Belgrad vor neun Jahren. Menschenmassen ziehen durch die Innenstadt, recken die geballten Fäuste. Einige halten fiktive Todesanzeigen des Diktators Slobodan Milosevic in die Höhe. Zwei Wochen zuvor hatte der sich zum Sieger umstrittener Präsidentschaftswahlen erklärt. Am 5. Oktober weicht Milosevic dem Druck der Straße. Ein Ära geht zu Ende.
Eine blutige Ära. Milosevic zettelte in den 90er-Jahren mehrere Kriege mit an, in Bosnien Herzegowina, in Kroatien, zuletzt im Kosovo. Er ließ Oppositionelle verhaften. Die Bevölkerung verarmte. Unter Milosevic geriet das, was von Jugoslawien noch übrig blieb in die Isolation.
Die geballte Faust der Demonstranten war mehr als nur eine Geste der Wut. Sie war das Zeichen der Jugendorganisation "Otpor", "Widerstand". Die Aktivisten von "Otpor" hatten in jenen Wochen die gesamte Belgrader Innenstadt mit schwarzen Fäusten besprüht, Fahnen und T-Shirts mit dem Symbol bedruckt, Plakate geklebt.
"Otpor" hatte sich Ende der 90er-Jahre gegründet. Ursprünglich war es eine studentische Bewegung. Die jungen Leute protestierten gegen Unfreiheit und Korruption an den Universitäten. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 weiteten sie ihre Aktivitäten aus. Ihr Prinzip war gewaltloser Widerstand gegen das Regime. Ein harter Kern organisierte damals die Massendemonstrationen. Einer von ihnen war Sinisa Sikmann:
"Für eine erfolgreiche Bewegung brauchst du drei Dinge: Organisation und Organisation und Organisation."
Otpor erreichte, dass die Menschen Milosevic förmlich aus dem Amt demonstrierten, ohne körperliche Gewalt anzuwenden.
Der Erfolg machte Schule. Die serbischen Aktivisten von Otpor bekamen Anfragen aus anderen Ländern, die gleichfalls von Diktatoren oder autoritären Herrschern geführt wurden. So viele Anfragen, dass sie Seminare anboten. Seminare für gewaltlosen Widerstand gegen Diktatoren. Sikmann war einer der Dozenten:
"Im ersten Workshop sage ich den Teilnehmern, sie sollen eine Hochzeit planen. Wenn ihr eine Hochzeit zum Beispiel für den 9. September plant, dann müsst ihr von dort aus zurück denken. Ich muss die Schuhe zum Beispiel Anfang September kaufen. Und ich muss es selbst tun, niemand anderes kann für mich Schuhe kaufen. Oder: Wie kommen die Getränke zum Fest? Ist das Restaurant dafür verantwortlich oder jemand anderes?
Zur Hochzeit musst du Leute einladen. Zur Demonstration auch. Du musst wissen, wann du sie einlädst. Du brauchst Stühle, und du musst wissen, wer wo sitzt, wenn du zum Beispiel Diplomaten einlädst. Wenn du das Prinzip kennst, kannst du auch die Weltmeisterschaften im Basketball organisieren."
Oder eben Revolutionen, wie drei Jahre später im Südkaukasus, in Georgien.
In Georgien regierte damals, 2003, Eduard Schewardnadze, und zwar seit bereits elf Jahren. Zuvor war er Außenminister der UdSSR gewesen. Unter seiner Präsidentschaft stieg die Arbeitslosigkeit in Georgien ins Unermessliche. Misswirtschaft und Korruption blühten. Energiekrisen und Lebensmittelknappheit gehörten zum georgischen Alltag in den 90er-Jahren. Allerdings nicht für Schewardnadze und seine Verwandten, die die Ressourcen des Landes untereinander aufgeteilt hatten.
In Georgien hieß die Jugendbewegung "Kmara", "Genug". Auch ihr Symbol war die Faust.
Genau wie ihr serbisches Vorbild "Otpor", wurde auch Kmara im Umfeld von Wahlen aktiv: der Parlamentswahl im November 2003. Schon im Vorfeld rechnete damals jeder damit, dass die Machthaber das Wahlergebnis zu ihren Gunsten manipulieren würden. So geschah es, und die Georgier waren zornig.
Am 22. November kam das aus Sicht der Bevölkerung illegitime Parlament zur konstituierenden Sitzung zusammen. Während einer Rede von Eduard Schewardnadze stürmte eine Gruppe in den Sitzungssaal. An ihrer Spitze: Der damals 36jährige Micheil Saakaschwili. Er trug eine Rose in der Hand.
Die Revolution hatte ihren Namen: "Rosenrevolution".
Nach einem Treffen mit Saakaschwili erklärte Schewardnadze seinen Rücktritt. Wenige Wochen später wurde Saakaschwili mit 96 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Georgiens gewählt.
