"Meine Haupterinnerung ist, dass wir in einem sehr großen, überfüllten Hörsaal saßen, und nun auf den Auftritt des berühmten Professor Adorno warteten. Ich selber, aber auch viele meiner Mitstudentinnen und Studenten, waren sehr erstaunt, denn uns trat nicht ein revolutionär gekleideter Intellektueller gegenüber, sondern ein bürgerlicher Herr mit Anzug und Strohhut - es war ja Sommer - der niemand irgendwie rein phänomenologisch auffiel. Dann begann das Seminar, bei dem zuerst das Protokoll verlesen wurde und dann ein Student einen Vortrag hielt. Es wurde ein großes Spektrum europäischer und amerikanischer Soziologen behandelt - von Condorcet bis Dahrendorf."
Erinnert sich Konrad Schacht, damals 24, heute 77, an seine Frankfurter Seminarzeit bei dem Sozialphilosophen Theodor W. Adorno. Nach seinem Studium schlug er eine Karriere als empirischer Sozialforscher ein, zuletzt in Wiesbaden in der Hessischen Staatskanzlei und im Ministerium für Kunst und Wissenschaft.
"Für mich war der Hauptertrag dieses Seminars, dass Adorno mein politisches und soziologisches Denken sehr stark sensibilisiert hat für Grundsatzfragen, zum Beispiel wies er immer wieder darauf hin, dass nicht alles Moderne auch fortschrittlich ist, sondern oft das Gegenteil. Aber das Bedeutendste für uns Studenten, aber auch anderer Hörer, es kamen ja auch viele Gäste in die Universität, um ihn zu hören, war seine Vortragskunst."
Theodor W. Adorno liest 1965 aus seinem Rundfunkessay "Was ist deutsch?":
"Was ist deutsch? Darauf vermag ich nicht unmittelbar zu antworten. Zuvor ist über die Frage selbst zu reflektieren. Belastet wird sie von jenen selbstgefälligen Definitionen, die als das spezifisch Deutsche unterstellen, nicht was es ist, sondern wie man es sich wünscht. Das Ideal muss zur Idealisierung herhalten. Bereits der puren Form nach frevelt die Frage an den unwiderruflichen Erfahrungen der letzten Dezennien."
Mit seiner radikal-kritischen Herangehensweise, aber auch mit seinem manierierten Vortragsstil sprengte er den konventionellen akademischen Rahmen.
Hochreflexiver Anspruch schon im Proseminar
Schon Studienanfänger wurden mit Adornos hochreflexivem Anspruch konfrontiert. Konrad Schacht liest aus seinem Sitzungsprotokoll, das er im Rahmen eines Proseminars über "Soziologische Zentralbegriffe" im Sommersemester 1967 verfasst hatte:
"Zu Beginn wurde bemerkt, dass wissenschaftliches Arbeiten sich nicht in der Klassifikation erschöpfen soll, sondern durch die Reflexion auf die Sache immer auch das Verbindende hinter dem bloß begrifflich Geschiedenen zum Vorschein bringen soll."
Als Adorno und Max Horkheimer aus dem US-amerikanischen Exil nach Frankfurt am Main zurückkehrten, avancierte das Institut für Sozialforschung alsbald zum Laboratorium der Kritischen Theorie. Heute forscht Dirk Braunstein dort. Er beschreibt, wie häufig Adornos Seminare in den späten 1960er Jahren derart überfüllt gewesen seien, dass ein ordentlicher Seminarbetrieb kaum mehr möglich schien.
"Adorno hat ganz offensichtlich den Zeitgeist getroffen. Das war für viele nicht nur junge Menschen, aber auch junge Menschen, für viele, die sich nicht in dieser neudeutschen Gemütlichkeit und Innerlichkeit behaglich fühlen wollten, unheimlich interessant, berührend oder, wie man heute sagen würde, anschlussfähig."
Das Sitzungsprotokoll als roter Faden des Seminars
Am Seminarbeginn nahm das Protokoll über die abgelaufene Sitzung eine wichtige didaktische Funktion ein. Denn Adorno sah den Sinn und Zweck eines Seminars als eine gemeinsame Aufgabe an, wollte er doch keine akademische Pflichtveranstaltung nach Plan abspulen. Das Sitzungsprotokoll habe sich gleichsam wie ein roter Faden durch das Seminar gezogen. Die Studierenden seien dadurch ernst genommen und in den Seminarablauf integriert worden, resümiert Dirk Braunstein, der sich der Mühe unterzog, alle verfügbaren Sitzungsprotokolle aus Adornos Frankfurter Jahren zwischen 1949 und 1969 zu sammeln:
"Ich habe mich dafür entschieden, alle Protokolle, die auffindbar waren in den einschlägigen Archiven, zu publizieren. Mir war von Anfang an klar, entweder ich mache alles oder nichts. Mir ging es darum, möglichst getreu abzubilden, was liegt eigentlich vor, was haben wir da vor uns. Mit der Kommentierung habe ich dann versucht, sowas wie den Kontext von damals wiederherzustellen."
