Vom Minarett der Großen Moschee in Touba hallt der Gebetsruf über die heilige Stadt. Es ist Freitag, zwei Tage vor dem Grand Magal, einem großen Pilgerfest zu Ehren von Cheikh Amadou Bamba, dem Gründer der islamischen Bruderschaft der Mouridiya. Schon seit Tagen ist die Stadt im Ausnahmezustand: Mit mehreren Millionen Besuchern ist der Grand Magal im Senegal eines der größten Pilgerereignisse der Welt. Stündlich wächst die Menschenmenge, versinkt die Stadt zunehmend im eigenen Müll, in aufgewirbeltem Staub und den Abgasen der Autos. Von Spiritualität ist nichts zu spüren. Stattdessen: Lärm, Geschubse und Kommerz.
Mit der ursprünglichen Idee des Ordensgründers hat das nur wenig zu tun. Stille, Arbeit in der Natur, Kontemplation. Wer verstehen will, was wirklich hinter dem spirituellen Weg dieses Sufi-Ordens steckt, muss raus aus Touba, dem Zentrum der Mouridiya, muss raus aufs Land.
"Wir wollen die alten Unterweisungen wieder aufleben lassen"
In Mbacke Kadior, einem Ort so klein, abgeschieden und selbstgenügsam, dass er auf den einschlägigen Internet-Karten nicht zu finden ist, versuchen einige Mouriden zurück zu den Wurzeln der Bewegung zu finden. Sukhna Aicha Cissé, die die Bewegung gemeinsam mit ihrem Mann vor 35 Jahren gegründet hat, sitzt neben einem der Brunnen auf dem Hof unter einem strohgedeckten Dach. Vögel zwitschern in den Baobab-Bäumen und Bougainville-Büschen, die rund um kleine Gemüsebeete wuchern.
"Wir wollen die alten Unterweisungen von Cheikh Amadou Bamba und seinen Schülern wieder aufleben lassen. Im Zentrum ihres Denkens stand das Mysterium der Arbeit – die heilige Dimension der Arbeit im Dienst der Gesellschaft."
Vom Freiheitskämpfer zum Machtinstrument
Gerne wird Cheikh Amadou Bamba von seinen Anhängern zum anti-kolonialen Freiheitskämpfer stilisiert und wahr ist, dass die Franzosen ihn für sieben Jahre nach Gabun verbannten und später erneut ins Exil zwangen - diesmal in Mauretanien. Um seine Wunderkräfte im Kampf gegen die Franzosen ranken sich fantastische Geschichten: Auf dem Weg in die Verbannung habe er seine Ketten gesprengt und seinen Gebetsteppich auf dem offenen Ozean ausgebreitet, so die Überlieferung.
Doch schon bald erkannten die Franzosen, dass der Cheikh zwar mächtig, aber friedlich war - und sie änderten ihre Strategie. Denn ihr bisheriger Kurs hatte den Rückhalt des Gelehrten in der Bevölkerung immer weiter gesteigert, jetzt wollten die Kolonialherren auf Kooperation setzen. Und seine Lehre von Arbeit und Fleiß passte den Franzosen ganz gut. So wurden die Mouriden mit Unterstützung der Franzosen bald zu einer der wichtigsten ökonomischen Kräfte im Land. Schon bald waren sie die neuen Herren beim Anbau von Export-Erdnüssen für den europäischen Markt. Der Journalist Abubakar Demba Cissokho sagt, darüber spreche man hier zwar nicht gerne. Es gehöre aber zur Wahrheit dazu:
"Und an der Beziehung zwischen den Mächtigen und der Bruderschaft hat sich seit der Kolonialzeit nichts geändert."
"Und an der Beziehung zwischen den Mächtigen und der Bruderschaft hat sich seit der Kolonialzeit nichts geändert."