Heute, sechs Jahre nach der Rosenrevolution, entscheidet Saakaschwili persönlich mit einem kleinen Kreis enger Vertrauter über die Geschicke des Landes. Seine Partei stellt die gesetzgebende Mehrheit im Parlament. Ein System, in dem die Opposition die Regierung kontrolliert, gibt es nicht. Von Gewaltenteilung kann keine Rede sein.
Kritiker werfen den Anführern der Rosenrevolution deshalb vor, sie hätten lediglich dafür gesorgt, dass andere Leute an die Macht kämen. Das System von Korruption und Günstlingswirtschaft aber sei das gleiche geblieben.
Wochenlang hat in diesem Frühjahr die Opposition protestiert. Sie forderte unter anderem mehr Medienfreiheit und eine unabhängigere Justiz. Einige Oppositionelle behaupten gar, Saakaschwili schränke die demokratischen Freiheiten noch stärker ein als sein Vorgänger, Eduard Schewardnadze.
Giorgi Kandelaki will das nicht gelten lassen. Er war einer der Anführer von "Kmara" und sitzt mittlerweile für Saakaschwilis Partei im Parlament von Georgien. Die Leute vergäßen, wie es in Georgien vor der Rosenrevolution aussah.
"Die Rosenrevolution war auf jeden Fall ein Erfolg und die Mühe wert. Auch wenn es viele andere Ansichten über Georgien gibt. Denn im Ausland bemühen sich viele Leute, unsere Reformen und unsere junge Demokratie in den Schmutz zu ziehen."
Mit dem "Ausland" ist vor allem Russland gemeint. Die Beziehungen zwischen Georgien und dem großen Nachbarn haben sich seit der Rosenrevolution rapide verschlechtert. Der Konflikt gipfelte im vergangenen Sommer in einen kurzen Krieg. Russische Truppen drangen bis kurz vor die Hauptstadt Tiflis vor.
Für Kandelaki ist genau das ein Beweis für den Erfolg der sogenannten Rosenrevolution:
"Es klingt paradox, aber vielleicht zeigen die August-Ereignisse des vergangenen Jahres – die russische Invasion – genau das. Denn wir haben in der Zeit zwischen der Rosenrevolution und dem Krieg beobachtet, dass, je weiter wir mit unseren Reformen kamen – mit einigen Fehlern zwar, aber es waren Reformen - desto frustrierter und paranoider wurde Moskau. Ich denke, dass Georgien mit seinen erfolgreichen Reformen diese Aggression angezogen hat. Das ist keine Verschwörungstheorie. In Moskau haben einige Leute gedacht: Wenn wir nicht so schnell wie möglich handeln, entgleitet uns Georgien wie einst das Baltikum. Also: Was vor fünf Jahren passiert ist, war ungemein wichtig für Georgien."
Kiew im Dezember 2004.
Wochenlang harrten Studenten und oppositionelle Ukrainer trotz Eiseskälte auf einem der zentralen Plätze ihrer Hauptstadt aus. Sie meinten, die Zeit sei reif für einen Machtwechsel, und so hieß auch die Bewegung: "Pora" – Es ist Zeit. Ihre Mitglieder kleideten sich gelb, ihr Symbol war eine Uhr.
Wenige Wochen zuvor, am 21. November, hat die Stichwahl für das Präsidentenamt stattgefunden. In der Ukraine regierte seit zehn Jahren Leonid Kutschma, wie Schewardnadze in Georgien ein ehemaliger Funktionär aus der Sowjetunion. Kutschma wollte das Amt an seinen politischen Ziehsohn Viktor Janukowitsch weitergeben. Die Stichwahl wurde gefälscht. Das war für die Aktivisten von "Pora" der Anlass, die Massen auf die Straße zu bringen.
Auch in der Ukraine gab es eine Allianz zwischen der Jugendbewegung und dem Präsidentschaftskandidaten der Opposition, Viktor Juschtschenko. Anhänger seiner Partei verstärkten das Heer der Demonstranten im Zentrum von Kiew. Ihre Farbe war orange. Daher der Name "orangefarbene Revolution".
Die Orangefarbenen waren erfolgreich und Viktor Juschtschenko wurde Präsident. Seine Mitstreiterin während der Revolution, Julia Tymoschenko, wurde Premierministerin.
Der Erfolg währte nur kurze Zeit. Nach einem Dreivierteljahr entließ Juschtschenko seine ehemalige Mitstreiterin Tymoschenko. Es folgte ein bis heute andauernder heftiger Grabenkampf. Dringend nötige Reformen blieben dabei auf der Strecke.
