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Senioren und Corona
Heime im Spagat zwischen den Grundrechten ihrer Bewohner

Heimbewohner brauchen Gesundheitsschutz, aber auch Kontakt zu Angehörigen. Nachdem sich im ersten Lockdown viele Senioren isoliert fühlten, versuchen Einrichtungen nun den Spagat. Aber Verordnungen und Umsetzung sind sehr uneinheitlich. Auch die Kontrolle der Heime hinkt in der Pandemie hinterher.

Von Tonia Koch |
18.11.2020, Baden-Württemberg, Tübingen: Eine Altenpflegerin in Schutzausrüstunghält die Hand eines Bewohners. Foto: Sebastian Gollnow/dpa | Verwendung weltweit
Ihre Familie zu sehen, ist vielen Bewohnern in Pflegeeinrichtungen das Wichtigste (picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow)
In vielen Bundesländern verstoßen die geltenden Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen in Alten- und Pflegeheimen gegen die Verfassung. Zu dieser Auffassung gelangt ein Gutachten, das die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren beim Mainzer Verfassungsrechtler Professor Friedhelm Hufen in Auftrag gegeben hat.
"Die Heime, teilweise auch die Aufsichtsbehörden, teilweise auch die Verordnungsgeber haben dem Recht auf Gesundheit und Leben den absoluten Vorrang eingeräumt, das scheint ja auf den ersten Blick auch plausibel, aber sie haben übersehen, dass die Einwohner auch andere Grundrechte haben und dass das Recht auf Leben und Gesundheit abgewogen werden muss mit den Freiheitsrechten. Ehe und Familien sind geschützt, Religionsfreiheit ist geschützt, wenn der Priester nicht dazu kommen kann, außerdem ist es ja so, dass die Gesundheit auch massiv beeinträchtigt werden kann durch Einsamkeit und Depressionen."
Ermessensspielräume sehr weit ausgeschöpft
Vieles was zur Eindämmung des Infektionsgeschehens in den Betreuungseinrichtungen angeordnet worden sei, von Ausgehverboten über Besuchsbeschränkungen bis hin zu hausinternen Kontaktverboten habe sich als nicht verhältnismäßig erwiesen, sagt Professor Hufen. Die Träger der Alten- und Pflegeheime hätten ihre Ermessensspielräume vielfach sehr weit ausgeschöpft.
"Unterhalb der Verordnungsebene haben dann eben die Heime völlig unterschiedliche Regelungen gemacht. Wenn da in der Verordnung drinsteht, Zimmerbesuch ist möglich, wir sagen jetzt aber, unser Hausrecht ist, bei uns geht das nicht mit den Zimmern, dann müssen die durch Gemeinschaftsräume und die können sich dann alle anstecken. Und dann hat man den Angehörigen gegenüber zugemacht."
Hufen verweist auf Untersuchungsergebnisse in der Schweiz, dass nicht die Angehörigen in den Heimen eine mögliche Infektionsquelle darstellten, sondern in erster Linie das wechselnde Personal. Armin Lang, der Vorsitzende des Sozialverbandes VDK im Saarland hat zwar Verständnis für die Träger, die nach dem Motto verfahren:
"Jeder Kontakt ist im Hinblick auf das Infektionsgeschehen einer zu viel."
Aus seiner Sicht und aus Sicht der Heimbewohner stelle sich die Situation jedoch völlig anders dar.
"Die Betroffenen wollen den persönlichen Kontakt zu ihren Angehörigen. Wenn du einen Betroffenen fragst, sagt er, ich will mein Enkelchen sehen, ich will meine Tochter, meinen Sohn oder wen auch immer sehen. Dieses persönliche Bedürfnis ist das größte Anliegen und da würde ich auch sagen, das muss man ermöglichen."
Eine ältere Dame hält eine Stoppuhr in den Händen. 
"Fatale Folgen für Alte"
Ohne Kontakt mit Angehörigen können alte Menschen in Pflegeheimen nicht überleben. "Viele Menschen sind daran kaputtgegangen, dass sie nicht besucht werden konnten", sagt der Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer. "Abschottung" sei ein "großer Fehler".
"Unnötige Sorgen" durch Besuchsverbot
Die Träger hätten inzwischen dazugelernt, sagen die Seniorenverbände. Die Heime verfügten über Schutzausrüstung, Trennwände und vielfach über Besuchsbereiche. Da jedoch die Bundesländer für Infektionsschutz sorgen müssen, sind überall unterschiedliche Regelungen in Kraft. In Rheinland-Pfalz ist es zum Beispiel erwünscht, dass sich Heimbewohner und Angehörige in den Bewohnerzimmern treffen. Im Saarland ist es nicht erlaubt, es sei denn der zu Pflegende ist ans Bett gebunden oder wird in den Tod begleitet.
