Sein erstes Werk "Die Blechtrommel" habe Günter Grass in Paris geschrieben, isoliert, mit ausreichend "Zeit zu denken", sagte Rafael Seligmann im Deutschlandfunk-Interview. "Wenn man sich dann in die Zeit einmischt, dann verliert man die Ruhe, die man zum Schreiben braucht." Dennoch bleibe Grass ein großer deutscher Schriftsteller, von dem man eine "unvoreingenommene, fantasiebegabte Art des Denkens" lernen könne, so Seligmann.
Grass habe allerdings auch eine erbarmungslose Art gehabt, mit anderen Menschen umzugehen - etwa mit dem SPD-Politiker Oskar Lafontaine oder dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. "Diese Unversöhnlichkeit, dass man Gegner nicht als Gegner, sondern als Feinde sieht, das hat mir teilweise wehgetan", sagte Seligmann. Auch über Grass' Gedicht "Was gesagt werden muss" gegen ein atomar aufgerüstetes Israel, das heftige Reaktionen auslöste, äußerte Seligmann sich kritisch: "Israel als Gefahr für den Weltfrieden darzustellen, war ungerecht und böse."
Das Interview in voller Länge:
Bettina Klein: Wir wollen über den politischen Menschen Grass sprechen, der sich immer wieder eingemischt und zu Wort gemeldet hat. Er unterstützte unter anderem die SPD, in Wahlkämpfen in den 60er- und 70er-Jahren vor allen Dingen, hat sich da klar positioniert. Am Telefon ist der Historiker und Schriftsteller Rafael Seligmann. Ich grüße Sie, Herr Seligmann.
Rafael Seligmann: Guten Morgen, Frau Klein.
Klein: Was war seine wichtigste Rolle, die wichtigste Rolle von Günter Grass für die alte Bundesrepublik und vielleicht auch darüber hinaus, auch gerade bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland?
Seligmann: Für mich ist Günter Grass vor allem ein hervorragender, ein außergewöhnlicher Schriftsteller gewesen, mit einer Sprachgewalt, mit einer Fantasie sondergleichen, mit einer Zeitreflektion, mit einer wirklich süffigen Sprache, mit einer schriftstellerischen Innovation. So wurde er bekannt. Die politische Einmischung, die kann jeder von uns ungefähr gleich gut oder gleich schlecht leisten. Aber bekannt wurde er dadurch. Und den Ruhm, den er als Schriftsteller errang, zurecht errang, und vor allem durch sein erstes entscheidendes Werk, durch die Blechtrommel, den hat er benutzt und das hat vielleicht auch sein schriftstellerisches Schaffen ein wenig beeinträchtigt in den weiteren Werken. Bei seinem ersten Werk, da saß er in Paris, sozusagen isoliert in einem Hinterhof in der Avenue d'Italie, und schrieb episch "dickarschig", wie er selbst sagte, und hatte Zeit zu Denken für dieses Werk. Und wenn man sich dann in die Zeit einmischt, dann verliert man die Ruhe, die man zum Schreiben braucht.
Klein: Was lernen wir denn von Grass heute noch? Welche Art des Denkens und vielleicht auch der Geschichtsbetrachtung?
Seligmann: Welche Art des Denkens? Jedenfalls eine teilweise unvoreingenommene, eine fantasiebegabte Art des Denkens und eine teilweise erbarmungslose Art, mit der Geschichte umzugehen. Ich weiß nicht, ob sich diese kalte Art auch auf sein eigenes Tun erstreckt hat.
Klein: Was meinen Sie mit "kalte Art"?
Seligmann: Ich will mal jetzt Jüdisches bei Seite lassen. Aber wenn er zum Beispiel über Oskar Lafontaine sagte, es gab in der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei keinen schmierigeren Verrat wie den Oskar Lafontaines an seinen Genossen, oder wie er mit Reich-Ranicki umging, diese Unversöhnlichkeit, dass man Gegner nicht als Gegner, sondern als Feinde angesehen hat, das hat mir teilweise wehgetan.
"Es fehlt an diesen außergewöhnlichen Persönlichkeiten"
Klein: Haben Sie eine Vorstellung, oder sehen Sie vergleichbare Schriftsteller dieser Art und dieses Gewichts, denen man auch eine solche Bedeutung beimisst für die Entwicklung eines ganzen Landes, einer ganzen Gesellschaft, durch die Literatur natürlich, aber auch durch ihre Denkprozesse und dadurch, wie sie sich auch öffentlich geäußert haben? Sehen Sie vergleichbare Gewichte in der heutigen Literaturszene zum Beispiel, in der Intellektuellenszene, oder ist es einfach nicht mehr die Zeit dafür?
Seligmann: Es ist einmal nicht die Zeit dafür und es fehlt an diesen außergewöhnlichen Persönlichkeiten. Im 20. Jahrhundert würde ich noch Thomas Mann ihm in Deutschland gleichstellen. Teilweise war er abgewogener, kühler überlegend. In Amerika gibt es einige. Aber im 20. Jahrhundert fällt mir vor allem Gorki ein, der auch unnachsichtig war, aber etwas Menschliches hatte, der immer wieder die Schwachen gefördert hat auch gegen Stalin, wobei er sein Leben riskiert hat. Für mich ist unter den politischen Schriftstellern, die nicht nur politisch waren, aber einen politischen Anspruch hatten, Gorki im 20. Jahrhundert wohl der größte.
