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Selbstbewusst abseits der Trampelpfade

Das Stadttheater Gießen beweist seit vielen Spielzeiten, dass auch in der Provinz gute Theaterarbeit entstehen kann und honoriert wird. Bei einer Umfrage der Zeitschrift "Deutsche Bühne" wurde es vor zwei Jahren auf Platz eins in der Kategorie "Ambitionierte Theaterarbeit abseits der großen Zentren" gewählt.

Von Ruth Fühner | 18.07.2006
    "Provinz" steht auf der Homepage des Giessener Stadttheaters. Das selbstbewusste Motto hat Catherine Miville, die Intendantin, natürlich mit Bedacht gewählt:

    "Es hat also nichts zu tun, dass wir uns über Kleinbürgerlichkeit lustig machen wollen, sondern wir haben einfach in dieser Zeit hier in Giessen gelernt: wenn dieser Stadt was fehlt, dann ist es Selbstbewusstsein. Sie stellt ihr Licht unter den Scheffel und sagt, alle andern sind besser, das ist aber, was unsere Arbeit angeht und wie wir das Leben in der Stadt erfahren, nicht richtig."

    Theater in der Provinz – was heißt das überhaupt? Auf jeden Fall, dass die Konkurrenz eine andere ist als da, wo nicht Provinz ist. Der Vergleichsmaßstab ist nicht das Burgtheater oder die Schaubühne, sondern das Fernsehen. Das Theater ist die Ausnahme, das Nicht-Alltägliche. Die einen machen sich noch fein fürs gepflegte Abo-Erlebnis in der hübschen Jugendstil-Pralinenschachtel. Den anderen muss erst mal bewiesen werden, dass es auf der Bühne noch cooler zugehen kann als im Unterschichtenfernsehen.

    Molières Menschenfeind, adaptiert von Philipp Engelmann, inszeniert von Alexander Seer als schrille, temporeiche und drastisch sexualisierte Klamotte, die vor allem auf Anbiederung beim jugendlichen Publikum zielt. Mit Erfolg – inklusive Mitgrölen und Schenkelklopfen.

    Uraufführung nennt sich diese Auftragsarbeit, was nur ein ganz klein bisschen geschummelt ist. Wahr ist hingegen, dass vor allem in der kleinen Dependance im Löbershof auch das maßvoll Gewagte seinen Ort hat in Giessen. Hier erproben, oft in Zusammenarbeit mit der Hessischen Theaterakademie, junge Regietalente die künftige Pranke an Autoren, die noch nicht gänzlich durchgesetzt sind – so die überaus formbewusste Ragna Kirck an Jordi Galcerans "Grönholm-Methode" oder Joanna Lewicka an der "Wolf-Gang" von Tom Lanoye.

    Natürlich hat Provinz, die sich selbst als Provinz erkennt, ihre Unschuld verloren und möchte den Provinz-Status selbstbewusst hinter sich lassen. Und natürlich färben die überregional erfolgreichen Stile und Tendenzen ab. Erst recht in Giessen, von wo das Institut für angewandte Theaterwissenschaften Absolventen wie René Pollesch oder SheShe Pop auf die Republik losgelassen hat. Von – vorsichtiger, sehr, sehr vorsichtiger – Annäherung zwischen Stadttheaterwelt und Theaterlabor ist am ehesten beim Tanztheater etwas zu spüren.

    Ballettdirektor Tarek Assam veranstaltet einmal im Jahr das kleine ost-west-Tanzfestival, lädt gerne Gastchoreographen ein, und seine eigene Ästhetik ist – zuletzt in "Mit den Flügeln des Ikarus" zu Mozarts "Prager Sinfonie" – geprägt von Multimedia-Grenzgängen und einer selbstreflexiv-ironischen Erzählhaltung, die das Programmheft gern ein bisschen aufgeblasen "dekonstruktivistisch" nennt.

    Dass es das Giessener Stadttheater vor zwei Jahren bei der Umfrage der Zeitschrift "Deutsche Bühne" auf Platz eins in der Kategorie "Ambitionierte Theaterarbeit abseits der großen Zentren" brachte, verdankt es allerdings dem Musiktheater. Im Grossen Haus, wo die Akustik leicht fälschlich nach Konserve klingt, wagt Catherine Miville die mutigsten und erfolgreichsten Abstecher von den Trampelpfaden des Repertoires. Zwar standen wohl sicherheitshalber "Csardasfürstin" und "Verkaufte Braut" auf dem Spielplan – aber mit Donizettis "Maria Stuarda" auch Risikoreicheres. Erst recht mit Gian Carlo Menottis "Konsul", bei dem die bodenständige Hausherrin selbst Hand anlegte – eine Oper über Furcht und Elend der Tyrannei und die tödliche Eiseskälte der Bürokratie.

    Am schönsten aber ist die Provinz in Giessen bei so kleinen feinen Ausgrabungen wie den beiden Opern-Einaktern von Peter Maxwell Davies im immer wie improvisiert wirkenden Löbershof: "Miss Donnithornes Maggot " und "Eight Songs for a Mad King".

    Sehr poetisch, sehr expressiv lotete Hans Walter Richter Verzückung und Verzweiflung seiner beiden wahnsinnigen Protagonisten aus – die verlassene Braut an der ewigen Hochzeitstafel, der erbkranke König im tragisch-närrischen Vogelfängerhabit und dazu eine hochartifizielle, atonal sprunghafte Musik, der Luftballons und Schmirgelpapier einen ganz eigenen Humor einzogen.
    Zum Spielzeitende dann noch ein großes Kostümfest im Park: Kaiserwetter wie bei der Grundsteinlegung von 100 Jahren. Da hatte Catherine Miville es wieder einmal geschafft, die Giessener "aufzumischen", wie sie das gerne nennt:

    "Wir wollen, dass keiner in Giessen leben kann, arbeiten kann, studieren oder als Pendler, der nicht irgendwann über uns stolpern muss."