Christiane Florin: Im Februar hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung gekippt. Selbsttötung sei ein Ausdruck von Selbstbestimmung, heißt es in der Entscheidung. Kaum war das Urteil öffentlich, gab es eine gemeinsame Erklärung von evangelischer und katholischer Kirche. Das Urteil stelle einen Einschnitt – Zitat - "in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar". Die beiden Kirchen sind sich in dieser existenziellen Frage ausnahmsweise einig, sollte das wohl zeigen.
Aber innerhalb der evangelischen Kirche herrscht keine Einigkeit. Das Landesbischof von Hannover, Ralf Meister, widersprach der EKD-Linie sofort und im Deutschen Pfarrerblatt erschien ein J’accuse, ein Artikel, der das Verfassungsgericht lobt und die EKD scharf kritisiert. Geschrieben hat diese Anklage Werner Ritter, emeritierter Professor für ev. Theologie in Bayreuth und Bamberg. Herr Ritter, ist das Leben ein Geschenk Gottes?
Werner Ritter: Das Leben ist ein Geschenk Gottes, Gott legt das Leben in meine Hand. Ich werde zwar geboren, erlebe das passiv und ich sterbe am Ende, da bin ich auch passiv, aber die Spanne dazwischen, die lange ist, die ist in meine Hand gegeben. Ich denke nicht, dass Gott mich als Marionette wahrnimmt, der an den Fäden der Marionette zieht und die Marionette reagiert dementsprechend, sondern ich bin ein freies Geschöpf Gottes, das sein Leben gestalten kann und darf.
"Es gibt keinen empirischen Beweis dafür, dass Druck auf Sterbenskranke ausgeübt wird"
Florin: Warum ist Autonomie für Theologinnen und Theologen beider Konfessionen ein vermintes Gelände? Autonomie steht unter Hybris-Verdacht, der Mensch mache sich zu Gott, was halten Sie dem entgegen?
Ritter: Die Theologie, die Schuldogmatik hat sich das so zurecht gelegt, dass Gott die Autonomie des Menschen nicht will. In der Bibel sehe ich dafür keinen wesentlichen Grund, ich nehm ein beliebiges Beispiel heraus: Lukas 15, der verlorene Sohn oder der barmherzige Vater, da gibt‘s einen Vater, in der theologischen Tradition als Gott verstanden, der mit der Ansage des älteren Sohnes konfrontiert wird, er möchte sein Erbe vor dem Ableben des Vaters haben. Der Vater könnte jetzt so reagieren, dass er erzürnt ist, tobt, schreit. Der Vater lässt den Sohn in die Freiheit, er zahlt ihm sein Erbe aus, er tobt nicht, der Sohn geht in die Autonomie. Und als er zurückkommt, gibt es keinen Vater, der tobt und schreit, sondern einen, der ihn barmherzig und warmherzig aufnimmt.
Ich sehe für mich seit langer Zeit keinen Grund mehr an dieser theologischen Unterscheidung, Autonomie und Heteronomie, festzuhalten.
Florin: Ein zentrales Argument beider Kirchen ist, dass Druck auf die Schwächsten ausgeübt wird. Dass jemand, der schwerkrank ist, das Signal bekommt: Du bist hier eigentlich nicht mehr erwünscht, mach dich davon, das ist für alle besser, für dich und auch für die Angehörigen. Warum glauben Sie, dass dieser Druck, dieser unbarmherzige Druck, würde ich ergänzen - nach dem, was Sie vorhin zur Barmherzigkeit ausgeführt haben - nicht entsteht?
Ritter: Ganz einfach deswegen, weil wir dafür keine empirischen Belege haben. Der Verdacht, der da geäußert wird, dass ein unheimlicher Druck auf die Sterbenskranken, die nicht mehr leben wollen, zukommt, ist empirisch nicht valide ausgewiesen. Es ist eine Befürchtung, mit der seiner-, ihrerseits beide Kirchen Druck auf die Gläubigen und auf die Menschen machen. Ich finde das nicht in Ordnung.
"Keiner wirft sein Leben einfach so weg, aber es gibt Punkte, wo einer sagt: Ich habe genug gelitten"
Florin: Der Blick in die Niederlande zeigt etwas anderes, nämlich dass die Zahlen sehr wohl steigen. Sie sprechen in Ihrem Artikel im "Pfarrerblatt" auch die Niederlande kurz an und sagen, man müsse sich dieser Wirklichkeit dort stellen. Was meinen Sie denn damit, sich dieser Wirklichkeit stellen?