Klein: Würden Sie heute sagen, dass es auch die Aufgabe eines Autoren, eines Schriftstellers auch im 21. Jahrhundert ist, sich auch politisch zu äußern, sich auch einzumischen? Ich frage das deswegen, weil Sie gerade so ein bisschen angedeutet haben, dass Sie den Eindruck haben, durch dieses starke Teilnehmen am Zeitgeschehen habe am Ende seine literarische Arbeit etwas gelitten, wenn ich das richtig verstanden habe.
Seligmann: Die leidet bei jedem Menschen darunter. Andererseits sind wir politische Menschen. Wer im 20. Und 21. Jahrhundert glaubt, sich zurückziehen zu können, der versäumt seine Aufgabe als Mensch, als Humanist, als Staatsbürger. Wir verlieren dadurch natürlich ein Stück unserer Ruhe, unserer Reflektionskraft, die man für einen Roman, vor allem für einen Roman, weniger für ein Sachbuch braucht.
Klein: Und braucht es dafür, sich zu äußern, die Schriftsteller? Ich meine, in diktatorischen Systemen, da fiel denen die Rolle zu, sich einzumischen auch als Publizisten und auch sich politisch zu äußern. Ist das noch notwendig in der Demokratie?
"Jeder muss sich einmischen"
Seligmann: Aber auf jeden Fall! Auf jeden Fall! Jeder muss sich einmischen, eben nicht nur Schriftsteller und nicht nur Journalisten. Jeder nach seinen Möglichkeiten. Das kann nicht jeder, das kann man nicht von jedem Schriftsteller fordern. In meinen Augen hat Grass das teilweise vorbildlich geleistet. Aber da, wo er aus Gegnerschaft Feindschaft machte, da hat er für mich eine Grenze überschritten. Anders als sein Idol Willy Brandt, der immer noch die Hand ausgestreckt hielt.
Klein: Herr Seligmann, ich würde gerne mal auf das jüngste Beispiel kommen, wo Günter Grass vor fast genau drei Jahren eine so kontroverse Debatte in Deutschland ausgelöst hat, wie man das gar nicht so oft erlebt, und zwar mit seinem Gedicht "Was gesagt werden muss". Und wir hören mal kurz in einen Ausschnitt rein, was er selber gelesen hat.
O-Ton Günter Grass: "Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden."
Klein: "Die Atommacht Israel gefährdet den Weltfrieden." Seine Kritiker haben ihm damals vorgeworfen, direkt oder indirekt, vielleicht nicht in diesem Satz, aber in anderen Vers-Teilen antisemitische Stereotype zu bedienen. Haben Sie das auch so empfunden?
Seligmann: Ich habe - ich habe es am gleichen Tag in der Süddeutschen gelesen, weil ich immer als neugieriger Journalist schon am gleichen Tag die Zeitung von morgen lese - das Gedicht gelesen, und mir war es, als ob mir jemand ins Gesicht schlägt. Nicht, dass Israel-Kritik nicht legitim wäre. Die ist legitim. Jedes Land muss sich Kritik gefallen lassen, Israel bestimmt auch. Aber wenn solche Phrasen benutzt werden wie Wiedergutmachung - ein Mensch, der so genau auf Sprache aufpasste und sie so begriff - was wurde wieder gutgemacht? Welcher Toter wurde wieder gutgemacht? Warum hat er sich unbedingt das Land Israel unter den Atommächten herausgenommen? Israel hat nie irgendein anderes Land atomar bedroht, nie und nimmer. Wieso das? Was kam da hoch? Da kam etwas hoch, das er offenbar als Jugendlicher in der NS-Erziehung, in der SS mitgekriegt hat.
"Israel als Gefahr für den Weltfrieden darzustellen, war ungerecht und böse"
Klein: Andere Politiker haben ihm ja recht gegeben und auch teilweise Künstler haben ihm recht gegeben und betont, dass er tatsächlich etwas ausspricht, was niemand so deutlich auszusprechen wagt, diese Kritik an der israelischen Regierung mit Rücksicht auf die deutsche Geschichte.
Seligmann: Entschuldigung! Wenn Sie heute eine Zeitung aufschlagen, in Deutschland, aber auch in Israel, haben Sie volle Kritik an der israelischen Regierung, an der Besatzungspolitik zurecht, an Netanjahu. Er tut ja so, als ob das gesagt werden müsste, weil es niemand gesagt hat. Natürlich ist das gesagt worden. Er sagte - ich habe mir an diesem Abend das Fernsehen angesehen: Ich komme ja nicht zu Wort. Er war in den wichtigsten Sendungen, in der Tagesschau, in "Heute", in den Abendnachrichten. Natürlich wurde er wahrgenommen. Mit Recht wurde er wahrgenommen. Aber dieses Einseitige, gegen Israel Stellung zu nehmen, Israel als die große Gefahr für den Weltfrieden darzustellen, das war einfach ungerecht und böse.
Klein: Abschließend kurz noch, Herr Seligmann. Hat das aus Ihrer Sicht die Glaubwürdigkeit von Günter Grass beeinträchtigt?
Seligmann: Nein. Jeder Mensch muss Fehler machen dürfen. Er war für mich ein großer Schriftsteller. Er hat ein Buch der Weltliteratur geschrieben, das ist manchen anderen auch so gegangen, und er hat sich dann in die Politik begeben, in die politische Auseinandersetzung, was legitim ist, und hat darüber seine Ruhe der Reflexion teilweise eingebüßt. Aber er bleibt ein großer deutscher Schriftsteller mit allen Brüchen, die unserem Land und unseren Menschen zu eigen sind.
Klein: Der Historiker und Publizist Rafael Seligmann über Günter Grass, der gestern im Alter von 87 Jahren verstorben ist. Herr Seligmann, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Seligmann: Ich danke Ihnen! Das war richtig spannend.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.