Ein Leben lang hat es mich begleitet, wie selbstverständlich war es da. Bis diese neuen Gelehrten kamen, auf die Nervenwindungen unter meiner Schädeldecke zeigten und sagten: Nichts ist mehr selbstverständlich. Wir müssen dein Geheimnis neu ergründen.
Selbstbewusstsein, Selbst, Subjektivität. Es gibt viele Namen, mit denen die alten Denker versucht haben, das Ich zu fassen. Ein Mann mit leicht ergrauten Haaren sitzt weit vornübergebeugt über einem Bogen Papier und schreibt diese Sätze.
Aber so viele Namen die Philosophen ihm auch gaben, so zerstritten waren sie auch: ist das Ich eine bloßer Gedanke, eine notwendige Voraussetzung unseres Daseins oder eine Substanz ganz eigener Art?
Jetzt dreht sich der Mann mit den leicht ergrauten Haaren von seinem Schreibtisch weg. Er blickt auf die mit Büchern vollgestopften Regale in seinem Zimmer. In dem milden Licht der Sonnenstrahlen, das auf sie fällt, sehen sie unwirklich aus. Der Mann beugt sich wieder über den Bogen Papier und schreibt weiter.
Mir war es trotzdem immer vertraut. Ich habe mich unwillkürlich darauf verlassen, dass ein Ich existiert. Ich weiß ja: Das hier ist mein Körper, meine Hand, das sind meine Sätze. Und auch wenn ich Probleme mit mir selbst habe, wenn ich qualvoll hin und her überlege, was ich denn eigentlich will und soll - eines lässt sich doch nicht leugnen: Es ist mein Ich, das diese Probleme hat, mein Ich, das sie durchdenkt, mein Ich, das sie lösen muss. "Ich sage "ich" zu mir, weil es etwas Unverrückbares in mir gibt, das ganz mir gehört. Ein unhintergehbares geistiges Zentrum, das mir das Gefühl verleiht, in dieser unbeständigen Welt eine Einheit zu sein. Aber ich bin eben ein altmodischer Mensch. Muss ich jetzt noch lernen, in ganz anderer Weise "Ich" zu mir zu sagen?
Neuer Lösungsweg für das Rätsel "Ich"
Gerhard Roth, Hirnforscher an der Universität Bremen, gehört zu den neuen Gelehrten, die das Rätsel des Ichs anders als bisher angehen wollen. Roth, der Philosophie studierte, bevor er sich der Neurowissenschaft widmete, möchte die spekulativen Theorien der Philosophen hinter sich lassen. Er möchte das Ich auf empirische Grundlagen stellen. Vor allem schüttelt er den Kopf, wenn er Menschen von "dem Ich" sprechen hört.
"Es gibt nicht das Ich-Zentrum: insofern ist es nicht 'das Ich'!"
Es gibt keine unzerstörbare Ich-Einheit. Der Gedanke einer geistigen Ich-Substanz in uns ist eine Illusion. Das belegen für Gerhard Roth eindeutig die nüchternen Erkenntnisse der Neurologie.
"Wir haben ein Wahrnehmungs-Ich, ein Gedächtnis-Ich, ein emotionales Ich und viele Unter-Iche und die können auch relativ unabhängig voneinander ausfallen. Man kann zum Beispiel das autobiographische Gedächtnis verlieren. Dann erlebe ich mich zwar als körperliche Einheit, aber ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Man kann das Wahrnehmungs-Ich zerstören, dann weiß ich nicht mehr, was das alles bedeutet, was ich sehe und höre, oder ich beziehe es nicht mehr auf mich. Daraus sieht man, dass das, was ich als Einheit erlebe, außerordentlich viele verschiedene Dimensionen hat, die auch relativ unabhängig voneinander gestört werden können. Und noch eines ist wichtig: das Gefühl, ich sei der Produzent meiner Handlungen ist natürlich eine Illusion. Der Produzent meiner Handlungen ist das Gehirn und ich selber bin ein Widerschein dieser Handlungen."
Entzaubertes Ich!
