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Senioren in Großbritannien
Alleingelassen auf dem Land

Kein Laden, kein Postamt, kein Café: Auf dem Land haben Bewohner kaum Möglichkeiten, auf andere Menschen zu treffen. Vor allem ältere Bewohner leiden darunter. Der von Freiwilligen betriebene Rural Coffee Caravan soll das ändern.

Von Marten Hahn und Natalie Klinger |
Eine Frau sitzt am Strand von Aldeburgh in Großbritannien auf einem Klappstuhl und genießt die Sonne, aufgenommen im Juli 2005.
Die Landbevölkerung in Großbritannien wird immer älter und vereinsamt (Symbolbild) (dpa / Daniel Sambraus)
Es ist der heißeste Tag des Jahres. Die Sonne knallt unbarmherzig an diesem Nachmittag in Wixfield Park. Die Anlage besteht aus Mobilheimen, die so klein sind, dass sie ein bisschen aussehen wie Spielzeughäuser. Solche Wohnsiedlungen auf dem Land sind unter britischen Rentnern beliebt, wenn ihnen ihr Haus zu groß und die Stadt zu hektisch oder zu teuer geworden ist.
Trotz der Hitze haben ein halbes Dutzend Anwohner – alle über 70 – ihre Häuschen verlassen. Sie sitzen jetzt im Schatten der Markise, die vor dem Rural Coffee Caravan aufgespannt ist. Den monatlichen Besuch des Wohnwagen-Cafés lassen sie sich unter keinen Umständen entgehen, erklärt die 73-jährige Stevie Openshaw.
"Wenn sie sich die Mühe machen und hier aufbauen, kommen wir auch, egal, wie das Wetter ist. Selbst diejenigen, die nicht laufen können, schaffen es soweit. Wir saßen hier auch schon bei Unwetter und sind trotz Markise klatschnass geworden."
Ehrenamtliche Mitarbeiter touren durch Suffolk
Auch Ruth Pedley ist stets dabei. "Das ist schön, man kann sich unterhalten. Ich komme jedes Mal, wenn die hier sind." Pedley lebt seit 1954 in England. Als sie 15 war, floh sie aus der DDR und heiratete später einen britischen Soldaten. Seit ihr Mann vor 14 Jahren starb, muss sie alleine zurechtkommen.
"Ich werde jetzt 89. Ich werde eine alte Frau. Man vergisst ein bisschen, nicht? Aber wenn man jemanden hat, den man mal fragen kann, das ist nett, nicht?"
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Allein auf der Insel - Großbritannien und die Einsamkeit".
Die Mitarbeiter des Rural Coffee Caravan touren ehrenamtlich durch mehr als 70 Gemeinden im Landkreis Suffolk. Neben kostenlosem Kaffeeklatsch versorgen sie die Dorfbewohner mit nützlichen Informationen – egal ob es darum geht, wie sie einen Rentenzuschuss beantragen, den Energieanbieter wechseln oder ein neues Gebiss bekommen.
"Ich hatte Probleme mit meinen Zähnen. Und dann hat diese Frau da, die hat das alles mit dem Zahnarzt erledigt für mich, das war wunderbar."
Pedley hat Glück: Sie gehört nicht zu dem Zehntel älterer Menschen in England, deren einzige Gesellschaft ihr Fernseher ist. Einmal pro Woche nimmt sie den kostenlosen Bus in die nächstgelegene Stadt. Auf der Fahrt hat sie Freundinnen aus anderen Dörfern gefunden.
"Und dann, wenn wir eingekauft haben, gehen wir alle fürn Kaffee. Was ist schön! Aber jetzt wollen sie das nicht mehr machen."
Mit den Geschäften verschwinden auch die jungen Leute
Ab Oktober streicht die Kreisverwaltung Suffolk 23 Buslinien ihre Unterstützung. Auch die Route, die Ruth Pedley und ihre Freundinnen nehmen, ist betroffen. Die schlechte Verkehrsanbindung ist aber nicht der einzige Grund, warum ältere Menschen auf dem Land immer häufiger vereinsamen, erklärt Ann Osborn vom Rural Coffee Caravan. Sie leitet das Projekt.
"Früher konnten sie in der Post ihre Rente in bar abholen. Das geht jetzt nur noch online – viele sind da immer noch skeptisch. Sie konnten ihre Milch und ihre Zeitung im Laden kaufen, ein Schwätzchen an der Bushaltestelle halten oder in die Kneipe gehen. Aber ohne Bus, ohne Post, ohne Kneipe – was dann?"
Mit den Geschäften verschwinden auch die jungen Leute. 25 Prozent der Landbevölkerung ist inzwischen älter als 65 Jahre – in Städten macht diese Altersgruppe nur 16 Prozent aus. Dieser Trend wird sich noch weiter verstärken. Studien rechnen deswegen damit, dass es in Zukunft immer mehr ältere Menschen geben wird, die einsam sind.
"Sie fühlen sich oft schutzlos, wenn sie ohne besonderen Anlass im Dorf herumlaufen. Wir werden immer wieder gefragt, ob wir nicht einen Hund verleihen könnten, damit sie sich nicht so dumm vorkommen."
Weder gegen die alternde Gesellschaft noch gegen den Strukturwandel kann der Rural Coffee Caravan etwas unternehmen. Aber Ann Osborn hat die Erfahrung gemacht: Oft reicht es schon, Menschen zusammenzubringen, damit sie anfangen, sich gegenseitig zu helfen.
"In einem Dorf parken wir auf einer dreieckigen Verkehrsinsel. Dort gibt es nichts anderes! Doch seitdem wir dort sind, haben die Frauen einen Lunch-Club gegründet, den die Männer inzwischen infiltrieren wollen. Jetzt sammeln sie gemeinsam Geld, damit sie die Kirche mit Küche und Toilette ausstatten können, um sie als Raum dafür nutzen zu können."
Ausgezeichnet von der Queen
Denn nicht nur für Buslinien fehlt das Geld: Auch Gemeindesäle fallen immer wieder der anhaltenden Sparpolitik der Regierung zum Opfer. Genau diese Regierung hat nun einen Fördertopf eingerichtet, der Einsamkeit – die schmerzhafte Folge der Sparmaßnahmen – lindern soll. Auch der Rural Coffee Caravan bekommt Fördergeld. Außerdem hat die Queen das Wohnwagen-Café jüngst mit dem höchsten Preis für Ehrenamtler ausgezeichnet. Dabei gibt es das Projekt schon seit 16 Jahren. Wie erklärt sich Ann Osborn die plötzliche Aufmerksamkeit?
"Sie realisieren inzwischen, wie viel Geld unsere Arbeit den Gemeinden und dem Gesundheitssystem spart. Das fängt mit kleinen Dingen an, wie die Gummibeschichtung an den Gehstöcken auszutauschen oder ordentliche Hausschuhe zu verteilen, mit denen sich die alten Leute nicht die Hüfte brechen."
Die Bewohner von Wixfield wissen es zu schätzen. "It really is a boon." "It is a lifeline for us." "It’s a godsend, innit." Es ist ein Segen. Unser Rettungsanker. Ein Glücksfall.