Georg Büchner ist ein Heiliger des Deutschunterrichts – das literarische Idol im Kampf gegen die finsteren Mächte der Restauration seiner und unserer Zeiten, der revolutionäre Klassiker für "ein einig Volk von radikalen Lesern", wie vor Jahrzehnten schon Hans Magnus Enzensberger spottete. Solche Verfestigungen eines Autorenbilds eignen sich gut als Frontlinie. Sie fordern zum Widerspruch heraus, wenn man sich traut. Hermann Kurzke traut sich. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt als Thomas-Mann-Forscher, aber auch namhaft als Spezialist für evangelische Gesangbücher, legt er im Jahr von Büchners 200. Geburtstag eine umfangreiche Biographie vor, die in aller Bescheidenheit unser Bild des Autors komplett umkrempeln möchte.
Die "Revolutionssentimentalität" der Büchner-Orthodoxie ist Kurzke offenbar gehörig auf die Nerven gegangen.
Es ist immer wieder erstaunlich, zu sehen, wie Vorurteile den Blick ausrichten und riesige Wirklichkeitsbereiche wegzublenden vermögen. Für einen Frühsozialismusdiskurs im Werk Büchners gibt es nur wenige belastbare Belege, aber ganze Editionen, Biographien und Monographien leben davon, alles zu diesem "Phantasma" in Beziehung zu setzen. Auf der anderen Seite ist das Werk Büchners flächendeckend übersät und durchsetzt mit christlichen Anspielungen, Zitaten, Debatten und Textfragmenten. Seinem Urgestein nach ist das Büchner-Gebirge christlich. Man kann dennoch in ihm herumwandern, ohne das zu bemerken, so wie man einem Waldweg nicht anmerkt, ob er in den Vogesen oder im Schwarzwald verläuft.
Wenn der 20-jährige Georg Büchner in Hessen-Darmstadt an einer politischen Verschwörung teilnimmt, dann sieht Kurzke darin statt der frühsozialistischen Impulse eher das genuin christliche Mitleid mit den Armen. Unter Büchners Freunden und Mitverschwörern gab es denn auch viele Theologiestudenten, Pfarrerssöhne und Pfarramtskandidaten. Und die Analyse der inkriminierten Flugschrift "Der Hessische Landbote" macht schnell plausibel, dass dieser Text seine Wucht vor allem durch die archaische biblische Bildsprache bekommt.
Der Ethik kommt die Ästhetik in die Quere: Der "Hessische Landbote" ist in seinem Effektbewusstsein ein Stück Literatur, spürbar ist Büchners Lust an der Brandrede. Es ist Prosa, die sich an revolutionärer Rhetorik berauscht. Ein solches donnerndes Virtuosenstück konnte Studenten und junge Handwerker beeindrucken; im Leben stehende Bürger und Bauern wie auch erfahrene Oppositionelle mussten misstrauisch werden. Krieg gegen die Reichen in den Palästen? Das überzeugte selbst die Mitverschwörer nicht wirklich, denn unter ihnen waren liberale Theologen, Ärzte, Apotheker, Juristen. Auch Büchner ahnte wohl schaudernd, dass er nach dem Examen zu dieser bürgerlichen Schicht gehören würde. "Der Wohlhabende, der sich für die Armen einsetzt, ist nicht Materialist, sondern ein bürgerlicher Idealist", definiert Kurzke.
Die dilettantische Rebellion wurde durch Spitzel verraten. Anfang August 1834 wurde Karl Minnigerode mit 139 Exemplaren des "Hessischen Landboten" aufgegriffen. Da er als besonders gefährliche und strafwürdige Flugschrift galt, hätte der steckbrieflich gesuchte Büchner mit einer Verurteilung zu acht Jahren Gefängnis rechnen müssen. Durch die Flucht nach Straßburg entzog er sich beizeiten dem Zugriff.
Auf die Radikalität folgte die Schwermut. Vom politischen Abenteuer und der Zeit der Verfolgungen blieb Büchner ein Gefühlsgemisch aus Angst und Schuld. Insbesondere das Schicksal des Mitstreiters Friedrich Ludwig Weidig wühlte in dem jungen Schriftsteller. Weidig wurde im Gefängnis misshandelt; er verzweifelte und brachte sich vier Tage nach Büchners Tod in seiner Zelle auf schauerliche Weise um.
Um acht Uhr hätte "der Verlebte" durch einfaches Verbinden der Wunden wahrscheinlich noch gerettet werden können. Die Halswunde war zu diesem Zeitpunkt noch harmlos. Sie muss zwischen acht und zehn Uhr in einer erbitterten "Metzelei" erst bis zum lebensgefährlichen Maß erweitert worden sein. (…) Auch blieb fraglich, woher der von großem Blutverlust Geschwächte die Kraft genommen haben sollte, sich mit der Scherbe einer Wasserflasche den halben Hals durchzuschneiden. Der Schnitt durch den Kehlkopf war glatt (…), während eine Scherbe einen gezackten Wundrand hätte hinterlassen müssen. Auch sei es fast unmöglich, stellten die Züricher Anatomen fest, sich selbst ohne professionelle Werkzeuge den Kehlkopf, welcher auszuweichen pflegt, zu durchschneiden. Es verwundert deshalb wenig, dass in der Presse bald Justizmordvorwürfe laut wurden.