Der Mann mit den leicht ergrauten Haaren hat hinter diese beiden Wörter ein dickes Ausrufezeichen gesetzt. Dann ist er zum Bücherregal gegangen, hat einen Anatomieatlas herausgezogen und sich nachdenklich Bilder vom menschlichen Gehirn angeschaut: Hirnhäute, Hohlräume, Nervenstränge. Jetzt sitzt er wieder am Pult, ergreift den Stift und schreibt weiter:
Die Souveränität des Ichs - eine Schimäre. Seine Einheit - zersplittert in Einzelteile. Sein Wille - ein Produkt des Gehirns. Das Ich wird abhängig von den Launen der Nervenzellen. Wie ist ein solches neuronales Puzzle-Ich in der Lage, mich als Person zusammenhalten? Wie kann es mir das Gefühl verleihen, die Welt aus meinem ureigensten, individuellen Blickwinkel zu sehen?
Ein großer Behandlungssaal in der Schmerzabteilung des Krankenhauses Bergmannsheil, dem Klinikum der Ruhr-Universität Bochum. Durchs offene Fenster hört man Straßenverkehr und Vogelgezwitscher. Drinnen arbeiten Patienten daran, ihre Glieder nach Operationen wieder bewegungsfähig zu machen oder Schmerzen zu bekämpfen. An einem der kleinen Holztische sitzt Jochen D. Er hat bei einem Unfall seinen linken Arm verloren. Doch der macht sich trotzdem bemerkbar.
"Im Grunde genommen, dieser Phantomschmerz ist ja, wie der Name schon sagt: Es schmerzt etwas, was eigentlich nicht mehr da ist. Bei mir sind es der Mittel-, der Ring- und der kleine Finger und ein Teil der Elle, so, als ob sie da wären. Die Schmerzen haben verschiedene Qualitäten. Es gibt welche, die so brennend einschießend sind, dann wiederum solche, die dumpf sind, die sich auch wellenförmig bewegen, ja, dass man mal ein bisschen mehr hat und ein bisschen weniger, aber ein gewisser Grundschmerz ist eigentlich immer vorhanden und darauf setzen dann die Spitzen auf."
Gehirn betreibt Körpermodell
Schmerzen in einem Körperteil, das nicht mehr da ist. Bei Phantomschmerzen, so erklären die Mediziner dieses verrückte Phänomen, versucht das Gehirn, an einem vollständigen Bild des Körpers festzuhalten. Bei Jochen D. will das Gehirn die Vorstellung erzeugen: Ich registriere Signale aus der Handregion, also ist die Hand noch da. Es nutzt dazu die Erinnerung an die Schmerzen, die am Körperstumpf aufgetreten sind, als die Hand abgetrennt wurde. Im zentralen Nervensystem sitzt demnach ein neuronales Modell des vollständigen Körpers. Und das Gehirn nimmt Schmerzen in Kauf, um die Einheit dieses Körpermodells aufrecht zu erhalten. Der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger glaubt: Dieses neuronale Modell des Körpers spielt eine zentrale Rolle für unser Ich-Gefühl:
"Es gibt einen stabilen Teil der Körperselbstwahrnehmung, und der bildet, so vermute ich, den Kern des Selbst. Es gibt verschiedene Begriffe dafür. Es gibt heute Leute, die nennen das die "Phylo-Matrix des Körperschemas", also der Teil, der stammesgeschichtlich angeboren ist an unserem Körperbild, der begleitet uns. Und ich glaube, dass es dieses basale Leiberleben ist, das uns dieses Gefühl einer unverrückbaren Identität gibt."
Thomas Metzinger gehört zu den jüngeren Philosophen, die sich stark auf die Ergebnisse der Hirn- und Kognitionsforschung beziehen, um das Ich zeitgemäß zu verstehen. Er fasst den Menschen und sein Gehirn als ein informationsverarbeitendes System auf. Dieses erstellt ein Modell seiner selbst, ein so genanntes "Selbstmodell". Das Selbstmodell steht bei Metzinger für das traditionelle "Ich". Und das Fundament dieses Selbstmodells ist das Körperschema, denn es enthält die stabilste Repräsentation des Organismus, über die ein Mensch verfügt. Das Selbstmodell baut also auf dem Hirnmodell des ganzheitlichen Körpers auf. Aber es bleibt natürlich nicht dabei stehen.
