Nachts im Geisterdorf - still ist es in Immerath. In den leeren Straßen klingt sogar der Regen lauter als gewöhnlich. Auch das Auto des privaten Wachschutz-Unternehmens hört man schon von weitem. Zwei Mitarbeiter patrouillieren hier Nacht für Nacht und passen auf, dass kein Fremder in verlassene Häuser einsteigt. Außer den Laternen gibt es wenig Licht, hinter den Scheiben von vier, fünf Häusern ist es hell. Denn von den ehemals rund 1500 Bewohnern sind die meisten weggezogen aus dem alten Immerath. Manche wohnen jetzt ein paar Kilometer weiter, in Immerath - in Klammern: neu. Das alte Dorf, ein verlassener Fleck.
Zu den wenigen, die noch da sind, gehört die Familie Portz. Auf ihrem Hof leben drei Generationen: Großeltern, Eltern, Kinder - die einzigen im Dorf. Hinter der Scheune grasen Pferde und Hühner picken in der Erde. Eine kleine, heile Welt. So ist Verena Portz, 38 und Tierärztin, aufgewachsen.
"Also eigentlich haben wir unser Leben ganz normal immer so gelebt, wie es auch anders gewesen wäre, denke ich. Da kann ich mich gar nicht dran erinnern, dass wir da großartig uns immer den Kopf darüber zerbrochen haben, dass es so kommen wird. Was es sicherlich beeinflusst hat in den letzten Jahren so Sachen wie Erneuerungen und Renovierungen, dass man sich das gut überlegt, ob man das machen möchte - wenngleich es ja auch natürlich bezahlt wird. Aber da hat man einfach so wenig Lust zu, weil man weiß: Es fällt ja eh dem Bagger anheim."
Kein Recht auf Heimat
Denn auch Familie Portz muss umsiedeln. Seit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Dezember ist klar: Ein Recht auf Heimat gibt es nicht für die Menschen im Braunkohlerevier. 2017 kommen in Immerath die Bagger, Inanspruchnahme heißt das offiziell. Nicht mehr viel Zeit also. Und so merkt man auch beim Spaziergang tagsüber, dass Immerath ohnehin nicht mehr die Heimat ist, die es mal war:
"Hier hallt es voll, ne?!"
Auch die Kirche St. Lambertus, genannt: der Dom von Immerath, ruft bei Verena Portz viele Erinnerungen wach ...
"Wir sind hier alle getauft worden, zur Kinderkommunion gegangen. Meine Schwester hat darin geheiratet - alle solche Feiern. Und dann war es von heute auf morgen Schluss mit der Kirche."
Denn im Oktober 2013 wurde die Kirche entweiht. Einen Tag vorher hat Verena Portz noch ihre jüngste Tochter hier taufen lassen. Wenig später wurden die Glocken im Turm abmontiert.
"Die hat jetzt ein großes Loch. Das können Sie mal sehen hier vorne. Da sind die Glocken rausgeholt worden. Unschön, sowas."
Die älteste Kirche im Erkelenzer Land steht in Keyenberg, etwa fünf Kilometer nördlich vom alten Immerath. Auch dieses Dorf wird umgesiedelt, als eines der letzten. 2023 soll es weggebaggert werden.
Schon 2016 beginnt hier in Keyenberg die Umsiedlung.
"Ich vergleiche das immer mit einem Zug, der hält. Wenn an einer bestimmten Stelle der Haltevorgang begonnen wird, dauert das bestimmt 300 Meter bis er zum Stehen kommt. Und in dieser Strecke befinden wir uns. Für uns kommt das zu spät, dass Braunkohle keine Zukunft mehr hat."
Hans Willi Peters ist Mitglied im Bürgerbeirat, das offizielle Gremium, in dem die Interessen der Umsiedler gebündelt und vertreten werden. Nicht immer ein einfacher Job:
"Die Lage ist gespannt unangenehm. Feindselig manchmal auch."
Auch Peters' Beirats-Kollegin Agnes Maibaum ist zum Kaffee vorbeigekommen. Auch wenn beide froh sind, jetzt Planungssicherheit zu haben: Das Abbauunternehmen RWE hat im vergangenen Jahr Milliarden Verluste gemacht. So fragt sich Agnes Maibaum:
"Wenn das Unternehmen während der Umsiedlungsphase insolvent wird oder was auch immer geschehen mag. Was passiert dann mit uns? Warum kann die Landesregierung von uns das Opfer erwarten, dass wir dem Allgemeinwohl bereit sind auch zu bringen, aber auf der anderen Seite uns nicht den Rücken zu stärken und uns da irgendwo sicher zu stellen: Es geht wirklich bis zum Ende weiter?"
Holzweiler wird verschont
Rund vier Kilometer südlich von Keyenberg liegt Holzweiler. Das ist eines der Dörfer, das nun doch bestehen bleibt, nachdem die Landesregierung beschlossen hat, Garzweiler II zu verkleinen. Die Menschen hier sind erleichtert, dass ihr Dorf bleibt, so sehen es die meisten Besucher eines kleinen Basar-Martkes:
"Ich mein, wir haben seit 20 Jahren das immer im Rücken. Wir sind so glücklich, dass wir hier bleiben können!"
Eine Insel der Glückseligen ist Holzweiler deswegen trotzdem nicht. Denn die Nachbardörfer werden verschwinden, die Grube für den Braunkohlabbau könnte ganz nah ans Dorf heranrücken. Und diese Grube soll später, nach dem Tagebau, mit Wasser aus dem Rhein gefüllt werden. Dann fühlen sich die Holzweiler Bürger vielleicht wie Insulaner, wenn sie im Jahr 2085 am Rand eines 23 Quadratkilometer großen Sees leben, in dem auch Immerath verschwunden sein wird.
Sechs Reporter sind in dieser Woche fürs Deutschlandradio unterwegs und fragen: Wem gehört Deutschland? - Ihre Berichte können Sie vom 28. April bis zum 3. Mai jeweils um 8:40 Uhr in der "Ortszeit" bei Deutschlandradio Kultur und um 14.10 Uhr bei "Deutschland heute" im Deutschlandfunk hören.
Weitere Informationen zur Reportagereise finden Sie im Blog Wem gehört Deutschland?
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