Natürlich ist die politische Erfahrung für Büchner stark prägend – aber eher als rasante Desillusionierung. Hoffnungen auf radikale Umwälzungen zerschlugen sich. Geht es den Menschen halbwegs gut, dann bekommt die Revolution die Apoplexie, also den Schlaganfall, hat Büchner einmal gesagt, und so schlecht ging es den Bauern im Großherzogtum Hessen-Darmstadt nicht, es war, wie Kurzke beschreibt, ein "aufgeräumtes Staatswesen" mit gewissem Wohlstand. "Dantons Tod" ist die literarische Verarbeitung des politischen Schocks. Büchners erstes Drama geriet erstaunlich düster und pessimistisch. Das Stück ist ein Kompendium der Melancholie und des Fatalismus, in dem der Mensch als triebgesteuertes, in ein absurdes Dasein geworfenes Wesen imaginiert wird. Büchner hatte bereits Abstand zu seiner agitatorischen Phase gewonnen, wie überhaupt alle seine Hauptwerke in die "Phase der Abwendung von der Politik" gehören, so Kurzke.
Warum wählte Büchner den Danton-Stoff? Um sein kleines Schicksal in einem großen zu spiegeln, um seine Enttäuschung von der Revolution als Ausprägung einer weltgeschichtlichen Enttäuschung zu erkennen, um mit seiner Schuld fertig zu werden, indem er einen schuldig Gewordenen mit seiner Schuld ringen ließ, um seine Angst zu besiegen, indem er sich einen Mutigen vorstellte, der gelassen in den Tod ging … Danton verhalf ihm zu einem tragischen Größenselbst.
Leben und Werk verflechten sich in Kurzkes Buch so dicht wie selten in einer Biographie. Was auch daran liegt, dass die biographische Überlieferung so spärlich ist. Sie gleiche einem "Gemälde nach einem Säureattentat". Von 300 Büchner-Briefen sind nur vierzehn im Original erhalten, Dokumente im Familienbesitz verbrannten 1944 bei einem Luftangriff auf Darmstadt, zuvor hatte schon die Verlobte zensierend eingegriffen. Vieles muss der Biograph deshalb aus Büchners Texten subtil erschließen, erahnen, rückerfinden. Über weite Strecken ist dies eine Biographie im fundierten Konjunktiv: So könnte es sehr wahrscheinlich gewesen sein. Auf viele Fragen lässt sich kaum eine definitive Antwort finden. Da gibt es im "Woyzeck" das Großmuttermärchen, das als Beschreibung einer geradezu universellen kindlichen Verlassenheit nicht zu überbieten ist:
"Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter. Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat greint Tag und Nacht. Und weil auf der Erd niemand mehr war, wollt’s in den Himmel gehen, und der Mond guckt es so freundlich an, und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verreckt Sonnenblum, und wie’s zu den Sternen kam warens kleine goldene Mück (…), und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und hat sich hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz allein."
Die Melancholie, die sich in diesem tiefschwarzen Märchen ausdrückt – woher kam sie eigentlich? Hermann Kurzke betreibt eine moderate Form von Psychoanalyse, gewinnt den Werken biographische Schlaglichter ab.
Als junger Erwachsener mag Büchner noch eine Weile im Kielwasser des pubertären Bemühens gefahren sein, sich von allem Kindtümlichen zu distanzieren. Aber das ist keine zureichende Erklärung für die beschriebene Negativität. Es muss schon auch eine Erfahrung dahinter gesteckt haben. Das Kind Georg hat sich durch Erziehung gemordet gefühlt; etwas Derartiges war in seinem Unterbewusstsein gespeichert, von dem das dichterische Werk vermittelt Zeugnis ablegt.
Büchners kurzes Leben hatte enorme Spannweite. In den bloß drei Schaffensjahren hat er zugleich ein Medizinstudium mit Promotion und Habilitation beendet – da hing die Latte damals allerdings niedriger als heute. Er hat auch eigene anatomisch-neurologische Forschungsarbeit geleistet. Kurzke stellt sie im Zusammenhang der damaligen medizinischen Diskurse dar. Büchner hat sich in einem später abgestorbenen Forschungsast der Schädel-Nerventheorie bewegt.