Metzinger: "Dazu gehört auch ein Bild der eigenen Interessen. Bei uns Menschen wird so etwas in Form von Emotionen dargestellt, also das, was wir Gefühle nennen, sind Repräsentationen unserer Ziele und unserer Interessenlage. Dann gibt es eine wesentlich abstraktere Ebene: Ein Selbstmodell enthält auch Abbildungen der eigenen kognitiven Prozesse, das heißt der eigenen Versuche, im Geiste Probleme zu lösen, Probleme zu formulieren, neue Probleme zu entdecken. Wenn all die integriert sind, wenn die zu einer höherstufigen Struktur verbunden werden vom Gehirn, dann entsteht so etwas wie ein Modell des Systems selbst."
Abgrenzung zur Außenwelt
Neben diesem Selbstmodell besitzt der Mensch natürlich immer auch schon ein Modell der Wirklichkeit um sich herum, ein Bild davon, wie die Außenwelt aufgebaut ist, in der er sich bewegt. Thomas Metzingers Idee lautet: In Bezug auf diese Außenwelt nimmt das Selbstmodell eine besondere Position ein.
Metzinger: " Wenn dieses Modell eingebettet wird in ein schon aktives Wirklichkeitsmodell, dann verfügt so ein System ein erstes Mal über eine Ich-Welt-Grenze und über das, was ich ein zentriertes Wirklichkeitsmodell nenne, das heißt die Welt wird erlebt um einen Mittelpunkt herum und dieser Mittelpunkt bin ich selbst. "
Das Selbstmodell fasst also als Produkt des Gehirns, die körperlichen und geistigen Zustände des Organismus, seine Schmerzen, Bewegungen, Wünsche und Gedanken zusammen und grenzt sie von der Außenwelt ab. Wir nehmen dieses Hirnprodukt jedoch nicht als Produkt, sondern als eine eigenständige, reale Einheit wahr, eben als unser ureigenes Ich.
Metzinger: "Wir erkennen das komplexe Selbstmodell, das unser Gehirn permanent konstruiert, von Millisekunde zu Millisekunde sozusagen, nicht mehr als ein Modell. Und dadurch entsteht die Situation, dass aus einem Selbstmodell ein Selbst wird, aus einem Abbildungsvorgang ein echtes Selbsterleben, das unhintergehbar ist. Bei dem wir das Gefühl haben, wir sind sozusagen uns selbst unendlich nahe und in direktem Kontakt mit uns selbst. Sehr kurz und grob gesagt ist für mich Selbstbewusstsein und die Entstehung eines Ich-Gefühls ein Vorgang, der nur episodisch abläuft."
Die Vorstellung vom einheitlichen Ich kommt zustande, weil wir verkennen, dass die Inhalte des Ichs nur ein ständig vom Gehirn produziertes Modell unserer inneren Vorgänge sind. Sie ist also in Wirklichkeit nur ein neuronales Konstrukt oder eine Illusion. Dennoch ist diese Illusion wirksam - vor allem im sozialen Zusammenleben. Denn auch für die sozialen Bezüge, in denen das Selbstmodell, steht, findet Thomas Metzinger elementare Grundlagen in den Windungen des Gehirns. Zum Beispiel speichern diese nicht einfach nur isolierte Objekte wie eine Flasche. Vielmehr repräsentieren Neuronen im so genannten prämotorischen Cortex immer auch schon Interaktionserfahrungen mit einem Objekt: Wie kann ich eine Flasche greifen, öffnen, drehen, zum Mund führen und so weiter? Wir repräsentieren die Objekte der Welt, indem wir Beziehungen zwischen uns und ihnen im Gehirn darstellen.
Außerdem existieren so genannte Spiegelneuronen im Gehirn. Sie reflektieren innerlich eine bestimmte Handlung oder Empfindungen, die wir bei anderen Menschen beobachten. Wenn jemand anders etwa nach einer Flasche greift oder Schmerzen verspürt, wird dies im Gehirn des Beobachters mitsimuliert. In unserem Gehirn existiert demnach, so Thomas Metzinger, immer schon ein Pfeil, der uns in Beziehung zu anderen Objekten und anderen Menschen setzt. Das führt dazu, dass wir uns gegenseitig als Selbste, als intersubjektive Wesen anerkennen.
