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"Seit Erfurt haben wir eine Flut von Nachahmern"

Der Kriminalpsychologe Jens Hoffmann von der Technischen Universität Darmstadt fordert nach dem Amoklauf von Winnenden Krisenteams an Schulen. Seit dem gebe es eine Flut von Nachahmern, alle Amoklaufversuche hätten hierbei erkennbare Warnsignale. Das seiner Forschungsgruppe hätte das Risiko jeder bislang bekannten deutschen und US-amerikanischen Tat voraussehen können.

Jens Hoffmann im Gespräch mit Stefan Heinlein |
    Stefan Heinlein: Die erste Eilmeldung kam heute Vormittag um kurz nach Zehn. Wenige Minuten zuvor eröffnete offenbar der Amokläufer das Feuer auf Schüler und Lehrer einer Realschule im baden-württembergischen Winnenden bei Stuttgart. Soeben wird gemeldet: es handelt sich offenbar um einen 17-jährigen ehemaligen Schüler. Nähere Einzelheiten sind zur Stunde noch nicht bekannt.
    Am Telefon ist nun der Kriminalpsychologe Jens Hoffmann von der TU Darmstadt. Guten Tag, Herr Hoffmann.

    Jens Hoffmann: Jens Hoffmann. Guten Tag!

    Heinlein: Nach Erfurt nun also erneut ein Amoklauf an einer deutschen Schule. War das zu erwarten?

    Hoffmann: Ja. Es war zu erwarten, dass es zumindest versucht wird. Wir haben seit Erfurteine ganze Menge solcher Versuche gehabt, die glücklicherweise gar nicht alle an die Öffentlichkeit gekommen sind. Wir sind nach den USA in Deutschland das Land mit den meisten solcher Taten an Schulen.

    Heinlein: Haben Sie eine Erklärung, warum Deutschland gemeinsam mit den USA hier an der Spitze steht?

    Hoffmann: Das ist ein Nachahmungseffekt. Seit Erfurt haben wir eine Flut von Nachahmern. Diese jungen Täter beziehen sich immer auf andere Täter. Wenn der Bann einmal gebrochen ist, hat man ein erhöhtes Risiko. Wir kennen das von Selbstmordwellen bei Jugendlichen, schon beispielsweise aus Goethes Zeiten von Werther.

    Heinlein: In der Nacht, Herr Hoffmann, ein Amoklauf im US-Bundesstaat Alabama mit ebenfalls vielen Opfern. Ist das ein reiner Zufall, oder könnte diese Tat tatsächlich ein Auslöser gewesen sein für die heutige Tat in Stuttgart?

    Hoffmann: Wahrscheinlich eher ein Zufall. Was wir sehen werden bei dem jetzigen Täter, wenn das ein ehemaliger Schüler ist, ist, dass er schon einen langen Plan, eine lange Vorbereitung gehabt hat, mindestens Tage, Wochen, vermutlich sogar Monate, dass er sich lange in diese Phantasie rein begeben hat. Es kann sein, dass er kurz davor war und diese Tat in den USA den letzten Auslöser gegeben hat, aber wahrscheinlich ist, dass es vielleicht doch eher ein Zufall ist.

    Heinlein: Sie sagen "Phantasien". Welche Motive? Warum tötet ein Schüler seine ehemaligen Mitschüler? Was für eine Phantasie ist das?

    Hoffmann: Diese Taten haben alle erkennbare Warnsignale, ohne Ausnahmen. Wir haben alle Fälle in Deutschland untersucht und ein Dutzend Fälle in den USA. Was dahinter steckt ist eine Mischung aus Depressivität, Suizidalität und kalter Wut und ein Tunnelblick, wo man denkt, durch eine solche Tat kann ich mich nur rächen, kann ich jemand sein.

    Heinlein: Also Rache ist ein wichtiges Motiv?

    Hoffmann: Ja!

    Heinlein: Lässt sich so ein Amoklauf im Vorfeld also erkennen? Werden diese Taten angekündigt?