Der entkitschende Blick des Mediziners macht sich geltend in Büchners unverblümter Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität. Seine Stücke sind erstaunlich tabulos, gespickt mit drastischen Bonmots und Obszönitäten: keine vulgären, sondern "geschliffene Derbheiten", Pointen über die Triebgebundenheit allen Lebens. Viel ist von Geschlechtskrankheiten, Syphilis, Quecksilber und Hurerei die Rede – hatte der eher zart wirkende junge Mann auf diesem Gebiet Erfahrungen gesammelt? Sein Vokabular war wohl erfahrener als er selbst. Im Übrigen wisse man nur wenig über das Liebesleben Büchners, es sei für den Biographen so, als solle er aus einem "prähistorischen Kinnbacken eine ganze Kultur rekonstruieren", schreibt Kurzke. In seinen Werken gibt es die große, unbedingte, romantische Passion, gibt es die leidenschaftliche Verstrickung bis in den Tod wie im "Woyzeck". Der lockeren Liebe kommt bei aller spielerischen Derbheit keine wichtige Rolle zu. Ansonsten viel kluges, tastendes Vielleicht auf Kurzkes Seiten über Büchner und die Sexualität.
Kein Zweifel hingegen, dass im Elternhaus Georg Büchners ein offenes und anregendes intellektuelles Klima herrschte. Der Vater war ein fordernder Mann, aber auch ein debattenfreudiger, der Aufklärung verpflichteter Mediziner.
Auch die Berufung als Dichter hat Georg seinem Vater verschwiegen, aus Furcht, dass dieser eine solche Beschäftigung als Flausen betrachten würde. Vielleicht tat Georg ihm Unrecht. Sein Vater hatte auch liberale Züge. Immerhin war er ein Abonnent von "Unsere Zeit", jener historischen Zeitschrift, in der sich Büchner über die Französische Revolution informierte. Außerdem war Ernst Büchner in den 1820er Jahren Philhellene, Sympathisant der griechischen Befreiungsbewegung. Er war einerseits liberal, wollte andererseits aber seine Kinder hart machen für ein Leben, in dem Gefühle nichts zählten. Deshalb ging er mit dem zwölfjährigen Ludwig zur öffentlichen Hinrichtung eines Mörders. Den siebzehnjährigen Georg nahm er in das anatomische Theater mit, das er sich am Darmstädter Hospital hatte einrichten lassen, um Sektionen vor Publikum durchführen zu können. Es gab Beschwerden, weil Gymnasiasten beim Zerschneiden von Frauenleichen zugegen waren. Ans Blut sollten sich die Söhne frühzeitig gewöhnen.
Am Ende war der ehrgeizige Georg auf dem besten Weg, seinen Vater zu übertrumpfen. Er wurde nicht nur Chirurg und Stadtphysikus, er wurde Doktor der Philosophie und Privatdozent für Vergleichende Anatomie. Der Vater, verärgert über das politische Abenteuer seines Sohnes, war versöhnt.
Diese Biographie ist ein nicht nur literaturerfahrenes, sondern auch lebenserfahrenes Buch. Als emeritierter Germanist gönnt sich Hermann Kurzke den Luxus, die Büchner-Forschung außen vor zu lassen und das Gedrängel um die wenigen Büchner-Texte weiträumig zu umfahren, um sich diesen selbst zu widmen. Er scheut auch nicht davor zurück, gelegentlich selbst Literatur zu produzieren, etwa einen inneren Monolog Büchners beim Sezieren oder eine kleine Büchner-Preisrede, wie sie Büchner gehalten haben könnte.
Kurzke möchte möglichst nah an die "Urzündung der Einfälle in Büchners Psyche und Gehirn herankommen", möchte das Kräftesystem einer Seele nachvollziehen, die geniale Werke produziert. Aber was ist Genie? Es ist da oder nicht, man kann es kaum erklären, auch bei Kurzke wirkt das manchmal angestrengt. Man braucht ja auch keine komplizierte Psychoanalyse, um zu ergründen, warum ein junger Mann ein grandioser Musiker oder Fußballer ist – Talent und Übung sind entscheidend.
Kurzke setzt den Werken Quellen und zeitgenössische Kontexte zu, rekonstruiert die Schreibprozesse. Aber er vermeidet den akademischen Jargon, schreibt klar, anschaulich und bildstark, von ein paar missglückten Formulierungen abgesehen. Ihm gelingen großartige Passagen, etwa die folgende über "Woyzeck", dieses Weltabschiedswerk eines 23-Jährigen:
Woyzeck, dieser gutmütige apokalyptische Erbsenesser, springt Menschen verschiedenster Art an, Künstler und Bürger, Intellektuelle und Arbeiter, Konservative und Sozialisten. Er ersticht eine schöne Frau, die Motive bleiben ungenügend, aber das ist kein Mangel, sondern das ist eigentümlich stark. Das ganze Leben mit seinem Elend war sein Motiv, alle waren mitschuldig, der Tambourmajor, der Doktor, der Hauptmann, die Handwerksburschen, Marie, alles war mitschuldig, der Markt, das Militär, die Kirche, die Gesellschaft. (…) Eine Grundmelancholie, die kein wahres Leben kennt, liegt über Woyzeck. Bilder und Blitze, Farben und Stimmungen sind wichtiger als die Mordgeschichte. Das Groteske mischt sich mit dem brunnentief Wehmütigen. Das Animalische ertränkt das Intellektuelle. Die Menschen dampfen. (…) Das hohe Personal ist so lächerlich wie das niedere. Dieser Schmerz in allem, mit den Volksliedfetzen dazwischen, ein Spiel von Liebe und Tod, aus dem es kein Entrinnen gibt, irrational, düster.