Metzinger: "In dem Sinne, dass wir nämlich auch in anderen Menschen erkennen können, dass es auch in ihrem Geist diesen Pfeil gibt, der vom Ich zum Objekt zeigt. Dass auch sie sich selbst in ihrem Geist darstellen als in einer Beziehung stehend zu einem Wahrnehmungsobjekt oder eben zu einem anderen Mitmenschen. Und dieser Baustein, der schon auf einer niedrigen Ebene angelegt ist im prämotorischen Cortex, so behaupte ich, der ermöglicht uns eben diese hochstufige Intersubjektivität auch. Ich kann mich nämlich erleben als ein Selbst, das auf ein anderes Selbst gerichtet ist, das es als ein rationales Individuum und nicht als irgendein Tier in der Umgebung anerkennt. Und gleichzeitig kann ich dieses andere Individuum repräsentieren als eines, das genau dasselbe mit mir jetzt tut."
Der Mann mit den leicht ergrauten Haaren hat lange am Fenster gestanden und hinausgeblickt. Es sah aus, als würde er dort draußen nach etwas suchen. Nun dreht er sich abrupt um und nimmt wieder den Stift zur Hand:
Phantastische Theorien bieten uns die neuen Gelehrten an. Einerseits ist das Ich keine Einheit, sondern ein Puzzle aus vielen Elementen. Anderseits hat es ein Zentrum: Es ist um einen überlebensfähigen Organismus und ein aktives Gehirn herum gebaut. Aber nur das Gehirn ist real, das das Gefühl erzeugt, ich sei ein einheitliches Ich. Die Vorstellung vom einheitlichen Ich selbst dagegen ist nur ein Konstrukt, eine Illusion. Dann wieder soll mein Selbstmodell im zwischenmenschlichen Leben äußerst wirksam sein und mit anderen Selbsten kommunizieren. Mein Ich ist verwirrt, sein Selbstbewusstsein schwindet.
Zerlegung des Ich
Thomas Metzinger hat versucht, die Ergebnisse der Hirnforschung in seine Theorie vom Selbstmodell zu integrieren. Er hat aber nicht selbst im Labor gearbeitet. Andere Philosophen, die auf Metzingers Thesen aufbauen, haben diesen Schritt gewagt. Zum Beispiel der Bochumer Philosoph Albert Newen. Gemeinsam mit dem Kölner Philosophen und Neuropsychiater Kai Vogeley untersucht er empirisch, wie das Ich im Gehirn realisiert ist.
Dazu haben beide das Ich in seine wesentlichen Elemente zerlegt.
Newen: "Wesentlich ist für Selbstbewusstsein: die Perspektivität unserer Erfahrungen; Agentschaft oder Urheberschaft als das Gefühl, der Urheber der eigenen Handlungen zu sein; und schließlich die Einheit der Erfahrung, dass meine Seh- und meine Hörerfahrung als Erfahrung von ein und derselben Sache zusammengefügt werden können. "
Das Ich ist ein System, ein Bündel verschiedener Eigenschaften und Leistungen. Wir müssen verstehen, wie jede einzelne dieser Leistungen im Gehirn funktioniert und wie sie zusammenspielen. Mit dieser Maxime widmeten sich Albert Newen und Kai Vogeley bisher vor allem der Perspektivität des Ichs: Gibt es spezielle Hirnareale dafür, dass ich die Welt von meiner Perspektive aus wahrnehme? Um diese Frage zu beantworten, baten die Forscher elf Versuchspersonen in einen Magnetresonanztomographen. Mit ihm wollten sie messen, welche Hirnregionen aktiv werden, wenn die Personen etwas perspektivisch wahrnehmen.
Die Versuchspersonen in der Magnetresonanzröhre haben einen kleinen Monitor vor sich. Auf ihm sehen sie einen Mann, der bunte Bälle in die Gegend wirft. Der Mann ist ein Avatar, eine künstliche Figur in einem virtuellen Raum. Die Versuchspersonen sollen sich nicht allzu sehr auf ihn konzentrieren. Sie sollen vielmehr zwei Fragen beantworten. "Wie viele Bälle sehen sie selbst?" und "Wie viele Bälle sieht er?" Zur Beantwortung der zweiten Frage müssen sich die Testpersonen in die Blickperspektive des virtuellen Ballwerfers hineinversetzen. Um festzustellen, wie viele Bälle Sie sehen, müssen sie ihre Ich-Perspektive aktivieren.