Tatsächlich sind die Mouriden so zu einer treibenden Kraft der senegalesischen Wirtschaft geworden. Kaum ein Geschäftsfeld, wo die Mouriden nicht entscheidend mitspielen. Zwar stellen sie nur rund 40 Prozent der etwa 15 Millionen Einwohner Senegals, aber ihr Einfluss in Politik, Kultur und Wirtschaft ist enorm. Es ist nur ein einziges Foto von Cheikh Amadou Bamba überliefert – aber das ist dafür überall zu sehen. Es zeigt ihn in weißem Gewand, einen Schal ums Gesicht geschlagen. Auf Hauswänden, Bussen und über Geschäften findet sich das ikonische Porträt. Gegen die Sufi-Bruderschaft lässt sich im Senegal fast nichts bewegen. Das gilt selbst für Präsidenten.
"Ich habe mein Haus geöffnet"
Zurück in Touba ist das Gedränge inzwischen noch dichter geworden. Auf den Straßen, die sternförmig auf die große Moschee im Zentrum der Stadt zuführen, herrscht totales Chaos. Die Pferdekarren, die hier als Transportmittel dienen, müssen sich Zentimeter um Zentimeter vorwärts schieben. Wie schafft es eine Stadt mit ein paar hunderttausend Einwohnern, jedes Jahr für einige Tage mehrere Millionen Pilger aufzunehmen?
"Ich habe mein Haus geöffnet und alles vorbereitet. Ich habe Rinder und Schafe gekauft – die Pilger sollen alles haben, was das Herz begehrt."
Abdulkhadir Kabir ist einer der Urenkel von Cheikh Amadou Bamba. Wie alle Nachfahren des Ordensgründers gilt auch er als Marabout, als spiritueller Lehrer. Mit den Hexern und Wunderheilern, die in anderen Teilen Afrikas den gleichen Titel tragen, haben die Marabouts in Touba allerdings nichts zu tun. Die meisten geben einfach nur ihr Wissen über den Koran und die spirituellen Gedichte von Cheikh Amadou Bamba weiter. Insgesamt gibt es in Touba hunderte, wenn nicht tausende solcher Marabouts, Männer wie Frauen, und sie alle öffnen ihre Häuser und Höfe während des Grand Magals für Pilger. So kommt es, dass es trotz des Besucheransturms kein einziges Hotel in der Stadt gibt.
"Es ist eine Ehre, hier zu sein"
Der Sonntag, der eigentliche Feiertag beginnt früh.
"Wir stehen früh am Morgen auf, bereiten die erste Mahlzeit zu, und schlachten dann die Kühe und Schafe und fangen an, das Essen für den Tag zu kochen. Zur Feier des Tages essen wir in der Nacht nichts als Fleisch und frittierte Kartoffeln."
Für viele Mouriden ist es der Höhepunkt des Jahres. Auch die 25-jährige Sukhna hat den ganzen Vormittag über gekocht. Sie sagt:
"Es ist wirklich eine Ehre, hier zu sein. Für einen Mouriden ist das ein ganz besonderer Tag."
Den ganzen Sonntag über drängeln sich Menschen durch die Moschee - eine feste Zeit gibt es nicht, der Ansturm wäre nicht zu bewältigen. Die meisten schaffen es gerade, ein paar Münzen über die Absperrung zum Schrein von Gründer Cheikh Amadou Bamba zu werfen, bevor sie wieder aus der Moschee geschoben werden.
Gegen Abend beginnt dann der eigentlich Höhepunkt des Festes: Über der ganzen Stadt hängt eine Rauchwolke, es riecht nach gegrilltem Fleisch, Zwiebeln und Knoblauch. Während die Dunkelheit sich schnell über die Stadt senkt, setzt man sich rund um die Lagerfeuer, die plötzlich in jedem Hof auflodern und beginnt zu essen. Es ist der Moment, auf den alle gewartet haben. Erst gibt es Nudeln mit Kamelfleisch, dann Pommes mit Rind, dann Rind mit noch mehr Rind und etwas geschmorten Zwiebeln. So wird immer weiter gegessen. Bis im späten Morgengrauen dann alle vor Müdigkeit rund um die Feuer eingeschlafen sind.