Archiv

Selenskyjs Rede vor dem Bundestag
"Eine Verbeugung vor der Demokratie"

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich an den Deutschen Bundestag gewandt. In seiner Rede spielt er auf die deutsche Geschichte und den Mauerfall an. Medienwissenschaftler Tanjev Schultz sieht mehrere Ebenen der Kommunikation - und eine Verbeugung vor dem Prinzip der Demokratie.

Text: Pia Behme | Tanjev Schultz im Gespräch mit Michael Borgers | 17.03.2022
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht auf einer Videoleinwand im Bundestag und bekommt Applaus von der Bundesregierung.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erhielt nach seiner Rede im Bundestag Standing Ovations von der Bundesregierung. (picture alliance/dpa)
Ein inzwischen vertrautes Bild: Im olivgrünen Hemd sitzt Wolodymyr Selenskyj vor einer weißen Wand mit der ukrainischen Flagge und blickt ernst in die Kamera. So spricht der Präsident der Ukraine per Video-Schalte zu den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und er führt aus: In Europa entstehe eine neue Mauer, die freie von unfreien Staaten trenne. Dann wendet er sich direkt an den Bundeskanzler: "Herr Scholz, reißen Sie diese Mauer nieder." Selenskyj benutzt einen historischen Satz, den der damalige US-Präsidenten Ronald Reagan 1987 an den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow richtete.
Am Tag zuvor in ähnlicher Position, aber mit einer anderen Rede hatte sich Selenskyj an den US-Kongress gewandt. "Was ich bemerkenswert finde ist, dass er sich für diese Auftritte offenbar gezielt Parlamente aussucht", sagt Kommunikationsforscher Tanjev Schultz von der Universität Mainz. "Das ist auch ein Appell und eine Art Verbeugung vor dem Prinzip der Demokratie. Es geht nicht nur um Diplomaten und die Exekutive. Es geht ums Parlament."

Mehr zu Selenskyjs Rede im Bundestag:


Schultz erkennt in Selenskyjs Reden mehrere Ebenen der Kommunikation. "Er wendet sich unmittelbar an die Abgeordneten. Dann im weiteren Sinne an die jeweilige nationale Öffentlichkeit. Aber immer auch an die Weltgemeinschaft, einschließlich Russland."

Redaktionell empfohlener externer Inhalt

Mit Aktivierung des Schalters (Blau) werden externe Inhalte angezeigt und personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt. Deutschlandradio hat darauf keinen Einfluss. Näheres dazu lesen Sie in unserer Datenschutzerklärung. Sie können die Anzeige und die damit verbundene Datenübermittlung mit dem Schalter (Grau) jederzeit wieder deaktivieren.

Seine Rhetorik und sein Medien-Knowhow setzte der ehemalige Komiker und Schauspieler bereits im Präsidentschafts-Wahlkampf 2019 ein. Über soziale Medien zeigte er sich als Kandidat auf Augenhöhe. Anstatt ein Wahlprogramm zu veröffentlichen, rief er die Ukrainer:innen etwa in einem Facebook-Video dazu auf, gemeinsam ein Programm zu schreiben. Laut einer Analyse des Reuters Institute waren soziale Medien bei den Wahlen in der Ukraine ein wesentliches politisches Instrument - und der erfahrene Entertainer Selenskyj wusste sie am besten zu nutzen.

"Heldenbegriff verführt zur Unterkomplexität"

Jetzt wird der Präsident nicht selten als Kriegsheld stilisiert. "Der Begriff des Helden sagt immer auch etwas über die Sehnsucht derjenigen aus, die diesen Begriff verwenden", so Tanjev Schultz. "Der Bedarf jetzt etwas Heldenhaftes zu sehen - in dieser Situation, in der man sich auch ohnmächtig fühlt - ist gegeben und wird durch solche Auftritte von Selenskyj bedient." Aus journalistischer Sicht sei das problematisch, denn der Heldenbegriff verführe oft zur Unterkomplexität. "Die Geschichte wird erst später erweisen, was die ukrainische Regierung alles getan oder nicht getan hat", so Schultz.