Dieses Experiment beschäftigte sich mit der räumlichen Perspektive. Ein weiteres Experiment untersuchte, was im Gehirn passiert, wenn verschiedene Perspektiven sprachlich eingenommen werden.
Diesmal wird den Versuchspersonen ein ganzer Text auf den Bildschirm projiziert: Er erzählt die Geschichte von einem Mann, der ein Geschäft ausgeraubt hat und zu fliehen versucht. Die Probanden haben fünfundzwanzig Sekunden lang Zeit, um Beschreibungen dieses Geschehens zu lesen. Einmal müssen sie sich dabei nur in die Perspektive des Räubers hineinversetzen, um sein Handeln zu verstehen und dementsprechende Fragen zu beantworten. Ein andermal wird die Geschichte so erzählt, dass die Versuchspersonen in der Geschichte selbst ein Rolle spielen und den Räuber zur Strecke bringen können: Sie müssen also ihre eigene Perspektive auf das Geschehen mit einbringen.
Zeigen solche Studien, dass wir nur eine lose Ansammlung unterschiedlicher Ichleistungen im Kopf haben? Oder existiert doch ein einheitliches Ich-System? Die bisherige Antwort von Albert Newen und Kai Vogeley auf diese Fragen sieht so aus: Es gibt durchaus Unterschiede in der Hirnaktivierung, wenn wir räumlich oder wenn wir sprachlich eine Ich-Perspektive einnehmen. Es gibt aber auch Hirnregionen, die in beiden Fällen aktiv sind. Und genau diese Regionen, so zeigte ein weiteres Experiment, werden auch tätig, wenn Versuchspersonen die Urheber einer Bewegung sind. Kai Vogeley schließt daraus: Es gibt einen Attraktor, ein zentrales Kristallisationsmuster für das Ich-Erleben im Gehirn.
Vogeley: "Man könnte vielleicht formulieren, dass es sich bei dem Ich-System um eine Art Attraktor handelt von Aktivierungsmustern, von dem aus dann bei verschiedenen Aufgaben gewisse Änderungen durchaus denkbar sind, aber trotzdem ein gewisser Kern von Aktivierungsverteilungen immer wieder vorgefunden werden kann."
Hirnforschung lokalisiert die Standorte des Ichs
Im Gehirn existiert ein Aktivierungssystem, das für Ichleistungen zuständig ist. Dieses System ist flexibel, es kann also spezielle Hirnregionen ein- oder ausschließen, je nachdem, ob jemand die Ich-Perspektive räumlich oder sprachlich einnimmt oder ob er als Urheber einer Handlung tätig wird. Es besitzt aber auch einen stabilen Kern aus mehren Regionen.
Vogeley: "Und dazu gehören im wesentlichen Bereiche, die im Bereich der Mittellinie des Gehirns aufgereiht sind, also vorderer Stirnlappen, dann aber auch andere, so genannte mediale cortikale Gebiete und die Gebiete im Übergangsbereich im Schläfen- und Scheitellappen."
Ähnliches haben auch andere internationale Forschergruppen herausbekommen. Der vordere Stirnlappen zum Beispiel wird auch dann aktiv, wenn wir unser eigenes Gesicht erkennen oder wenn wir kontrollieren, was wir selbst gerade denken. Besonders interessant ist jedoch der Übergangsbereich zwischen dem Schläfenhirn und dem Scheitelhirn hinter dem rechten Ohr. Denn er deutet auf eine enge Verbindung zwischen dem Ich und dem Körper hin, die bereits Thomas Metzinger hervorgehoben hat.
Vogeley: "Es scheint so zu sein, dass hier in der Tat so etwas wie ein internes oder ein neuronales Körperschema abgelegt ist im Gehirn und alle Informationen, die in Bezug auf die eigene Körperachse oder in Relation zum eigenen Körper berechnet werden, müssen immer genau diese Hirnregion mit einbeziehen."
Das wird deutlich bei Krankheiten, die das Gesichtsfeld betreffen, also den Raum, den man mit einem Auge wahrnimmt, ohne es zu bewegen. Was das Auge sieht hängt nicht nur davon ab, was die Sehzellen aufnehmen, sondern auch davon, wie die für das Körperschema zuständige Hirnregion mit der Sehinformation umgeht.