Bei aller Genauigkeit nimmt sich Kurzke die Freiheit, seine eigene Weltsicht und Weltweisheit anhand Büchners zu exemplifizieren, wozu das trotzige Christentum und der kritische Ernüchterungsprozess nach der Revolte von 1968 gehören. Viele Thomas-Mann-Zitate spicken diese Biographie. Bei der Darstellung von Büchners Typhus-Tod wird die berühmte medizinische Passage aus den "Buddenbrooks" zitiert. Pathos ist schwierig und riskant, aber zitatweise geht es leichter über die Lippen. Ein Meisterstück ist der Schlussteil über das qualvolle Sterben Büchners: ein vielstimmiges Arrangement aus medizinischen, literarischen sowie diversen Brief- und Tagebuchtexten und eine Thanatologie aus Büchner-Zitaten. Spannende Abschnitte widmen sich schließlich der Wiederentdeckung Büchners. Ganz vergessen war er im 19. Jahrhundert nicht.
Das Wecksignal kam von der Züricher Friedhofsverwaltung. Als der Friedhof am Zeltweg, auf dem Büchner bestattet war, aufgehoben werden sollte und die Einebnung des Grabes drohte, nahm sich die Studentenverbindung Germania der Sache an und beantragte, den Denkstein auf den sogenannten Germaniahügel auf dem Zürichberg zu versetzen, was genehmigt wurde und am 4. Juli 1875 geschah. Die noch vorhandenen Leichenteile wurden darunter gebettet.
Die patriotischen Studenten meinten, einen "glühenden Burschenschaftler" zu ehren. Das Presseecho der Züricher Umbettungsfeierlichkeit war groß, und weil die Restexemplare der "Nachgelassenen Schriften" von 1850 nun rasch vergriffen waren, entstand der Wunsch nach einer Neuausgabe, zu deren Editor der Bruder Ludwig Büchner Karl Emil Franzos bestimmte, einen Büchner-Begeisterten der ersten Stunde, dem nun die Handschriften überantwortet wurden. Franzos entzifferte erstmals den "Woyzeck". Bis zur Uraufführung vergingen aber noch Jahrzehnte. Sie wurde 1913, im Jahr des 100. Geburtstags, angestoßen von einem Autor, der sich keineswegs als Sozialdramatiker, sondern als subtiler Seelenlandschaftsmaler einen Namen gemacht hatte: Hugo von Hofmannsthal. Zuerst wurde "Woyzeck", wurde Büchner von der ästhetischen Moderne in Anspruch genommen und gefeiert – dazu gehört auch Alban Bergs expressionistisch-atonale Oper "Wozzeck". Erst später setzte die politische Vereinnahmung ein, von links, aber auch von rechts, wo sich ein "deutscher Sozialismus" auf Büchners kernige Volkstümlichkeit berufen zu können meinte. Später kamen kafkaesk-existenzialistische Lesarten hinzu und, am mächtigsten von allen Aneignungsversuchen, das staatsoffizielle Büchner-Standbild der DDR-Exegese, das den Revolutions-Büchner von 1968 präfigurierte. Ein Büchner-Bild, das keine Mitte, keine Höhe und Tiefe, sondern, wie Kurzke schreibt, nur einen linken Rand hatte, vom Romantiker, Metaphysiker, Melancholiker und Christen Büchner möglichst wenig wissen wollte. Am Ende bleibt auch für den Biographen das Staunen:
Woher erwuchs einem so jungen Mann diese fulminante Urteilskraft? Wie konnte er mit Sätzen, die so offenkundig in größter Eile hingeworfen wurden, so erschütternd ins Schwarze treffen?
Sätze wie der Woyzecks über die klaustrophobische Aussichtslosigkeit der menschlichen Existenz noch über den Tod hinaus: "Wir arme Leut… Ich glaub, wenn wir in‘ Himmel kämen, müssten wir donnern helfen." Oder wie der ungeheure Satz, der die atheistische Versuchung von Lenz ins Bild setzt:
"Es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen."
Büchner war alles andere als ein orthodoxer Kirchenchrist, aber Kurzke erkennt als entscheidende literarische Triebkraft die starke metaphysische Unruhe, wie bei der zerrissenen Hauptfigur der Jahrhundert-Novelle "Lenz". Auf jeden Fall wird deutlich, dass in den Werken Büchners, der wechselnd als Frühsozialist, Frühnaturalist oder Frühexpressionist in Anspruch genommen wurde, auch einige sehr alte und späte Dinge wirksam sind. Wer diese Biographie liest, versteht Büchner tiefer und besser. Ihr gelingt die Wiederbelebung eines im politischen Verständnis erstarrten Klassikers.