Davon profitiert die Partei des einstigen Diktators Kutschma, die vor allem im Osten der Ukraine starke "Partei der Regionen". Sie bekam schnell wieder Aufwind. Schon ein gutes Jahr nach dem Machtwechsel erlangte sie bei der Parlamentswahl im Frühjahr 2006 ein Drittel der Wählerstimmen und wurde damit stärkste Kraft im ukrainischen Parlament – weit vor den Parteien von Victor Juschtschenko und Julia Tymoschenko.
Dementsprechend gelassen blicken diejenigen, die einst aus dem Amt gejagt wurden, auf die Bewegung "Pora" und die Ereignisse im Dezember 2004 zurück. Ivan Popescu, Abgeordneter der Partei der Regionen:
"Historische Ereignisse haben immer positive und negative Seiten. Positiv ist, dass die Menschen begonnen haben, anders zu denken. Ganz eindeutig. Positiv ist, dass die Parteien, die in die Opposition mussten, zuvor aber lange an der Macht waren, gelernt haben, zu arbeiten. Unter Oppositionsbedingungen.
Wir wurden gezwungen, mehr mit der Bevölkerung zu arbeiten. Über Bürgersprechstunden. In den Gebieten, in denen unsere Partei nicht an der Macht ist, machen wir uns die Probleme der Leute zu eigen und konfrontieren die Regierung damit. Früher dagegen, als wir an der Macht waren, dachten wir immer: Es gibt keine Probleme, wir stellen den Chef der Gebietsverwaltung, wir geben die Fragen einfach weiter."
Dank der orangefarbenen Revolution würden sie jetzt endlich inhaltlich arbeiten, so Popescu von der "Partei der Regionen". Und das schließe auch Kompromissbereitschaft mit ein.
"Wir haben auch gelernt, einen Dialog mit den Vertretern der Koalition zu führen, weil wir genau wissen, dass WIR nicht genügend Stimmen haben, um Gesetze zu verabschieden, SIE aber manchmal auch nicht. Wir haben gelernt, zu verhandeln, damit wir bestimmte Ziele erreichen, auch wenn wir noch in der Opposition sind. Und nicht nur darauf zu warten, dass wir wieder an die Macht kommen."
Die Ukraine ist seit den Umbrüchen des Winters 2004/2005 von Krisen geschüttelt. Doch darin, dass diese Zeit das Land weitergebracht habe, sind sich die Gegner von einst einig.
Die Parlamentsabgeordnete Oksana Bilozir hat damals in der Eiseskälte mit ausgeharrt, um demokratische Reformen in der Ukraine anzustoßen. Sie ist eine enge Vertraute von Präsident Juschtschenko.
"Unsere Bürger haben in dieser Phase ihres Lebens einen sehr großen Fortschritt gemacht. Sie sind klug geworden. Wenn man ihnen früher, banal gesagt, ein Kilo Graupen oder Geld oder irgendwelche sozialen Geschenke geben konnte, so wissen sie heute, dass das Erpressung ist. Schmiergeld."
Diese Reifungsprozesse seien wichtiger als die derzeitige Krise in der politischen Führung, meint Bilozir.
"Die Revolution ist nicht gestoppt. Und überhaupt ist das keine Revolution, sondern eine Evolution. Die erste Etappe. Und wir entwickeln uns weiter. Wir lernen. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Aber er ist nötig. Wir werden ihn durchstehen."
Ähnlich wie in Georgien, führte die bunte Revolution auch in der Ukraine zu einer Verschlechterung des Verhältnisses zu Russland. Die westlich orientierten Eliten um Juschtschenko und Tymoschenko streben die Mitgliedschaft des Landes in der NATO und in der EU an. Ihre Anhänger haben sie vor allem im ukrainischsprachigen Westen des Landes. Janukovitsch hingegen steht Russland nahe. Seine Partei ist vor allem im russischsprachigen Osten der Ukraine stark.
Russische Politiker haben ganz offen gegen den "orangefarbenen Virus" gewettert, haben die bunten Revolutionäre als vom Westen, vornehmlich von den USA bezahlte Spione verunglimpft, die Russlands Macht untergraben wollten.
"Ich kann dazu nur eines sagen: Jedes Land muss seine nationalen Interessen verteidigen. Wenn die Ukraine ihre nationalen Interessen verteidigt, dann ist das richtig. Auch wenn Russland das nicht gefällt."
Serbien – Georgien – die Ukraine. In diesen drei Ländern haben die farbigen Revolutionen zu einem Machtwechsel geführt.
Andernorts in Osteuropa scheiterten sie: In Weißrussland, Aserbaidschan und Moldawien. Von Russland gar nicht zu reden. Dort brachte der Kreml vor den Wahlen 2007 und 2008 Tausende Jubeljugendliche auf die Straßen. Sie besetzten immer die Kreuzungen und Plätze, auf denen oppositionelle Jugendliche Kundgebungen angekündigt hatten.