Newen: Wenn diese Hirnregion zerstört ist, können solche Fälle auftreten, die man "visuelle Agnosie" nennt, das heißt zum Beispiel, das Gesichtsfeld ist nicht mehr so groß wie üblich, sondern stellen sie sich vor: sie haben nur ein halbes Gesichtsfeld zur Verfügung und das Zentrum ihres Gesichtsfeldes ist dann einfach entsprechend in die Mitte des halb übriggebliebenen Gesichtsfeldes verlagert.
Patienten, bei denen das Gebiet zwischen Schläfen- und Scheitelhirn gestört ist, nehmen nur noch die Hälfte der Umwelt oder ihres eigenen Körpers wahr. Sie bestreiten das aber hartnäckig und glauben weiterhin, der Mittelpunkt der ganzen Welt um sie herum zu sein. Das zeigt, welche wichtige Ankerfunktion der Körper für das Ich-Gefühl hat. Experimente belegen: Diese Hirnregion wird auch dann aktiv, wenn wir Wörter wie "ich" oder "mein" benutzen.
Der Mann hat lange Zeit still da gesessen. Sein Kopf war auf die Hände gestützt, sein Blick ging konzentriert nach innen. Jetzt leuchten seine Augen, er wirkt entspannt. Mit leichter Hand nimmt er den Stift und schreibt neue Sätze aufs Papier.
Die uralte Frage der Philosophen: Gibt es etwas am Ich, das bereits existiert, bevor der Mensch über sich selbst nachdenkt und sich von anderen Menschen abgrenzt - eine ursprüngliche Vertrautheit mit sich selbst, ein elementares Selbstgefühl? Vielleicht haben die Hirnforscher tatsächlich einen Beleg für ein solches ursprüngliches Ich gefunden: Ich bin ein leibhaftiges Zentralgestirn. Ich nehme die Welt immer aus der Mitte meines Körpers wahr und kann aus dieser Perspektive nur schwer heraus. Aber was ist dann mit mir und dem Anderen? Welche Lösung hat das Gehirn für die Beziehungsfragen meines Ichs?
Die dritte Hirnregion, die eine zentrale Rolle beim Ich-System spielt, besitzt eine merkwürdige Eigenschaft. Der mediale präfrontale Cortex ist sowohl aktiv, wenn wir uns in uns selbst hineinversetzen, als auch, wenn wir das bei einer anderen Person tun. Er liegt in der Mitte hinter der Stirn.
Vogeley: "Daraus muss man zunächst mal die Schlussfolgerung ziehen, dass es interessanterweise offensichtlich doch einen Zusammenhang gibt zwischen dem Ich-Bewusstsein und dem, was man ein soziales Bewusstsein nennen könnte, nämlich die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Und diese enge Verknüpfung wird natürlich intuitiv auch schnell einleuchten, wenn man sich überlegt, dass man sich selbst natürlich am besten verstehen und abgrenzen kann, wenn man sich sozusagen durch den anderen spiegeln lässt."
Komplexe Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen
Wir entwickeln ein Bild unserer selbst, indem wir aus dem Verhalten anderer Menschen ablesen, was sie über uns denken. Umgekehrt nutzen wir unsere Ich-Perspektive, wenn wir uns in einen anderen Menschen hineindenken. Allerdings beruht das Hineinversetzen in die Perspektive einer anderen Person nicht auf einer reinen Simulation der Ich-Perspektive. Denn zwar ist in beiden Fällen der mediale präfrontale Cortex tätig, aber darüber hinaus gibt es auch Unterschiede in der Aktivierung der Ich-Perspektive und der Perspektive der anderen Person. Die neuronale Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderem, so Kai Vogeley, ist äußerst kompliziert.
Vogeley: "Ich bin in der Tat im Moment davon überzeugt, dass diese beiden Systeme sehr eng miteinander zusammenhängen, dass also die Fähigkeit, die Welt aus der eigenen Perspektive anzuschauen, sehr eng verbunden ist mit der Fähigkeit, die Welt aus der Perspektive eines anderen wahrzunehmen und gewissermaßen zu simulieren. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist aber, dass wir ständig auch immer in der Lage sein müssen, so etwas zu betreiben wie Selbst-Fremd-Differenzierung. Und dazwischen, so ist meine augenblickliche Vorstellung, gibt es am ehesten sozusagen Oszillationen. Also das wird so ein System sein, was wahrscheinlich auf einem Kontinuum die verschiedenen Zustände aufreiht. Also es gibt nicht entweder Ich oder Er oder Sie, sondern es gibt offensichtlich eine Mischung, also graduelle Übergänge, wo auf der einen Seite dann dieser klare Ich-Bezug und auf der anderen Seite der klare soziale Bezug steht."
