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Selbsterforschung im Bühnenformat

In Peter Handkes Werk "Immer noch Sturm" spürt der Dichter den Geheimnissen der Existenz nach - und zwar vor allem seiner eigenen, familiären. Das in Salzburg uraufgeführte Familienepos erzählt vom Widerstand slowenischer Partisanen aus dem Innern des Großdeutschen Reiches gegen die Nazis.

Von Karin Fischer | 13.08.2011
    Handkes Text ist mehr dialogisches Traum-Spiel als Drama oder Erzählung, nicht kategorisierbar, formal ein Bastard, wie das Ich im Text, das von der slowenischen Mutter mit einem deutschen Soldaten gezeugt wurde. Dieses "Ich", natürlich ein Alter Ego des Autors, träumt sich auf einer Sitzbank im Kärntner Jaunfeld seine Familie herbei, und damit eine Geschichte, die eigentlich eine Tragödie ist. Handke erzählt vom einzigen Widerstand aus dem Innern des Großdeutschen Reiches gegen die Nazis: slowenische Partisanen in Kärnten erhoben sich gegen die Fremdherrschaft, mussten nach dem Krieg aber erfahren, dass die größeren Räder der Geschichte noch einmal rücksichtslos über sie hinweggingen.

    In einem Interview hat der Dichter das Stück einen "Sturm gegen die Geschichte, gegen Geschichte als Fortschrittskategorie" genannt. Das stimmt. Alles bleibt aber eine große, poetisch durchformte Fantasie in der die slowenische Apfelbaumlandschaft oder die Sprache eine ebenso große Rolle spielen wie die eingestreuten Geschichtssplitter oder politischen Hintergründe. Gleich am Anfang steht der Duktus des "oder", das Motiv der Täuschung:

    "Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonstwo ein Apfelbaum, behängt mit etwa 99 Äpfeln, Frühäpfeln, fast weißen, oder Spätäpfeln, dunkelroten. Ob das Gedächtnis täuscht oder nicht: aus der einen, dann der anderen Ferne ein Angelusläuten."

    Die Bühnenbildnerin Katrin Brack, berühmt für ihre einfach-bedeutsamen Bühnenzeichen, lässt, unaufhörlich, vier Stunden lang, grüne Papierschnipsel kreisrund auf den Boden regnen. Der Blätterregen ist Vorhang, Landschaft und ausgeleuchtete Spielfläche zugleich. Jens Harzer als "Ich" sitzt meist außerhalb, auch Bibiana Beglau als "Düsterschwester" Ursula tritt erst später in den Kreis. Sie ist fast immer wütend und stimmt früh die wichtigen Themen an: Identität, Sprache, Krieg.

    "Vielleicht stimmt er ja doch, der Spruch aus der Gegend: Einen Platz findet nur, wer ihn selber mitbringt? Habe ich vielleicht nie das, wie soll ich sagen, Platzhaben verkörpert? Nicht ihr habt mir also keinen Platz gelassen, sondern ich bin schon platzlos geboren, und demgemäß auf Krieg aus, auf Welt- wie Familienkrieg? Erbarmen, Mutter. Hast du mir nicht erzählt, dass in unserer Sprache hier "Mutterleib" und "Erbarmen" dieselbe Wurzel haben?"

    Das Familienepos zeigt die Großeltern und deren fünf Kinder, darunter die Mutter des Ich-Erzählers, von 1936 bis nach dem Krieg, mit wenigen Andeutungen entstehen ganz eigenständige Charaktere. Vielleicht, um die Künstlichkeit der Szene zu verdeutlichen, stellt Regisseur Dimiter Gotscheff den Text mehr aus, als dass er ihn spielen ließe. Die Figuren wirken so wirklich wie aus einer fremden Welt, wie aus einem Märchen, bestreiten aber die erste Hälfte auch wie festgewachsen, als frontales Steh- und Erzähltheater. Wo Handke Bilder und Stimmung evoziert, nagelt Gotscheff Worte fest. So entsteht eine ungute Diskrepanz zwischen der leicht flirrenden Sprach-Welt des Autors und der merkwürdigen Starrheit der Szene. Erst spät, und vor allem im zweiten Teil, verwandeln die zwei Musiker im Bühnenhintergrund und mehr Gesang der Schauspieler das Stück in seine angemessene Form als Klang-Gedicht. Herausragend: Oda Thormeyer als zweite Schwester und Mutter des Ich-Erzählers. Wenn sie die deutsche Nationalhymne "lacht" oder die Konfrontation mit einem "Obersturmkommandant" spielt, entsteht unmittelbares, lebendiges Theater.

    Zwei Brüder fallen an der Front, Gregor, der Partisanen-Kommandant, überlebt, Ursula, auch sie im Widerstand, stirbt in den Händen ihrer Folterer. Den Schlussdialog zwischen Gregor und dem Erzähler legt Gotscheff allerdings alleine Jens Harzer in den Mund, wodurch die Inszenierung in schlechtem Pathos endet. Harzer verfehlt damit die klugen geschichtspolitischen Gedanken Handkes und spitzt die Szene zur näselnd-manirierten Abrechnung eines selbstmitleidigen Erzählers zu. So galt der größte Applaus am Ende nicht dem Regisseur, sondern dem scheuen Dichter Peter Handke, der mit "Immer noch Sturm" die eigenen Lebensthemen mit der Ungerechtigkeit von Geschichte verknüpft und damit nicht nur ein vielstimmiges, vielschichtiges Vermächtnis geschaffen hat, sondern den Kärntner Slowenen auch auf höherer Ebene Gerechtigkeit widerfahren lässt.