Ritter: Dass bei Freigabe der assistierten Sterbehilfe die Zahl der assistiert Suizidsterbenden ansteigen wird, ist vollkommen klar. Bis 2015 war das verboten, also haben sich die Menschen auch zurückgehalten, aber mit dem Karlsruher Urteil ist sicher anzunehmen, dass die Zahl der durch assistierten Suizid Sterbenden zunehmen wird. In welchem Ausmaße wissen wir nicht und wir sollten da auch keine Prognosen aufstellen, dass das horrend wird und unerklärlich. Zu Holland: Holland ist nicht Deutschland. In Deutschland ist das Leben von Menschen zu keiner Zeit besser geschützt gewesen als derzeit. Dass in Holland diese gewaltigen Zahlen entstehen, muss nicht heißen, dass Deutschland automatisch mit dem Karlsruher Urteil diesen Weg gehen wird. Ich sage Ihnen mal ein paar Zahlen: Im Jahr sterben in Deutschland circa 900.000 Menschen, zehn Prozent davon gehen den Weg des palliativ begleiteten Sterbens und 0,016 Prozent, bis 2015, sind den Weg des assistierten Suizids gegangen. Man muss die Kirche im Dorf lassen. Die meisten Menschen, auch die Schwerststerbenskranken hängen am Leben, keiner wirft sein Leben einfach so weg. Jeder hängt an seinem Leben. Es gibt aber Punkte im Leben, wo einer sagt: Es ist genug, ich kann nicht mehr, ich habe genug gelitten.
Florin: Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgetragen, dass gut geprüft werden muss, ob die Freiwilligkeit der Entscheidung gegeben ist. Wie lässt sich prüfen, ob ein Mensch wirklich frei entschieden hat, aus dem Leben zu scheiden? Ich könnte auch anders fragen: Wie frei ist Verzweiflung?
Ritter: Das ist eine gute und eine sehr zentrale Frage. Ich will vorab eines sagen: Was Herr Thierse in seinem Interview geäußert hat, 90 Prozent aller Suizidenten seien psychisch krank. Die Zahl stammt von Psychatrieprofessoren, die das gern so hoch hätten. Ich glaube, als gut unterrichteter Laie, dass es nicht so ist. Es gibt aber sicher Menschen, die zu einem psychisch bedingtem Kurzschluss neigen. Da muss man genau hinschauen.
Matthias Thöns, einer unserer tollen Palliativmediziner hat am Dienstag in einem Hearing sehr deutlich geäußert: Es gibt Sterbenskranke sterbenswillige Menschen, die über längere Zeit sehr deutlich artikulieren gegenüber ihrem Arzt oder ihrem Betreuer, dass sie wirklich sterben wollen. Das ist die eine Gruppe, eher wohl die größere. Dann gibt es daneben eine Gruppe, die schwankt. Die sagt einen Tag eher, ich will gehen, den anderen Tag eher, ich weiß es nicht, vielleicht doch nicht. Thöns schlägt vor, und ich kann uneingeschränkt folgen: Die Gruppe derer, die über längere Zeit hin sehr klar äußern, ich habe genug gelitten, ich will gehen, da muss man keine Wartezeit und keine Beratungszeit brauchen. Die Menschen haben das Recht durch das Karlsruher Urteil gehen zu dürfen.
Bei der zweiten Gruppe, derer, die unsicher sind, da ist es wohl angebracht Beratung anzuordnen, das eine Zeitlang zu beobachten. Das Recht des Individuums muss im Vordergrund stehen. Karlsruhe hat mit seinem Urteil den Einzelnen in sein Recht eingesetzt. Es geht nicht an, dass der Sterbenskranke, der unsicher ist, wieder zum Objekt von irgendwelchen Fachleuten degradiert wird, die über Monate überlegen und schauen und dann vielleicht doch nicht.
Und es gibt eine dritte Gruppe, wenn ich Thöns richtig verstanden hab, da muss man wohl von psychisch bedingten Problemen sprechen, also da muss dann medizinisch sicher sehr genau hingeschaut werden.
"Kein Arzt kann zur assistierten Tötung gezwungen werden"
Florin: Wo ziehen Sie die Grenze zwischen dem assistiertem Suizid und auch dem organisierten assistierten Suizid, also, dass das nicht ein Einzelfall ist, sondern dass man das anbieten kann, und der Tötung auf Verlangen?
Ritter: Die Tötung auf Verlangen ist ja nach dem Grundgesetz untersagt. Und das würde ich genau so sehen. Assistierter Suizid bedeutet einfach, dass ein Todkranker seinen vertrauten Arzt, hoffentlich ein guter Hausarzt, bittet, ihn bei seinem aus dem Leben scheiden behilflich zu sein.
Ritter: Die Tötung auf Verlangen ist ja nach dem Grundgesetz untersagt. Und das würde ich genau so sehen. Assistierter Suizid bedeutet einfach, dass ein Todkranker seinen vertrauten Arzt, hoffentlich ein guter Hausarzt, bittet, ihn bei seinem aus dem Leben scheiden behilflich zu sein.