Manchmal bin ich mir selbst ganz nah - manchmal nähere ich mich dir. Manchmal bin ich ganz in mich versunken, denke über mich nach, will meine eigene Position markieren - manchmal versuche ich, vor allem dich zu begreifen, die Welt aus deinen Augen zu sehen. Und manchmal versuche ich deine und meine Welt innerlich miteinander in Einklang zu bringen. Wenn die neuen Gelehrten mit Hilfe des Gehirns besser verstehen, wie das alles funktioniert, dann soll es mir Recht sein.
Nachdem er das geschrieben hat, legt der Mann mit den leicht ergrauten Haaren den Stift zur Seite. Er steht auf, verschränkt die Hände hinter dem Rücken und läuft im Zimmer herum. Nachdem er einige Kreise gezogen hat, bleibt er stehen, schüttelt den Kopf und nimmt ein letztes Mal den Stift zur Hand.
Was ich begriffen habe: Das Ich ist kein feste Bastion in mir, sondern eine vielgliedrige und verletzbare Gestalt. Es ist nichts, was ich habe, sondern etwas, das ständig neu produziert wird. Doch etwas entzieht sich mir noch: Wenn dieses Produkt meines Gehirns mir trotzdem das Erleben verschafft, ein einheitliches Ich zu sein - warum ist das nur eine Illusion?
Vogeley: "Das Ich ist wahrscheinlich eine Illusion im Hinblick auf eine Vorstellung von Ich, in der wir eine Substanz vom Ich uns vorstellen würden, weil wir nicht wissen können, welche Art von Substanz das wirklich sein soll. Auf der anderen Seite zeigen natürlich unsere hirnphysiologischen Untersuchungen, dass es in der Tat ein ganz bestimmtes Muster von Aktivierungen gibt, die das, was wir als Ich-Bewusstsein bezeichnen wollen, konstituieren. Und in diesem Sinne würde man immer weniger davon sprechen können, dass das Ich wirklich eine Illusion sei, sondern man muss sagen, das es offensichtlich mehr und mehr gut definierbare und immer besser verstehbare Prozesse gibt, die unsere Ichleistungen leisten können."
Für Kai Vogeley ist das Ich real, weil ein normal funktionierendes Gehirn für das menschliche Leben eben notwendige Ichleistungen vollbringt: Es unterscheidet zwischen uns selbst und der Außenwelt und bringt uns dazu, die Welt aus der zentralen Perspektive unserer selbst wahrzunehmen. Es erzeugt das Gefühl, dass wir der Urheber unsere Handlungen sind, und macht uns damit zu verantwortlichen Wesen. Die Hirnareale des autobiographischen Gedächtnisses sorgen außerdem dafür, dass wir uns im Verlauf unserer Lebensgeschichte an uns erinnern und so als eine einheitliche Person in der Zeit verstehen. Die verschiedenen Ichleistungen werden also zu einem einheitlichen Ich-Empfinden integriert.
Was ist mit dem Ich im kranken Gehirn?
Inwieweit gilt das aber noch für ein krankes Gehirn? Was geschieht zum Beispiel bei einem schizophrenen Patienten, der Halluzinationen hat. Er hört innere Stimmen, die objektiv in seinem Gehirn erzeugt werden und bezieht sie auf sich selbst. Subjektiv hält er sie jedoch für fremde Stimmen, die nicht von ihm selber kommen. Das bedeutet, dass der Patient sich zwar noch als perspektivisches Zentrum seiner Welt wahrnimmt, aber mit einem frappanten Widerspruch zu kämpfen hat: er kann sein Ich nicht mehr als Urheber von etwas identifizieren, was von seiner Innenwelt erzeugt wird. Zeigt sich darin nicht doch der zerbrechliche Illusionscharakter des Ichs?