Die Protokolle sind streng chronologisch und nicht thematisch gegliedert, 470 an der Zahl, verfasst von 330 Studierenden, darunter etwa ein Viertel Frauen. Einige der Protokollierenden haben sich gleich mehrfach der strengen Prüfung unterzogen, während für viele andere die Angst, sich zu blamieren, größer war als der Mut, vor dem Meister bestehen zu wollen. Dirk Braunstein: "Wenn sich niemand gemeldet hat - es gab ja auch Scheine damals für das Erstellen von Protokollen - hat Adorno bisweilen gesagt in etwas klagendem Ton: 'Sie können mich doch einfach hier doch nicht so stehen lassen. Wir brauchen doch jetzt jemanden, der protokolliert'".
Gerda-Henkel-Stiftung fördert das Frankfurter Forschungsprojekt
Die Gerda-Henkel-Stiftung in Düsseldorf fördert seit 1976 vornehmlich Themen der historischen Geisteswissenschaften. Sie fand sich bereit, das voluminöse Frankfurter Forschungsprojekt zu unterstützen. Sybille Wüstemann, Presseleiterin und selbst studierte Philosophin, erläutert das Interesse der Stiftung an der vierbändigen Ausgabe, die in diesem Frühjahr im Wissenschaftsverlag De Gruyter erscheinen wird:
"Ich finde es ganz wichtig, dass hier Quellen zugänglich gemacht werden, die vorher nur Experten kannten, aber auch nicht immer einsehen konnten. Das ist das Eine. Dass ein wichtiger Aspekt von Adornos Wirkung sichtbar wird und sich noch intensiver nachvollziehen lässt als in seinen Schriften - sein Wirken als Lehrer. Und dass bei der Lektüre der Seminare deutlich wird, von welchem Standpunkt aus, mit welcher historischen Erfahrung Adorno diese Seminare durchführt."
"Genealogie des kritischen Denkens Adornos"
Leiter des Forschungsprojekts "Sitzungsprotokolle" ist der langjährige Direktor des Institutes für Sozialforschung, Professor Axel Honneth. Er war zunächst skeptisch ob des gigantischen Aufwands, zweitausend Seiten Protokolle unterschiedslos zu erfassen, zu transkribieren und mit Anmerkungen zu versehen. Doch solche Zweifel sollten sich bei der Lektüre rasch verflüchtigen: "Die Protokolle haben durchweg eine sehr hohe Qualität und, was nun den Inhalt anbelangt, so ist man geradezu begeistert, wenn man sich mal ein wenig in die Lektüre begibt. Adorno geht auf die Studierenden immer schnell, unheimlich umsichtig ein, plaudert viel aus eigenen Erfahrungen heraus, verweist - und das macht die Lektüre besonders spannend - immer auch auf die Herkunftsorte und Entstehungsursachen seiner eigenen Konzepte und Gedanken. So dass man hier aufgeblättert findet so etwas wie die Genealogie des kritischen Denkens Adornos."
Erstaunlich dabei das enorme Spektrum der Themen, das Adorno nach seiner Rückkehr bis zu seinem plötzlichen Tod im August 1969 bewältigte. Von den philosophischen Klassikern Platon über Kant bis Nietzsche, soziologische Theorien von Max Weber, Emile Durkheim bis Ralf Dahrendorf, von gesellschafts-theoretischen Debatten über den Positivismusstreit oder den Stellenwert der empirischen Sozialforschung bis hin zur Klärung von Grundbegriffen und Ideen wie sozialer Fortschritt, öffentliche Meinung oder Pluralismus.
"Wie ein entfernter Mond über den Sitzreihen"
Eine der Protokollantinnen war die später mehrfach ausgezeichnete Theater- und Hörspielautorin Gisela von Wysocki. Sie studierte in den 1960er Jahren Philosophie in Frankfurt. In Ihrem 2016 erschienenen Roman "Wiesengrund", benannt nach Adornos jüdischem Familiennamen, hat sie sich dem Faszinosum zu nähern versucht und dabei zugleich das mitreißende intellektuelle Milieu jener bewegten Zeit unter die Lupe genommen. Adorno im Hörsaal - wie war das? Gisela von Wysocki liest aus ihrem Roman "Wiesengrund":
"Das Gesicht rund, weich, steht wie ein entfernter Mond über den Sitzreihen der Zuhörer. Ich entdecke, dass der Blick gerade jetzt wieder die Richtung geändert hat. Der Blick ist abgebogen, er schaut an den Zuhörern vorbei. Er ankert irgendwo in der Leere. Er hat sich losgemacht vom Auditorium, von unseren Köpfen, von den aufgeschlagenen Heften, den Schreibutensilien. Es sieht aus, als könnten die Gedanken den Blick nicht halten. Nicht in Zeit und Raum dieses Hörsaals. Der Blick sucht die Weite, ausgelagert, aus der Bahn geworfen, während der Mund druckreife Formulierungen in die Welt setzt: vergleichbar einem Gegenzauber, der auf die Wiederherstellung der Balance gerichtet ist."
