Gerade hatte sie noch eine Besprechung wegen des Coronavirus, erzählt die Ärztin Rubena Moisiu. Aufrecht, im weißem Kittel, mit rotgeschminkten Lippen steht sie vor der Geburtsklinik von Tirana: eine imposante Erscheinung inmitten all der Krankenbesucher, die vor der Tür der Geburtklinik warten – und vergeblich hoffen, hereingelassen zu werden.
"Wir können nicht rein, wegen des Coroavirus?"
"Nein, niemand außer Personal und Patienten", sagt Moisiu.
Nur ab und an verschwindet eine schwangere Frau mit dickem Kugelbauch hinter der streng bewachten Schiebetür.
"Sie wollen Jungen"
"Die Mehrheit fragt immer: Was ist es?"
Junge oder Mädchen? Das sei fast immer die erste Frage nach einer Ultraschalluntersuchung, erzählt Moisiu.
Die Antwort der Ärztin kann dann über ein Leben entscheiden.
"Sie wollen Jungen. Bei einer Hochzeit wünscht jeder dem Brautpaar: Herzlichen Glückwunsch – und möget ihr einen Jungen bekommen. Die albanischen Männer denken, wenn sie Jungen bekommen, seien sie männlicher."
Die Ärztin muss darüber lachen. Dabei sind die Folgen ernst: Weibliche Föten werden in Albanien nicht selten abgetrieben.
"Eltern haben heute nur noch ein oder zwei Kinder. Und deswegen wollen sie sichergehen: Wenn sie bereits ein Mädchen haben, möchten sie danach einen Jungen bekommen. Und die medizinischen Möglichkeiten, das Geschlecht zu identifizieren, haben in den vergangenen Jahren zugenommen."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Mädchen unerwünscht - Geschlechterrollen in Albanien".
Moisiu arbeitet seit 33 Jahren in der Gynäkologie, lehrt als Professorin und ist hier in der Klinik als Chefärztin für die komplizierten Operationen zuständig.
Sie gehört zu den wenigen, die bereit sind, über die Abtreibung weiblicher Föten zu sprechen.
"Am Ende des Jahres haben wir sehr viel mehr Jungen"
Obwohl die Ärztin eigentlich gleich wieder in den Operationssaal müsste, setzt sie sich mit ihrer Besucherin draußen auf die Terrasse des kleinen Klinik-Cafés.
In kommunistischen Zeitungen waren Abtreibungen in Albanien illegal, kostspielige Voruntersuchungen gab es kaum. Nun sieht es anders aus: Seit etwa zehn Jahren beobachte Moisiu das Phänomen der sogenannten "geschlechterselektiven Abtreibung" – auch in ihrem täglichen Arbeitsalltag.
"Wir haben keine offiziellen Beweise dafür. Es wird nirgends festgehalten, dass eine Abtreibung gemacht wurde, weil der Fötus weiblich war. Aber am Ende des Jahres haben wir sehr viel mehr Jungen, die geboren werden."
Das natürliche Geburtenverhältnis liegt bei 105 Jungen zu 100 Mädchen. In Albanien werden aber jährlich deutlich mehr männliche Babys geboren: In manchen Jahren sind es 108, die auf 100 Mädchen kommen, manchmal sogar 111 Jungen.
"Dieses Verhältnis ist zu hoch, um natürlich zu sein. Es ist keine natürliche Rate. Also kann man daraus schlussfolgern, dass selektive Abtreibung dies bewirkt."
"Sie können Mädchen umbringen. Ich nenne es umbringen. Denn es ist Mord."
"In unserer Akte steht dann: plötzliche Fehlgeburt"
Eigentlich sind Abtreibungen in Albanien nur bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt. In dieser Zeit lässt sich das Geschlecht per Ultraschall noch nicht bestimmen. Danach ist ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituation und mit einer ärztlichen Bestätigung legal.
Abtreibungen aufgrund des Geschlechts sind also verboten – und doch erlebt Moisiu diese immer wieder, in ihrem Klinikalltag.
"Eine Möglichkeit ist ein medizinischer Nachweis, damit sie auch nach der zwölften Woche abtreiben dürfen, sie kaufen diesen Beleg. Eine andere sind Medikamente. Sie sind in den Apotheken erhältlich, weil sie bei Magenproblemen helfen. Aber sie führen auch zu Uterus-Kontraktionen. Und das weiß jeder. Und dann kommen die Frauen ins Krankenhaus: 'Ich bin krank. Oh Gott.' In unserer Behandlungsakte steht dann: plötzliche Fehlgeburt, weil sie dir nicht die Wahrheit sagen."
Aber wenn es Gesetze gibt, gab es denn je eine Anzeige gegen Ärzte oder Mütter wegen einer solchen Abtreibung?
"Nein, es wurde noch nie angezeigt. Es gab unter Ärzten vor ein paar Jahren Diskussionen, weil manche sogar bestreiten, dass es ein solches Phänomen überhaupt gibt. Sie akzeptieren es nicht."
Der Wunsch nach männlichen Babys
Vor einigen Jahren sei es ihr gelungen, einige Parlamentarierinnen für das Problem der selektiven Abtreibung zu interessieren, erzählt Moisiu.
Alle Gesetzesinitiativen seien aber im Sand verlaufen. Und heute rede keiner mehr über das Thema. Weswegen? - "Keine Ahnung", sagt die Ärztin.
Rubena Moisiu muss dringend wieder zurück in die Klinik. Sie wird im OP gebraucht.
Auf dem Weg zum Klinikeingang erzählt sie noch von ihrer eigenen Familie.
"Ich habe zwei Töchter. Meine älteste Tochter hat auch zwei Mädchen. Und die Jüngste ist schwanger und erwartet Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Sie hätten das Gesicht meines Mannes sehen müssen, als er erfahren hat, dass es ein Mädchen und ein Junge wird. Endlich habe ich einen Enkel! – Dabei ist er sehr gebildet. Aber trotzdem sagt er: Ich will einen Enkel. Wir lachen darüber, aber die Mentalität ist da. Dessen müssen wir uns bewusst sein."