Vogeley: "Gerade in diesen Ausfallsituationen wird sehr deutlich, dass eine Störung dieses Selbstbewusstseins genau durch diese Elemente herbeigeführt werden kann, was aber den grundsätzlichen Gedanken natürlich gar nicht schwächt. Sondern was ihn eher unterstreicht, nämlich den Gedanken, dass Selbstbewusstsein aus verschiedenen kognitiven Leistungen besteht und diese Leistungen müssen zusammenkommen, um das zu konstituieren, was wir als Selbstbewusstsein bezeichnen. Wenn diese Leistungen gestört sind, gibt es entsprechende Störungen, die dann womöglich zu psychopathologischen Symptomen führen können."
Wenn ein funktionierendes Gehirn die verschiedenen Ichleistungen in koordinierter Weise aktiviert, erlebt sich der Mensch als ein einheitliches Ich. Sagt also jemand "Ich" zu sich, dann bezieht er sich nicht auf eine Fiktion oder Illusion, sagt Albert Newen. Vielmehr bezieht er sich auf sich als ein reales biologisches Wesen, dessen Gehirn ihm besondere geistige Fähigkeiten verleiht. Dazu gehört, dass er über das, was in ihm geschieht, reflektiert und daraus Schlüsse zieht.
Newen: "Der Mensch ist ein Lebewesen, das Selbstbewusstsein genießt. Dieses Selbstbewusstsein manifestiert sich so, dass wir ein Selbstbild aufbauen, das seinerseits dadurch realisiert ist, dass das Gehirn bestimmte Zustände einnimmt. Aber dieses Selbstreflektieren ist keine Fiktion, sondern unsere Selbstreflexionen sind kausal wirksam, indem sie - als durch neuronale Zustände realisiert - unsere Entscheidungen im Alltag mitgestalten. Nur wenn wir den Menschen bezüglich seiner Planungen verstehen, die eben in sein Selbstbild eingebaut sind, können wir ihn in seinem wesentliche Zug verstehen."
"Möglicherweise eine der hartnäckigsten Realitäten"
Albert Newen meint, dass es weiterhin sinnvoll ist, von einem Selbst oder einem Ich zu sprechen. Denn dieses Ich schließt ein Bild unserer eigenen Zustände, Wünsche und Zukunftspläne ein. Das vom Gehirn produzierte Ich-System hilft dem Menschen dabei, ein zusammenfassendes Modell seiner selbst zu entwerfen. Aber dieses Modell bleibt eben kein bloßes Modell, eine reine Abbildung, sondern es wird zu einer aktiven geistigen Kraft, die das zukünftige Handeln mitgestaltet.
Möglicherweise, so legen neuere Forschungsergebnis nahe, ist die Fähigkeit zum ichhaften Selbstbezug sogar eine der hartnäckigsten Realitäten in der Tiefe unseres Gehirns.
Wenn das Gehirn von Versuchspersonen in Magnetresonanztomographen oder anderen bildgebenden Apparaten untersucht wird, müssen die Probanden normalerweise eine bestimmte Aufgabe ausführen. Aber nicht permanent. Manchmal warten sie nur still auf die nächste Anweisung des Experimentators oder auf den Beginn des Versuchs. Die Wissenschaftler sprechen dann vom "Ruhezustand des Gehirns". Wenn die bildgebenden Apparate diesen Ruhezustand messen, zeigt sich etwas Verblüffendes: Bestimmte Regionen des Gehirns sind dann erstaunlich aktiv - es sind Regionen, die mit dem Ichbezug zu tun haben.
Vogeley: "Daraus nun könnte man natürlich die sehr interessante und natürlich auch spekulative Hypothese ableiten, dass wir uns immer schon gerade in den Ruhezuständen gewissermaßen in einer Disposition dazu befinden, einen Ichzustand einzunehmen, was auch mit unserer Intuition wiederum gut übereinstimmen würde. Wenn ich von außen keine besonderen Anforderungen bekommen, begebe ich mich in einen Zustand, den ich selber bestimme, in einen Ich-Zustand, und interessanterweise gibt es dafür auch ein neuronales Korrelat."
Der Stift liegt quer auf dem Bogen Papier. Der Mann mit den leicht angegrauten Haaren hat aufgehört zu schreiben. Er steht, die Bücherregale in seinem Rücken, vor dem Fenster. Draußen ist es dunkel geworden. Der Mann schaut hinaus. Zufrieden sieht er aus. Er schließt seine Augen und ruht in sich.