Literaturhinweis: Hermann Kurzke: GEORG BÜCHNER – Geschichte eines Genies. C.H. Beck 2013, 592 S., 29,95 Euro
Die "Revolutionssentimentalität" der Büchner-Orthodoxie ist Kurzke offenbar gehörig auf die Nerven gegangen.
Es ist immer wieder erstaunlich, zu sehen, wie Vorurteile den Blick ausrichten und riesige Wirklichkeitsbereiche wegzublenden vermögen. Für einen Frühsozialismusdiskurs im Werk Büchners gibt es nur wenige belastbare Belege, aber ganze Editionen, Biographien und Monographien leben davon, alles zu diesem "Phantasma" in Beziehung zu setzen. Auf der anderen Seite ist das Werk Büchners flächendeckend übersät und durchsetzt mit christlichen Anspielungen, Zitaten, Debatten und Textfragmenten. Seinem Urgestein nach ist das Büchner-Gebirge christlich. Man kann dennoch in ihm herumwandern, ohne das zu bemerken, so wie man einem Waldweg nicht anmerkt, ob er in den Vogesen oder im Schwarzwald verläuft.
Wenn der 20-jährige Georg Büchner in Hessen-Darmstadt an einer politischen Verschwörung teilnimmt, dann sieht Kurzke darin statt der frühsozialistischen Impulse eher das genuin christliche Mitleid mit den Armen. Unter Büchners Freunden und Mitverschwörern gab es denn auch viele Theologiestudenten, Pfarrerssöhne und Pfarramtskandidaten. Und die Analyse der inkriminierten Flugschrift "Der Hessische Landbote" macht schnell plausibel, dass dieser Text seine Wucht vor allem durch die archaische biblische Bildsprache bekommt.
Der Ethik kommt die Ästhetik in die Quere: Der "Hessische Landbote" ist in seinem Effektbewusstsein ein Stück Literatur, spürbar ist Büchners Lust an der Brandrede. Es ist Prosa, die sich an revolutionärer Rhetorik berauscht. Ein solches donnerndes Virtuosenstück konnte Studenten und junge Handwerker beeindrucken; im Leben stehende Bürger und Bauern wie auch erfahrene Oppositionelle mussten misstrauisch werden. Krieg gegen die Reichen in den Palästen? Das überzeugte selbst die Mitverschwörer nicht wirklich, denn unter ihnen waren liberale Theologen, Ärzte, Apotheker, Juristen. Auch Büchner ahnte wohl schaudernd, dass er nach dem Examen zu dieser bürgerlichen Schicht gehören würde. "Der Wohlhabende, der sich für die Armen einsetzt, ist nicht Materialist, sondern ein bürgerlicher Idealist", definiert Kurzke.
Die dilettantische Rebellion wurde durch Spitzel verraten. Anfang August 1834 wurde Karl Minnigerode mit 139 Exemplaren des "Hessischen Landboten" aufgegriffen. Da er als besonders gefährliche und strafwürdige Flugschrift galt, hätte der steckbrieflich gesuchte Büchner mit einer Verurteilung zu acht Jahren Gefängnis rechnen müssen. Durch die Flucht nach Straßburg entzog er sich beizeiten dem Zugriff.
Auf die Radikalität folgte die Schwermut. Vom politischen Abenteuer und der Zeit der Verfolgungen blieb Büchner ein Gefühlsgemisch aus Angst und Schuld. Insbesondere das Schicksal des Mitstreiters Friedrich Ludwig Weidig wühlte in dem jungen Schriftsteller. Weidig wurde im Gefängnis misshandelt; er verzweifelte und brachte sich vier Tage nach Büchners Tod in seiner Zelle auf schauerliche Weise um.
Um acht Uhr hätte "der Verlebte" durch einfaches Verbinden der Wunden wahrscheinlich noch gerettet werden können. Die Halswunde war zu diesem Zeitpunkt noch harmlos. Sie muss zwischen acht und zehn Uhr in einer erbitterten "Metzelei" erst bis zum lebensgefährlichen Maß erweitert worden sein. (…) Auch blieb fraglich, woher der von großem Blutverlust Geschwächte die Kraft genommen haben sollte, sich mit der Scherbe einer Wasserflasche den halben Hals durchzuschneiden. Der Schnitt durch den Kehlkopf war glatt (…), während eine Scherbe einen gezackten Wundrand hätte hinterlassen müssen. Auch sei es fast unmöglich, stellten die Züricher Anatomen fest, sich selbst ohne professionelle Werkzeuge den Kehlkopf, welcher auszuweichen pflegt, zu durchschneiden. Es verwundert deshalb wenig, dass in der Presse bald Justizmordvorwürfe laut wurden.
