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Sentinelesen töten Missionar
"Wir haben kein Recht, in ihr Heim einzudringen″

Sie wollen keinen Kontakt zur Außenwelt und sind bereit dafür zu kämpfen: Die Sentinelesen, eine uralte Volksgruppe von Jägern und Sammlern, töteten kürzlich beim Versuch der Kontaktaufnahme einen Missionar. Die Welt sollte den Wunsch des Volkes nach Isolation respektieren, sagte Ethnologin Carola Krebs im Dlf.

Carola Krebs im Gespräch mit Dörte Hinrichs |
    Luftaufnahme der Insel North Sentinel, teil der Andaman-Gruppe im indischen Ozean. Das betreten der Insel war bis vor kurzem von der Indischen Regierung verboten um den Schutz der dort lebenden Ethnie von Sammlern und Jägern zu gewährleisten. Die Sentinelesen gehören zu den ältesten Völkern der Welt und leben in strikter Isolation von der Zivilsation. (AP Photo/Gautam Singh) |
    Die Insel North Sentinel aus der Luft. Die Sentinelesen leben als Jäger und Sammler in Isolation von der Außenwelt. (AP Photo / Gautam Singh)
    Dörte Hinrichs: Letzte Woche haben wir an dieser Stelle über die Hazda im Norden Tansanias berichtet, eine der letzten Ethnien von Jägern und Sammlern, über die es inzwischen einiges an ethnologischer Forschung gibt. In den letzten Tagen nun machten die Sentinelesen im Indischen Ozean von sich reden, Inselbewohner, über die sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Grenzen halten, da sie zu den am stärksten isolierten Völkern der Erde gehören. Das macht neugierig, nicht nur Ethnologen, sondern auch einen 27-jährigen Amerikaner, der sich vor einigen Tagen in missionarischer Absicht der kleinen Insel mit ihren rund 150 Bewohnern näherte – obwohl dies strikt verboten ist. Er wurde von Pfeilen getroffen und getötet von den Insulanern. Ein Vorfall, der für hohe Wellen sorgte. Carola Krebs, Ethnologin und Kustodin für Südasien am Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig hat mehrfach die Andamanen-Inseln besucht, zu denen auch North Sentinel gehört. Mit ihr habe ich vor der Sendung gesprochen und sie zunächst gefragt, ob sie von der Reaktion der Insulaner auf den Fremden überrascht war?
    Carola Krebs: Nein, wir wissen schon seit langer Zeit, dass die Sentinelesen keinen Kontakt zur Außenwelt möchten oder aber wenigstens selbst bestimmen möchten, mit wem sie Kontakt haben wollen und wie. Es ist ja in der Vergangenheit schon zu zaghaften Kontaktaufnahmen gekommen, aber in der letzten Zeit haben sie wieder eine sehr verstärkt ablehnende Haltung der Außenwelt demonstriert.
    "Kollektiv verinnerlichte schlechte Erfahrung mit der Außenwelt"
    Hinrichs: Wie kommt die zustande?
    Krebs: Na ja, wir wissen, was die Sentinelesen angeht, dass dort Leute in der Vergangenheit verschleppt worden sind. In der Vergangenheit heißt in der britischen Kolonialzeit. Die Briten haben im 19. Jahrhundert die Andaman Islands zur einer Strafkolonie gemacht. Sie waren die ersten Außenstehenden, die dort permanent sich angesiedelt haben, was zu unglaublichen Störungen, kriegerischen Auseinandersetzungen, Bevölkerungsdefiziten kam. Und leider sind in dieser Strafkolonie natürlich auch sehr viele politische Gefangene inhaftiert gewesen für lange Zeit. In dieser Zeit, als man dort versuchte, diese Strafkolonie erfolgreich zu führen, hat man sich mit den angestammten Stämmen auseinandersetzen müssen und wollen, im Sinne von Befriedung, damit die kriegerischen Auseinandersetzungen aufhören, und in dieser Zeit sind auch die ersten ethnologischen Beobachtungen gemacht worden – und im Zuge dieser Beobachtungen Experimente an ihnen vorgenommen worden. Insofern, als man immer mal wieder Vertreter dieser überaus seltenen Menschen, die kaum etwas vergleichbares in Asien vorfanden, die hat man beispielsweise nach Kalkutta verschleppt, um sie wissenschaftlichen Gremien vorzuführen, oder überhaupt um zu schauen, wie sie reagieren, wenn man sie in die sogenannte Zivilisation führt. Und von diesen Reisen sind viele nicht wieder heimgekehrt oder schwer krank geworden, und man weiß natürlich auch nicht, mit welchen Berichten sie in ihre einheimischen Communitys zurückgekehrt sind. Und das trifft in einem berichteten Fall auch auf die Sentinelesen zu. Es ist also wahrscheinlich eine kollektiv verinnerlichte schlechte Erfahrung mit der Außenwelt.
