen. Und er hat dann ein Aquarell geschaffen, das dann später zu einem Kupferstich gemacht wurde. Weil das Aquarell verloren ist, gab es nur mehr diesen Druck."
    Den haben wir dabei. Vor allem zeigt er den jäh ansteigenden Säbener Berg, mit der Burg und dem bekannten Kloster Säben oben drauf. Wie Dürer die Kirchen, die Dächer von Klausen, selbst die Obstwiesen, sogar die Holzstöße im Aquarell, also mit feinsten Pinselchen und Farben aus seinem kleinen Kästchen aquarelliert, einfängt? Da schüttelt der Handyfotokünstler von heute sein Haupt. Warum Dürer Klausen zeichnet, kann man nur spekulieren. Er hat den journalistischen Blick, um Erstaunenswertes mitzunehmen. Man kann annehmen, dass Frau Agnes Dürer später, nach der Rückkehr ihres Mannes, das Aquarell auf der Nürnberger Messe verkauft hat, wie so viele andere kleine Ansichten, Burgen, Landschaften oder Studien mit Hasen und betenden Händen.

    Dieses Klausenbild von Dürer wäre vergessen, wenn der Nürnberger nicht die Kupferstichversion gegen 1503 in ein großformatiges Bild einbaut. Wir sehen auf dem Stich eine Allegorie, eine Fortuna, eine athletische unbekleidete Matrone schwebt gewissermaßen über den Wolken. Sie überbringt einen Pokal, vielleicht einen Fußballpokal? Sie trägt Flügel. Unter ihren Füßen ist also der Ort Klausen gezeichnet, so als Idylle von bewohnter Welt. Klausen mag auf dem Bild grob geschätzt vielleicht eine Ansiedlung für damals 300 Seelen sein. Wer ist diese Frauenfigur?

    "Ein Engel, eine Göttin? 'Nemesis Zwei oder das große Glück', so der Titel dieses Kupferstichs."
    Kann man es philosophisch übersetzen, was das große Glück damals war?

    "Ich gehe davon aus, die Erde, die Welt, die von dieser Göttin beglückt wird."

    Aber das wäre ja im Gegensatz zu Ritter-Tod-und Teufel, Apokalypse und das …

    "Das wäre ein sehr positives Bild. Das ist richtig."

    Das Beste ist, diese Bilder im Kopf haben oder in Kopie dabei. Dann hier in eine Lottostelle reingehen, einen Lottoschein abgeben. Und dann mal abwarten, ob eine Glücksgöttin …

    "Ob dann die Fortuna zuschlägt?"

    Und diese Glücksgöttin oder Lottofee schlägt zu. Bei Dürers zweiter Venedigreise, 1505 bis 1507, kommt das große Glück. Er erhält von der deutschen Kaufmannschaft in Venedig den Auftrag zu einem großen Altarbild. "Das Rosenkranzfest". Hab es in leuchtender Farbkopie dabei. Damit wagt sich Dürer in die unmittelbare Konkurrenz zu den großen Malern der Kunstmetropole Venedig und gewinnt die fast neidlose Anerkennung. "Sie hätten schönere Farben nie gesehen", wird dem Nürnberger gesagt. Das will in Venedig schon etwas heißen. Es ist diese Farbenpracht, es ist sein abendländischer Durchbruch.
    Und rund 100 Jahre später kommt Dürer 1606 indirekt noch ein Mal nach Klausen zurück. 100 Jahre später. Dieses "Rosenkranzfest", Dürers bestes Bild aus seinen venezianischen Tagen wird durch Klausen getragen. Es wird zu Fuß von Venedig über Klausen, über den Brenner, bis nach Prag von Hand getragen. 987 Kilometer weit geschleppt.

    Misst 1,60 Meter mal 2,00 Meter, ist ein politisches Bild. Dürer malt den Papst und den Kaiser Maximilian I., beide auf gleicher Augenhöhe vor der Gottesmutter und dem Jesuskind kniend. Der eine Weltenherrscher sieht sich als Gottes Vertreter auf Erden, der andere begreift sich als von Gottes Gnaden bestimmt. Beide bekommen auf dem Bild von der Himmelskönigin und dem nackten Jesusbaby jeder einen Kranz aus Rosenblüten aufs Haupt gesetzt.
    Wieso wird das Bild über knapp eintausend Kilometer von Hand nach Prag getragen?
    Wir lesen:

    "In Prag residiert der deutsch-römische Kaiser Rudolph II.. Um die zweieinhalb Zentner schwer, auch seelisch schwer, ... schwer krank. Zerbrochen am ungelösten Reformationsstreit und auch an seiner krankhaften Ess- und Verschwendungssucht. Er rafft in seiner seelischen Vereinsamung Kunst und Kitsch und Wissenschaftliches und eben teure Bilder zusammen. So zeigen ihm seine Berater auch eine kleine Kopie von Dürers Farbensymphonie in Venedig."

    Die Kostenfrage ist unerheblich, er ist sowieso pleite. So wird den deutschen Kaufleuten in Venedig der Wunsch nach dem Altarbild übermittelt. Der Kauf wird von den Fuggern vorfinanziert. Und die Kaufmannschaft erhält zusätzlich und als Ersatz noch eine meisterliche Kopie. Wir lesen weiter:

    "Ein Transport des wertvollen Bildes auf einem Leiterwagen über das Kopfstein-pflaster würde wegen der dauernden Erschütterung der aufgemalten Farbpartikel das Werk wahrscheinlich ruinieren. So entschließen sich die Planer das Altarbild, regensicher verpackt, mit einer sich dauernd abwechselnden Trägerstafette ... wie man es bei Prozessionen mit Figuren kennt ... so trägt man das Bild über die gesamte Strecke nach Prag. Natürlich wird der wertvolle Kunstschatz auch von einer Militäreskorte gesichert."

    Ein Rosenkranzfest-Bild über Kulturtransfer hier durch Klausen an der Brennerstrasse. Ob Sonnenschein oder kalt und nass, geht es durch die Lange Gass.

    Und nun möchte ich Ihnen auch die Reisenotizen aus und über das ehemalige Kapuzinerkloster vorstellen, heute das Stadtmuseum. Auch die aufregende Hintergrundgeschichte des sogenannten Kapuzinerschatzes. Und 200 Meter höher, über uns das von Dürer gezeichnete Kloster Säben. Demnächst auf einem neuen Sonntagsspaziergang.