Natürlich ist die politische Erfahrung für Büchner stark prägend – aber eher als rasante Desillusionierung. Hoffnungen auf radikale Umwälzungen zerschlugen sich. Geht es den Menschen halbwegs gut, dann bekommt die Revolution die Apoplexie, also den Schlaganfall, hat Büchner einmal gesagt, und so schlecht ging es den Bauern im Großherzogtum Hessen-Darmstadt nicht, es war, wie Kurzke beschreibt, ein "aufgeräumtes Staatswesen" mit gewissem Wohlstand. "Dantons Tod" ist die literarische Verarbeitung des politischen Schocks. Büchners erstes Drama geriet erstaunlich düster und pessimistisch. Das Stück ist ein Kompendium der Melancholie und des Fatalismus, in dem der Mensch als triebgesteuertes, in ein absurdes Dasein geworfenes Wesen imaginiert wird. Büchner hatte bereits Abstand zu seiner agitatorischen Phase gewonnen, wie überhaupt alle seine Hauptwerke in die "Phase der Abwendung von der Politik" gehören, so Kurzke.
Warum wählte Büchner den Danton-Stoff? Um sein kleines Schicksal in einem großen zu spiegeln, um seine Enttäuschung von der Revolution als Ausprägung einer weltgeschichtlichen Enttäuschung zu erkennen, um mit seiner Schuld fertig zu werden, indem er einen schuldig Gewordenen mit seiner Schuld ringen ließ, um seine Angst zu besiegen, indem er sich einen Mutigen vorstellte, der gelassen in den Tod ging … Danton verhalf ihm zu einem tragischen Größenselbst.
Leben und Werk verflechten sich in Kurzkes Buch so dicht wie selten in einer Biographie. Was auch daran liegt, dass die biographische Überlieferung so spärlich ist. Sie gleiche einem "Gemälde nach einem Säureattentat". Von 300 Büchner-Briefen sind nur vierzehn im Original erhalten, Dokumente im Familienbesitz verbrannten 1944 bei einem Luftangriff auf Darmstadt, zuvor hatte schon die Verlobte zensierend eingegriffen. Vieles muss der Biograph deshalb aus Büchners Texten subtil erschließen, erahnen, rückerfinden. Über weite Strecken ist dies eine Biographie im fundierten Konjunktiv: So könnte es sehr wahrscheinlich gewesen sein. Auf viele Fragen lässt sich kaum eine definitive Antwort finden. Da gibt es im "Woyzeck" das Großmuttermärchen, das als Beschreibung einer geradezu universellen kindlichen Verlassenheit nicht zu überbieten ist:
"Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter. Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat greint Tag und Nacht. Und weil auf der Erd niemand mehr war, wollt’s in den Himmel gehen, und der Mond guckt es so freundlich an, und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verreckt Sonnenblum, und wie’s zu den Sternen kam warens kleine goldene Mück (…), und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und hat sich hingesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz allein."
Die Melancholie, die sich in diesem tiefschwarzen Märchen ausdrückt – woher kam sie eigentlich? Hermann Kurzke betreibt eine moderate Form von Psychoanalyse, gewinnt den Werken biographische Schlaglichter ab.
Als junger Erwachsener mag Büchner noch eine Weile im Kielwasser des pubertären Bemühens gefahren sein, sich von allem Kindtümlichen zu distanzieren. Aber das ist keine zureichende Erklärung für die beschriebene Negativität. Es muss schon auch eine Erfahrung dahinter gesteckt haben. Das Kind Georg hat sich durch Erziehung gemordet gefühlt; etwas Derartiges war in seinem Unterbewusstsein gespeichert, von dem das dichterische Werk vermittelt Zeugnis ablegt.
Büchners kurzes Leben hatte enorme Spannweite. In den bloß drei Schaffensjahren hat er zugleich ein Medizinstudium mit Promotion und Habilitation beendet – da hing die Latte damals allerdings niedriger als heute. Er hat auch eigene anatomisch-neurologische Forschungsarbeit geleistet. Kurzke stellt sie im Zusammenhang der damaligen medizinischen Diskurse dar. Büchner hat sich in einem später abgestorbenen Forschungsast der Schädel-Nerventheorie bewegt.
Der entkitschende Blick des Mediziners macht sich geltend in Büchners unverblümter Darstellung von Körperlichkeit und Sexualität. Seine Stücke sind erstaunlich tabulos, gespickt mit drastischen Bonmots und Obszönitäten: keine vulgären, sondern "geschliffene Derbheiten", Pointen über die Triebgebundenheit allen Lebens. Viel ist von Geschlechtskrankheiten, Syphilis, Quecksilber und Hurerei die Rede – hatte der eher zart wirkende junge Mann auf diesem Gebiet Erfahrungen gesammelt? Sein Vokabular war wohl erfahrener als er selbst. Im Übrigen wisse man nur wenig über das Liebesleben Büchners, es sei für den Biographen so, als solle er aus einem "prähistorischen Kinnbacken eine ganze Kultur rekonstruieren", schreibt Kurzke. In seinen Werken gibt es die große, unbedingte, romantische Passion, gibt es die leidenschaftliche Verstrickung bis in den Tod wie im "Woyzeck". Der lockeren Liebe kommt bei aller spielerischen Derbheit keine wichtige Rolle zu. Ansonsten viel kluges, tastendes Vielleicht auf Kurzkes Seiten über Büchner und die Sexualität.