    Hinrichs: Haben das Forscher heute respektiert? Wie versucht man da, die Grenzen zu ziehen?
    Krebs: Die Andamanen-Inseln sind 1947 im Zuge der Unabhängigkeit Indiens zum indischen Staatsgebiet hinzugefügt worden und sind seither unter einer indischen Administration, die sich zur Aufgabe gemacht hat – entgegen der britischen Doktrin seinerzeit –, die Ureinwohner der Inseln zu schützen. Also, sie so weit wie möglich ihren eigenen Wünschen entsprechend in kleinen Territorien leben zu lassen, die noch verfügbar waren.
    In dem Bild zielt ein männlicher Sentinelese mit Pfeil und Bogen auf einen Helikopter der indischen Küstenwache aus dem heraus das Foto aufgenommen wurde. Der Helikopter überflog die Insel am 28 Dezember 2004 um Schäden durch einen vorangegangenen Tsunami abzuschätzen. Die Sentinelesen gehören zu den wenigen verbleibenden Jägern und Sammlern die in Isolation von der Außenwelt leben. Weil das Volk den Kontakt zur Zivilisation verweigert ist wenig über ihre Lebensart bekannt. Ethnologen schätzen, dass sie seit zur ältesten Bevölkerungsschicht Asiens gehören und damit zur ersten Auswanderungswelle des Homo sapiens aus Afrika. 
    Die Sentinelesen haben in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht und wollen keinen Kontakt zur Außenwelt. Auf Kontaktaufnahme reagieren sie agressiv. (AP Photo / Indian Coast Guard)
    Hinrichs: Wie kann man sich denn jetzt das Leben der Sentinelesen vorstellen heute?
    Krebs: Sie leben von Jagd und Sammeln im Wald und an den Küstengewässern. Sie sind ja auch, den Beobachtungen zufolge, wahrscheinlich sehr eng verwandt mit den auf den benachbarten Inseln lebenden Jarawa und den Onge. Also, man weiß, dass sie Wildschweine jagen, es gibt sehr viele endemische Tier- und Pflanzenarten auf den Inseln, dazu gehört auch das endemische Wildschwein auf Andaman. Und sie jagen Fische und Meeressäuger an den Küsten. Die Nahrungsgrundlage wird ergänzt durch Knollen und Früchte und natürlich auch wilden Honig, der ein wichtiger Nahrungsbestandteil bei Jägern und Sammlern ist. Gründliche ethnologische Forschungen bei den Sentinelesen waren nicht möglich, Schrägstrich, nicht erwünscht, denn sie standen unter ausgesprochenem Schutz der indischen Administration, bis heute.
    Hinrichs: Dennoch hat im August die Regierung in Delhi 29 Inseln von der Liste der geschützten und gesperrten Gebiete genommen, darunter auch North Sentinel. Wie kann man sich das erklären?
    Krebs: Gar nicht. Darüber sind die Kenner der Szene weitgehend bestürzt. Das ist auf großes Unverständnis gestoßen, weil man ja weiß, im speziellen Fall bei North Sentinel, was das für Folgen haben kann für sowohl diejenigen, die diese Insel besuchen wollen würden, als auch für die angestammten Sentinelesen. Es steht in totalem Gegensatz zu der bisher geführten Politik des ″eyes on and hands off″, also, wir schauen drauf, aber wir lassen die Hände davon. Es gibt jetzt natürlich auch Initiativen, diese Entscheidung rückgängig zu machen, ich nehme mal an, dass der letzte Vorfall sehr dazu beitragen wird, diese Entscheidung zu überdenken.
