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Kommentar: Selenskyj in Deutschland
Ein Preis, der mit Blut verdient wurde

Zur Verleihung des Karlspreis kam der ukrainische Präsident Selenskyj zum ersten Mal seit Kriegsbeginn nach Deutschland. Sein Besuch war eine Gelegenheit, die Verteidigung der Ukraine als europäisches Projekt zu würdigen, kommentiert Stephan Detjen.

Von Stephan Detjen | 14.05.2023
Wolodymyr Selenskyj trägt sich in das Gästebuch von Schloss Bellevue ein, neben ihm steht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.
Der Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj (links) wurde von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue empfangen. (picture alliance / dpa / Christophe Gateau)
Der Besuch Wolodymyr Selenskyjs in Deutschland stand vor dem Hintergrund der politischen und höchst persönlichen Verwerfungen, die das deutsch-ukrainische Verhältnis nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges überschattet haben. Das Sonntagsfrühstück im Schloss Bellevue fand bei einem Bundespräsidenten statt, den Selenskyj vor einem Jahr noch als unerwünschte Person ausgeladen hatte, als Frank-Walter Steinmeier sich gemeinsam mit anderen, osteuropäischen Staatspräsidenten zum Solidaritätsbesuch in Kiew angemeldet hatte.

Vom Zauderer zum "lieben Olaf"

Der vielfache Dank an den „lieben Olaf“, der jetzt die öffentlichen Auftritte Selenskyjs in Berlin und Aachen durchzog, galt einem Bundeskanzler, der von Kiew lange als herzloser Zauderer an den Pranger gestellt worden war.
Deutschland und namentlich die beiden Sozialdemokraten an der Spitze von Staat und Regierung haben seitdem mehrere Kurskorrekturen vorgenommen, zunächst rhetorisch, dann auch mit Taten. Mit der Ankündigung des jüngsten militärischen Unterstützungspakets für die Ukraine hat die Bundesregierung unmittelbar vor der Ankunft Selenskyjs unterstrichen, dass es ihr dabei nicht um einmalige Gesten ging.
Mit geradezu geschäftsmäßiger Routine wurde die Lieferung weiterer Leopard-Panzer, Marder und anderer schwerer Waffen angekündigt – lauter Kriegsgerät, das aus Sicht des Bundeskanzlers noch im letzten Sommer vor allem explosives Gefahrengut war, das den Krieg nur in die Länge ziehen oder nuklear eskalieren würde.

Eine Lehrstunde für den Westen

Selenskyj hat der westlichen Öffentlichkeit von Beginn an immer wieder vor Augen geführt, dass es richtig ist, der russischen Aggression mit Mut und Entschlossenheit entgegenzutreten. Unmittelbar nach dem Beginn des mörderischen Überfalls lehnte er Evakuierungsangebote mit dem legendären Satz ab, er brauche Munition und keine Mitfahrgelegenheit. Dass es den ukrainischen Streitkräften danach gelang, sich gegen die Invasoren zu behaupten, hat die Verbündeten überrascht und in Staunen versetzt.
Dass es im Herbst sogar gelang, die russische Armee zurückzudrängen, war auch für den Westen eine Lehrstunde. Zuletzt scheint die ukrainische Verteidigungsstrategie auch im umkämpften Bachmut aufzugehen. Westliche Berater hatten Selenskyj wochenlang zur Aufgabe der Stadt gedrängt. In den letzten Tagen aber haben russische Kontingente die Flucht angetreten und Bachmut ist zu einem weiteren Beleg für den desolaten Zustand von Putins Angriffstruppen geworden.

Karlspreis als europäisches Ereignis

Wolodymyr Selenskyj und das ukrainische Volk haben sich den Karlspreis, mit dem sie an diesem Sonntag geehrt wurden, mit ukrainischem Blut verdient. Die Auszeichnung wurde in Aachen eindrucksvoll nicht nur als deutsches, sondern europäisches Ereignis gefeiert. Die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen waren unter den Gästen. Besonders von der Leyen demonstrierte mit einer von Empathie und angemessenem Pathos geprägten Rede den Willen, sich die Verteidigung der Ukraine als europäisches Projekt zu eigen zu machen.
Wo die blau-gelbe Flagge der Ukraine wieder weht, ziehen auch Europa und europäische Werte wieder in das von Russland besetze Gebiet seines Landes ein, versprach Selenskyj seinen Zuhörern in Aachen. Im Angesicht der ungeheuren Brutalität und Bösartigkeit des russischen Überfalls tut Europa gut daran, Selenskyj beim Wort zu nehmen.