Kein Zweifel hingegen, dass im Elternhaus Georg Büchners ein offenes und anregendes intellektuelles Klima herrschte. Der Vater war ein fordernder Mann, aber auch ein debattenfreudiger, der Aufklärung verpflichteter Mediziner.
Auch die Berufung als Dichter hat Georg seinem Vater verschwiegen, aus Furcht, dass dieser eine solche Beschäftigung als Flausen betrachten würde. Vielleicht tat Georg ihm Unrecht. Sein Vater hatte auch liberale Züge. Immerhin war er ein Abonnent von "Unsere Zeit", jener historischen Zeitschrift, in der sich Büchner über die Französische Revolution informierte. Außerdem war Ernst Büchner in den 1820er Jahren Philhellene, Sympathisant der griechischen Befreiungsbewegung. Er war einerseits liberal, wollte andererseits aber seine Kinder hart machen für ein Leben, in dem Gefühle nichts zählten. Deshalb ging er mit dem zwölfjährigen Ludwig zur öffentlichen Hinrichtung eines Mörders. Den siebzehnjährigen Georg nahm er in das anatomische Theater mit, das er sich am Darmstädter Hospital hatte einrichten lassen, um Sektionen vor Publikum durchführen zu können. Es gab Beschwerden, weil Gymnasiasten beim Zerschneiden von Frauenleichen zugegen waren. Ans Blut sollten sich die Söhne frühzeitig gewöhnen.
Am Ende war der ehrgeizige Georg auf dem besten Weg, seinen Vater zu übertrumpfen. Er wurde nicht nur Chirurg und Stadtphysikus, er wurde Doktor der Philosophie und Privatdozent für Vergleichende Anatomie. Der Vater, verärgert über das politische Abenteuer seines Sohnes, war versöhnt.
Diese Biographie ist ein nicht nur literaturerfahrenes, sondern auch lebenserfahrenes Buch. Als emeritierter Germanist gönnt sich Hermann Kurzke den Luxus, die Büchner-Forschung außen vor zu lassen und das Gedrängel um die wenigen Büchner-Texte weiträumig zu umfahren, um sich diesen selbst zu widmen. Er scheut auch nicht davor zurück, gelegentlich selbst Literatur zu produzieren, etwa einen inneren Monolog Büchners beim Sezieren oder eine kleine Büchner-Preisrede, wie sie Büchner gehalten haben könnte.
Kurzke möchte möglichst nah an die "Urzündung der Einfälle in Büchners Psyche und Gehirn herankommen", möchte das Kräftesystem einer Seele nachvollziehen, die geniale Werke produziert. Aber was ist Genie? Es ist da oder nicht, man kann es kaum erklären, auch bei Kurzke wirkt das manchmal angestrengt. Man braucht ja auch keine komplizierte Psychoanalyse, um zu ergründen, warum ein junger Mann ein grandioser Musiker oder Fußballer ist – Talent und Übung sind entscheidend.
Kurzke setzt den Werken Quellen und zeitgenössische Kontexte zu, rekonstruiert die Schreibprozesse. Aber er vermeidet den akademischen Jargon, schreibt klar, anschaulich und bildstark, von ein paar missglückten Formulierungen abgesehen. Ihm gelingen großartige Passagen, etwa die folgende über "Woyzeck", dieses Weltabschiedswerk eines 23-Jährigen:
Woyzeck, dieser gutmütige apokalyptische Erbsenesser, springt Menschen verschiedenster Art an, Künstler und Bürger, Intellektuelle und Arbeiter, Konservative und Sozialisten. Er ersticht eine schöne Frau, die Motive bleiben ungenügend, aber das ist kein Mangel, sondern das ist eigentümlich stark. Das ganze Leben mit seinem Elend war sein Motiv, alle waren mitschuldig, der Tambourmajor, der Doktor, der Hauptmann, die Handwerksburschen, Marie, alles war mitschuldig, der Markt, das Militär, die Kirche, die Gesellschaft. (…) Eine Grundmelancholie, die kein wahres Leben kennt, liegt über Woyzeck. Bilder und Blitze, Farben und Stimmungen sind wichtiger als die Mordgeschichte. Das Groteske mischt sich mit dem brunnentief Wehmütigen. Das Animalische ertränkt das Intellektuelle. Die Menschen dampfen. (…) Das hohe Personal ist so lächerlich wie das niedere. Dieser Schmerz in allem, mit den Volksliedfetzen dazwischen, ein Spiel von Liebe und Tod, aus dem es kein Entrinnen gibt, irrational, düster.