    Hinrichs: Gibt es auch einen Gedankenaustausch unter Ethnologen auf internationaler Ebene, wie weit können und wollen wir gehen, respektieren wir die Grenzen der Sentinelesen und was möchten wir erforschen, was dürfen wir erforschen?
    Krebs: Ich glaube, es gibt einen weitreichenden Konsens, ihre Haltung zu respektieren. Wenn jemand so deutlich über lange Zeiträume hinweg signalisiert, wir möchten keinen Kontakt, müssen und sollen wir das natürlich respektieren. Wir haben kein Recht, in ihr Heim einzudringen. Für mich drängt sich dieses Bild wirklich auf, ein Hausfriedensbruch, der die Wünsche der Bewohner des Hauses missachtet, was zu diesem tragischen Ende und diesem tragischen Ausgang geführt hat. Erst wenn die Sentinelesen signalisieren würden, dass sie mit bestimmten Personen Kontakt haben möchten, kann man darüber nachdenken. Und dann natürlich unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen, natürlich auch der medizinischen, denn, wie wir wissen, sind lange Zeit isoliert lebende Völkerschaften sehr stark gefährdet durch die fehlende Immunabwehr gegen unsere Infektionskrankheiten, die wir mitbringen.
    "Es ist sehr schwer, ihr physisches Überleben in dieser Form zu sichern"
    Hinrichs: Es gibt auch genetische Untersuchungen, die man gemacht hat, von Völkern der Nachbarinseln. Was hat man da entdeckt?
    Krebs: Es gibt linguistische Forschungen und genetische Forschung, also die Forschung läuft eigentlich auf Hochtouren. Das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie ist an solchen Forschungen beteiligt. Und auch führende Linguisten, meine Kollegin Anvita Abbi in Delhi, und sie kommen alle zu dem Schluss, dass die Inseln in zwei Migrationswellen besiedelt worden sind und sich während dieser zwei Migrationswellen, eine vor ungefähr 60.000 bis 70.000 Jahren und die zweite, zu der die Sentinelesen gehören, so vor 30.000 bis 40.000 Jahren, dass sich da zwei verschiedene Sprachfamilien herausgebildet haben. Anvita Abbi hat nachgewiesen, dass die Great Andamanis Sprachen, zehn Stück an der Zahl, heute existieren sie nur noch in Fragmenten, eine eigene Sprachfamilie bilden. Man muss sich vergleichsweise vorstellen, dass unsere Sprachfamilie, zu der wir gehören, von Spanien bis nach Indien reicht. In diesen Dimensionen bewegt sich eine Sprachfamilie. Und diese zehn kleinen Stämme hatten eine eigene, das deutet auf ihr hohes Alter hin. Und dieses hohe Alter der Kultur wurde bestätigt durch genetische Untersuchungen, die bewiesen haben, dass die Andamaner zu den ältesten Bevölkerungsschichten in Asien gehören und auch zur ersten Welle der Auswanderung des Homo sapiens aus Afrika. Als der Mensch anfing, in ganz kleinen Gruppen den Globus zu erobern.
    Hinrichs: Das ist ja ein begrenzter Genpool, wie kann deren Überleben gesichert sein?
    Krebs: Das ist eben genau die Krux. Es ist sehr schwer, ihr physisches Überleben in dieser Form zu sichern, auch ihr kulturelles Überleben zu sichern. Das kulturelle Leben ist dasjenige, das sich am schnellsten ändert, denn der Mensch ist ja auch neugierig auf seine Außenwelt und will Kontakt aufnehmen und will sich austauschen. Das haben die Jarawa in letzter Zeit gezeigt, die sind seit den späten 80er-Jahren sind die auf Kontaktsuche zur Außenwelt gegangen.
    Hinrichs: Vielen Dank Carola Krebs, Kustodin für Südasien am Grassi-Museum für Völkerkunde in Leipzig, für diesen Einblick in die Welt der Sentinelesen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.