Die Ausstrahlungskraft Adornos habe sie schon "ganz früh erwischt", bekennt Gisela von Wysocki, als sie in der "Dialektik der Aufklärung" im Kapitel über "Kulturindustrie" den funkenschlagenden Satz entdeckte: "Fun ist ein Stahlbad":
"Fun ist ein Stahlbad. Diese beiden Begriffe zu verbinden, einen Gedanken zu formulieren und gleichzeitig ein sensorisches Erleben dabei mit zu transportieren, das hatte eine ganz tiefe Bedeutung für mich. Und dann kam natürlich dieser rumorende Drive der Sprache bei Adorno dazu."
Adorno liest aus "Was ist deutsch?" aus dem Jahre 1965:
"Die Bildung nationaler Kollektive jedoch, üblich in dem abscheulichen Kriegsjargon, der von dem Russen, dem Amerikaner, sicherlich auch dem Deutschen redet, gehorcht einem verdinglichenden, zur Erfahrung nicht recht fähigen Bewusstsein. Sie hält sich innerhalb jener Stereotypen, die vom Denken gerade aufzulösen wären. Dagegen befördert die Stereotypenbildung den kollektiven Narzissmus. Nachdem jedoch unterm Nationalsozialismus die Ideologie vom Vorrang des Kollektivsubjekts auf Kosten von jeglichem Individuellen das äußerste Unheil anrichtete, ist in Deutschland doppelt Grund, vorm Rückfall in die Stereotypie der Selbstbeweihräucherung sich zu hüten."
Studierende haben Adorno politisch missverstanden
Tragisch, dass sich das bis dahin eher von Respekt, Bewunderung und Neugier geprägte Verhältnis der Studierenden zur charismatischen Figur Adorno mit der aufkommenden APO-Revolte Ende der 1960er Jahre bis hin zum Hass und zur Gewaltbereitschaft wandelte, die sich bei diversen Institutsbesetzungen oder Sprengungen von Vorlesungen und Seminaren manifestierte. Konrad Schacht stellt dazu klar:
"Er selber hat immer Wert darauf gelegt, dass er kein politischer Aktivist ist. Und das haben die Studenten völlig falsch verstanden und deshalb waren sie auch enttäuscht von ihm."
Gisela von Wysocki pflichtet dem bei: "Adorno hat sehr gelitten unter dieser Zurückweisung. Er hat selber immer versucht Kontakt aufzunehmen. Es war ihm ein Bedürfnis. Aber schließlich ist er immer bei seinen Assistentinnen gelandet, weil er einfach zu sehr das Phänomen Adorno verkörperte und nicht den Menschen, der jetzt einfach plaudern oder sprechen wollte oder Fragen stellen wollte."
Für die rebellierenden Studentinnen und Studenten war aber der radikale Anspruch in Adornos Seminaren, das Ganze der Welt im Blick zu behalten, ohne einen politischen Praxisbezug kaum mehr möglich. Axel Honneth:
"Dieser Zug aufs Ganze ist mit Sicherheit natürlich charakteristisch für das Denken Adornos. Es gibt ja kaum einen Satz bei Adorno, der nicht Gesellschaft und Geist gleichzeitig umfasst. Und die Studenten wurden in diesen Totalitätsanspruch des Denkens gewissermaßen einsozialisiert."
Philosophieren über das Ganze dieser Welt
Gisela von Wysocki will dagegen den Begriff der Totalität in Zusammenhängen mit Adorno nicht verwenden. Sie geht eher von der "Vielfalt und Polyphonie" seines Denkens aus:
"Die Vielfalt, die ihn dazu gebracht hat, sich zum Beispiel mit diesem großem Engagement auch dem Essay zuzuwenden. Dort hat ja seine Sprache sich auch in die Poesie hineinbewegt, dort nämlich, wo die Gedanken eben keine Totalität mehr bildeten, nicht mehr gefügt werden konnten."
Neben den renommierten Protokollantinnen Gisela von Wysocki oder der Soziologin Helge Pross wären auch die Germanisten Karl Markus Michel und Horst Albert Glaser, der Kunsthistoriker Peter Gorsen, Theaterintendant Ivan Nagel, der Politologe Kurt Lenk oder die beiden SDS-Rebellen Hans-Jürgen Krahl und Wolfgang Pohrt aus der Schar der mutigen Verfasser hervorzuheben. Projektleiter Axel Honneth resümiert:
"Wenn man diese Protokolle liest, wird es einem regelrecht schwindlig, angesichts des massiven Erklärungsanspruchs, den man sich wie selbstverständlich zumutet. Gleichzeitig blickt man auch vielleicht mit einem gewissen Neid auf Verhältnisse zurück, in denen man noch unbesonnener und befreiter von disziplinären Auflagen über das Ganze dieser Welt hat philosophieren können."