Bei aller Genauigkeit nimmt sich Kurzke die Freiheit, seine eigene Weltsicht und Weltweisheit anhand Büchners zu exemplifizieren, wozu das trotzige Christentum und der kritische Ernüchterungsprozess nach der Revolte von 1968 gehören. Viele Thomas-Mann-Zitate spicken diese Biographie. Bei der Darstellung von Büchners Typhus-Tod wird die berühmte medizinische Passage aus den "Buddenbrooks" zitiert. Pathos ist schwierig und riskant, aber zitatweise geht es leichter über die Lippen. Ein Meisterstück ist der Schlussteil über das qualvolle Sterben Büchners: ein vielstimmiges Arrangement aus medizinischen, literarischen sowie diversen Brief- und Tagebuchtexten und eine Thanatologie aus Büchner-Zitaten. Spannende Abschnitte widmen sich schließlich der Wiederentdeckung Büchners. Ganz vergessen war er im 19. Jahrhundert nicht.
Das Wecksignal kam von der Züricher Friedhofsverwaltung. Als der Friedhof am Zeltweg, auf dem Büchner bestattet war, aufgehoben werden sollte und die Einebnung des Grabes drohte, nahm sich die Studentenverbindung Germania der Sache an und beantragte, den Denkstein auf den sogenannten Germaniahügel auf dem Zürichberg zu versetzen, was genehmigt wurde und am 4. Juli 1875 geschah. Die noch vorhandenen Leichenteile wurden darunter gebettet.
Die patriotischen Studenten meinten, einen "glühenden Burschenschaftler" zu ehren. Das Presseecho der Züricher Umbettungsfeierlichkeit war groß, und weil die Restexemplare der "Nachgelassenen Schriften" von 1850 nun rasch vergriffen waren, entstand der Wunsch nach einer Neuausgabe, zu deren Editor der Bruder Ludwig Büchner Karl Emil Franzos bestimmte, einen Büchner-Begeisterten der ersten Stunde, dem nun die Handschriften überantwortet wurden. Franzos entzifferte erstmals den "Woyzeck". Bis zur Uraufführung vergingen aber noch Jahrzehnte. Sie wurde 1913, im Jahr des 100. Geburtstags, angestoßen von einem Autor, der sich keineswegs als Sozialdramatiker, sondern als subtiler Seelenlandschaftsmaler einen Namen gemacht hatte: Hugo von Hofmannsthal. Zuerst wurde "Woyzeck", wurde Büchner von der ästhetischen Moderne in Anspruch genommen und gefeiert – dazu gehört auch Alban Bergs expressionistisch-atonale Oper "Wozzeck". Erst später setzte die politische Vereinnahmung ein, von links, aber auch von rechts, wo sich ein "deutscher Sozialismus" auf Büchners kernige Volkstümlichkeit berufen zu können meinte. Später kamen kafkaesk-existenzialistische Lesarten hinzu und, am mächtigsten von allen Aneignungsversuchen, das staatsoffizielle Büchner-Standbild der DDR-Exegese, das den Revolutions-Büchner von 1968 präfigurierte. Ein Büchner-Bild, das keine Mitte, keine Höhe und Tiefe, sondern, wie Kurzke schreibt, nur einen linken Rand hatte, vom Romantiker, Metaphysiker, Melancholiker und Christen Büchner möglichst wenig wissen wollte. Am Ende bleibt auch für den Biographen das Staunen:
Woher erwuchs einem so jungen Mann diese fulminante Urteilskraft? Wie konnte er mit Sätzen, die so offenkundig in größter Eile hingeworfen wurden, so erschütternd ins Schwarze treffen?
Sätze wie der Woyzecks über die klaustrophobische Aussichtslosigkeit der menschlichen Existenz noch über den Tod hinaus: "Wir arme Leut… Ich glaub, wenn wir in‘ Himmel kämen, müssten wir donnern helfen." Oder wie der ungeheure Satz, der die atheistische Versuchung von Lenz ins Bild setzt:
"Es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen."
Büchner war alles andere als ein orthodoxer Kirchenchrist, aber Kurzke erkennt als entscheidende literarische Triebkraft die starke metaphysische Unruhe, wie bei der zerrissenen Hauptfigur der Jahrhundert-Novelle "Lenz". Auf jeden Fall wird deutlich, dass in den Werken Büchners, der wechselnd als Frühsozialist, Frühnaturalist oder Frühexpressionist in Anspruch genommen wurde, auch einige sehr alte und späte Dinge wirksam sind. Wer diese Biographie liest, versteht Büchner tiefer und besser. Ihr gelingt die Wiederbelebung eines im politischen Verständnis erstarrten Klassikers.
Literaturhinweis: Hermann Kurzke: GEORG BÜCHNER – Geschichte eines Genies. C.H. Beck 2013, 592 S., 29,95 Euro