    Hoffmann: Jede dieser Taten, die wir bisher gesehen haben – zu dem aktuellen Fall kann ich noch nichts sagen -, hat sich eindeutig vorher erkennen lassen. An Schulen muss sensibilisiert werden, es braucht Krisenteams. Wir haben aufgrund unserer Forschung ein Online-System entwickelt, das DYRIAS-System , was bei jeder dieser deutschen Taten und jeder uns bekannten amerikanischen Tat im Vorfeld hätte das Risiko erkennen können.

    Heinlein: Was sind denn die Symptome für die Ankündigung einer solchen Tat?

    Hoffmann: Wir haben 32 Faktoren erkennen und inzwischen ausarbeiten können. Es ist ein Entwicklungsweg dahin. Es gibt nicht den Amokläufer als Persönlichkeitseigenschaft. Am Anfang steht Verzweiflung, irgendeine Krise. Wir sehen eine Beschäftigung mit anderen Gewalttätern, mit Amokläufern, eine Identifizierung. Wir sehen ab einem gewissen Punkt, dass sie beispielsweise versuchen, sich Waffen zu besorgen, Kleidung zu besorgen, dass sie es manchmal auch ankündigen gegenüber Mitschülern oder auch andere Leute warnen, und so haben wir eine schrittweise Entwicklung mit klar erkennbaren Warnsignalen.

    Heinlein: Warnsignale, die sich auch ankündigen durch den Konsum von Gewaltvideos oder zunehmender Gewalt im Internet? Können diese Phänomene diese Phantasien beflügeln, die Sie gerade beschrieben haben?

    Hoffmann: Ja, aber nicht ursächlich. Was wir sehen, beispielsweise das Thema Videospiele, dass diese Täter sich durch Videospiele, anders als normale Jugendliche, die Video spielen, in eine solche Rachephantasie rein begeben. Ein Amokläufer in Deutschland hatte beispielsweise eine Schule in einem solchen Videospiel virtuell nachgebaut. Was wir sehen – und das macht uns viele Sorgen –, ist inzwischen, dass sie sich unsterblich im Internet machen, dass sie beispielsweise häufig Abschiedsvideos einstellen und wissen, sie werden in diese Reihe von Rebellen – so sehen sie sich selbst –, aufgenommen werden. Was wir in Finnland unlängst gesehen haben, dass schon ein jugendlicher Amokläufer an einer Schule mit einem anderen Täter direkt kommuniziert hatte. Das Internet spielt also eine zunehmend wichtige Rolle in der düsteren Dynamik solcher Taten.

    Heinlein: Funktioniert das Frühwarnsystem an unseren Schulen noch nicht, so dass es immer wieder zu solchen Taten kommen kann?

    Hoffmann: Wir sehen, in den letzten ein, zwei Jahren ist viel passiert. Lange haben sich die Schulen weggeduckt. Aber es ist immer noch nicht genug passiert. Wenn eine Schule kein Krisenteam hat, was ein Know-how, eine Fortbildung hat, um so etwas zu erkennen, und damit das Risiko massiv verringert, denke ich, ist eine Schule nicht nach dem jetzigen Stand für so etwas aufgestellt, und es kann überall passieren. Das hat sich ja leider wieder traurigerweise bewahrheitet.

    Heinlein: Der Täter oder die Täter – man weiß es ja noch nicht – waren ja zunächst auf der Flucht. Haben sie tatsächlich gehofft, davon zu kommen, oder wollen sie auch von der Polizei erwischt werden? Wollen sie verhaftet werden?

    Hoffmann: Das wäre jetzt sehr hypothetisch. Es ist sehr ungewöhnlich. Die meisten dieser Täter bringen sich inzwischen um. Auch wir haben dort Nachahmungseffekte und Veränderungen. Wir haben in der Vergangenheit in den USA schon Einzeltäter schon gehabt, die geflohen sind. Deswegen kann ich nicht wirklich etwas dazu sagen. Das wären nur Spekulationen.

    Heinlein: Der Kriminalpsychologe Jens Hoffmann aus Darmstadt. Vielen Dank, Herr Hoffmann, für diese raschen Antworten und Ihre Analyse des Amoklaufes heute Vormittag in Winnenden bei Stuttgart.