Florin: Was halten Sie von Ärzten, die sagen: Ich möchte das nicht. Ich kann das mit meinem Gewissen nicht vereinbaren?
Ritter: Ja, es ist vollkommen klar, dass auch aufgrund des Karlsruher Urteils kein einziger Arzt zu einer assistierten Tötung gezwungen werden kann. Mir scheint es aber wichtig zu sein, zu sehen, dass viele Ärzte seit dem Karlsruher Urteil dem assistierten Suizid offener gegenüber stehen. Es gibt nur ein Hindernis: In vielen Ärztekammern der einzelnen Bundesländern ist der assistierte Suizid untersagt, auch in der Ordnung der Bundesärztekammer ist das verboten.
Florin: Humanistische Organisationen setzen sich auch für eine Liberalisierung der Sterbehilfe ein. Die haben ja auch dieses Karlsruher Urteil begrüßt. Fühlen Sie sich stärker verbunden mit humanistischen Verbänden als mit Ihrer evangelischen Kirche?
Ritter: Ganz frei weg von der Leber: derzeit ja. Weil die evangelische Kirche, von der katholischen Kirche will ich jetzt gar nicht reden, weil die da völlig blockt, aber die evangelische Kirche ist durch den Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm derart festgelegt auf Verbot des assistierten Suizids, dass es schwierig ist. Es gibt jetzt durch Ralf Meisters zweimalige Äußerungen wirklich Hoffnung, dass Bewegung in die evangelische Kirche kommt. Die evangelische Kirche war immer daran interessiert, auch plural auftreten zu dürfen und nicht derart einem evangelischen Papst unterstellt zu sein, der den Takt vorgibt.
"Gott ist nicht der Herr, der richtet und anordnet"
Florin: Aber wenn die Kirchen nicht mehr diese Position vertreten, in dem Fall die kritische Position zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten geschäftsmäßigen Suizid, wer soll diese Position dann vertreten?
Ritter: Es wird in der Frage assistierter Suizid ja oder nein in einer pluralen Gesellschaft, wie es die Bundesrepublik ist, keine Eindeutigkeit geben. Es gibt Fragen, die kann man eindeutig beantworten, wo ist der Eiffelturm, wie weit ist es von Berlin nach Bonn, es gibt aber auch Fragen, die sind nicht eindeutig zu beantworten, was ist Liebe, was ist gut, was ist böse. Ich halte die Frage des assistierten Suizids für so eine Frage, die nicht eindeutig für alle Menschen objektiv zu beantworten ist.
Florin: Ja eben. Wenn alle ja sagen, dann haben Sie ja auch keine Pluralität mehr. Also wenn die Kirchen jetzt nicht nein sagen würden, dann sagten ja alle ja.
Ritter: Ich störe mich nur dran, dass die offizielle Kirche derzeit nur diesen einen Weg zulässt, nämlich den des palliativen Sterbens. Das ist mir zu einseitig. Man kann durchaus Gott als Freund des Lebens sehen und sagen, wir möchten, dass evangelische Christen lieber den palliativ unterstützten Weg gehen. Aber wir haben auch Verständnis für Menschen, die sich diesbezüglich anders orientieren. Also es darf in der evangelischen Kirche, die immer plural waren, Stimmen geben, die sagen: "kein assistierter Suizid". Aber es muss auch Stimmen geben, und die muss auch der Präsis der EKD hören, Stimmen geben, die sagen, das Recht des Individuums, das in einen barmherzigen Gott hinein stirbt, das ist uns genauso wichtig. Ich finde, wir sind am Ende eines Zeitalters der Eindeutigkeit.
Florin: Gibt es überhaupt etwas spezifisch Christliches oder etwas spezifisch Evangelisches in dieser Debatte? Außer dass man jetzt sagt, ja das ist die Kirche der Freiheit, da gehört Pluralismus dazu. Gibt es darüber hinaus etwas spezifisch Evangelisches?
Ritter: Ich denk schon, das ist die Liebe Gottes, die der Einzelne so wahrnimmt, dass er sich palliativ unterstützt auf sein Lebensende zubewegt, umgeben von Familienangehörigen, umgeben von vertrauensvollen Ärzten, von Psychologen, von Krankenschwestern und Pflegern. Es gibt aber auch die Liebe, die Liebe Gottes, die sich darin realisiert, dass über dem ganzen Sterbevorgang ein Gott steht, der nicht der Herr ist, der richtet und anordnet, sondern ein Gott, der wie der barmherzige Vater im Gleichnis von Lukas 15 den, der da gehen will, mit offenen Armen aufnimmt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.