Die Heime müssen sich jedoch nicht an die Verordnung halten, wenn sie andere Corona-Schutzkonzepte vorlegten. Kaspar Pfister tut das. Er ist Geschäftsführer von BeneVit, einem privaten Heimbetreiber mit 30 Einrichtungen in fünf Bundesländern.
"Genauso wichtig wie der Schutz sind die sozialen Kontakte, ist auch die Psyche, insofern haben wir alle Einrichtungen offen. Wir haben ein sehr ausführliches Pandemie-Konzept, aber immer mit dem Ziel, einen Besuch und soziale Kontakte zu ermöglichen."
Beides müsse miteinander verknüpft werden. Es sei auch nicht zielführend, die Angehörigen aus den Häusern draußenzuhalten, denn das führe nur dazu, dass sie verunsichert würden, und sich um den Gesundheitszustand der im Heim Lebenden unnötig sorgten, sagt Pfister.
"Und für mich, für uns ist es natürlich eine ganz wichtige Qualitätssicherung. Jeder Angehörige, der kommt und schaut und eventuell das ein oder andere wahrnimmt und uns informiert, das ist eine viel bessere Qualitätssicherung als andere Kontrollmechanismen das je könnten."
29.06.2020, Bayern, Lauf An Der Pegnitz: Kristine Lütke (r), Geschäftsführerin der Seniorenbetreuung und -pflege "bei St. Otto", erläutert Melanie Huml (CSU), Gesundheits- und Pflegeministerin aus Bayern, die Hygiene-Vorkehrungen im Besucherzimmer des Heims. Dahinter steht Norbert Dünkel (CSU), Mitglied des bayerischen Landtags. Die Ministerin informierte sich bei einem Besuch über die Umsetzung der neuen Besuchsregeln u.a. für Pflegeheime in Bayern. Foto: Daniel Karmann/dpa | Verwendung weltweit
Viele Heime haben inzwischen Besuchsräume mit besonderen Infektionsschutz-Vorrichtungen (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
Seit Monaten keine Qualitätsprüfungen mehr
Das sieht auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen nicht anders. Seit Beginn der Pandemie finden in den Pflegeeinrichtungen keine Qualitätsprüfungen mehr statt, die ansonsten in regelmäßigen Abständen vom MDK, dem medizinischen Dienst der Krankrenkassen durchgeführt werden. Qualitätsprüfungen in den Pflegeheimen durchführen. Das hält Christiane Rock, Referentin der Verbraucherzentralen, für ein Unding.
"Einfach vor dem Hintergrund, dass uns diese Pandemie noch eine lange Zeit begleiten wird, und der Tatsache, dass seit Mitte März diese Prüfungen ausgesetzt sind, also seit acht Monaten, das ist eine absolute Black Box in der wir uns da befinden, das kann einfach nicht sein."
Eigentlich war vorgesehen, ab Oktober wieder Regelprüfungen aufzunehmen. Aber mit Beginn der zweiten Welle hat der MDK davon wieder Abstand genommen. Für Mitarbeiter, Bewohner und Pflegende sei das Infektionsrisiko zu hoch, überdies bedeute es erhöhten Aufwand und Stress für die Heime. Es seien jedoch jederzeit sogenannte Anlassprüfungen möglich. Dass die jemand anstoße, wenn der Zugang zu den Heimen stark reglementiert ist, hält Christiane Rock für realitätsfern.
"Eine Anlassprüfung findet nur dann statt, wenn es eine Beschwerde gibt, aber wer soll denn diese Beschwerde im Moment überhaupt abgeben? Meistens sind es Angehörige oder externe Personen, die einen Missstand erkennen und dann auch entsprechend melden. Pflegebedürftige Verbraucher selbst werden das wohl kaum machen, weil sie physisch oder psychisch nicht in der Lage dazu sind oder Angst vor einer Schlechterstellung im Heim haben."
Angehörige mit Bewohnerin im Besuchscontainer eines Düsseldorfer Heims
Angehörige mit Bewohnerin im Besuchscontainer eines Düsseldorfer Heims (dpa/ Norbert Schmidt)
Mitwirkungsrechte der Bewohner respektieren
Der medizinische Dienst hält dagegen: Zwischen Januar und September hätten in den über 11.000 Pflegeeinrichtungen in Deutschland 257 anlassbezogene Qualitätsprüfungen stattgefunden. Ob vor oder während Corona, geht aus den Angaben nicht hervor.
Niemand wolle die Heime unter Generalverdacht stellen, sagt Christiane Rock. Aber ein wenig mehr Offenheit sei geboten. Das gelte auch für die Mitwirkungsrechte der Bewohner. Die Heimbeiräte würden aktuell nicht gehört, sagt VDK-Vorsitzender Lang, das müsse sich dringend ändern, fordern Sozial- und Seniorenverbände.