Besonders in Weißrussland hatten Beobachter damit gerechnet, dass sich die Reihe der bunten Revolutionen fortsetzen könnte. Im Frühjahr 2006 fanden dort Präsidentenwahlen statt. Tausende gingen auf die Straße, harrten trotz Versammlungsverbotes aus, protestierten gegen den Diktator, Aleksandr Lukaschenko, und die Fälschung der Wahlergebnisse. Der Protest scheiterte. Sicherheitskräfte lösten die Menge gewaltsam auf.
Warum scheiterte das Projekt in Minsk? Der Weißrusse Pavel Morozau engagiert sich seit Jahren für demokratische Reformen in Weißrussland. Er lebt im Exil in Estland.
"Das hängt damit zusammen, wie stark die Kontrolle über die jeweilige Gesellschaft ist. In Serbien hat Otpor mehrere Anläufe unternommen, und erst, nachdem das Land bombardiert worden war, als Milosevic die Situation schon nicht mehr beherrschte, funktionierte die Revolution. Georgien war unter Schewardnadze, als vergleichbare Ereignisse passierten, praktisch kein Staat. In der Ukraine war es ähnlich: Kutschma kandidierte nicht mehr für eine dritte Amtszeit, und es entstand eine Situation, die man ausnutzen konnte. In Weißrussland ging es nie darum, dass Lukaschenko abtritt, bombardiert wird oder Ähnliches. Im Gegenteil: Er hatte immer eine große Unterstützung Russlands, und er war immer stark.
Deshalb: Einfach nur die Strategie zu übernehmen und die Szenarien aus Serbien, Georgien und der Ukraine zu übertragen, funktioniert nicht. In stark totalitären oder stark autoritären Systemen funktionieren diese Technologien nicht."
Morozau setzt deshalb auf einen sanften, langsamen Wandel. Er bildet Eliten aus, die später, nach einem Machtwechsel, das Land regieren können. Denn daran mangelt es in allen drei Ländern, in Serbien ebenso wie in Georgien und der Ukraine.
Beim Europarat in Straßburg koordiniert Cyrill Ritchie die Arbeit mit den sogenannten Nichtregierungsorganisationen. Ritchie kennt viele der Aktivisten von Otpor, Pora und Kmara persönlich. Und zu ihm kommen auch immer wieder junge Leute, die das Ganze noch planen. Er findet, dass die bunten Revolutionen Erfolg hatten.
"Ich spreche vom Erfolg dieser bunten Revolutionen in den Tagen und Wochen, in denen sie stattfanden. Ob sie auf längere Sicht erfolgreich sind, hat die Geschichte noch nicht gezeigt. Denn in Georgien und der Ukraine zum Beispiel gibt es zwar mehr Freiheit, aber das Land funktioniert nicht notwendigerweise besser."
Das ist auch gar nicht der Anspruch der bunten Revolutionsbewegungen. Das räumt bereits Gene Sharp ein – neben Mahatma Gandhi der große Vordenker der farbigen Revolutionen.
Gene Sharp hat 1993 ein Buch mit dem Titel "From Dicatorship to Democracy" veröffentlicht - "Ein Leitfaden für die Befreiung". Otpor, Kmara und Pora haben sich nach diesem Buch gerichtet. Es ist in weit mehr als 30 Sprachen übersetzt, offiziell. Niemand weiß, wie viele inoffizielle Übersetzungen in Ländern kursieren, in denen das Buch verboten ist, wie in China. Bereits im Vorwort warnt Sharp die gewaltfreien Revolutionäre:
"Der Sturz des Regimes bringt kein Utopia mit sich. Er macht vielmehr den Weg frei für harte Arbeit und lange dauernde Bemühungen, gerechtere gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Verhältnisse zu etablieren und andere Formen von Unrecht und Unterdrückung aus der Welt zu schaffen."
Cyril Richie sieht die Probleme in den Ländern, die ihren Diktator losgeworden sind, dementsprechend entspannt.
"Ich glaube nicht, dass es unbedingt schlecht ist, dass so ein Land dann erstmal schlecht funktioniert. Denn das ist Teil des Übergangs zu einer Demokratie. Das sind Länder, die 60 Jahre, 70 Jahre keine Demokratie kannten. Und es ist ein schmerzhafter Prozess, eine Demokratie auf die Welt zu bringen. Solche Bewegungen von Menschen, sei es durch Einzelne, die auf die Straße gehen und zur Bewegung werden, oder durch Nichtregierungsorganisationen, wird es überall geben. Wir sehen das überall auf der Welt und immer öfter. Hoffentlich können sie immer in solche Bahnen gelenkt werden, dass der Regimewechsel friedlich verläuft."
Selbst wenn einige behaupten, die bunten Revolutionen seien gescheitert – sie haben Diktatoren aus dem Amt gejagt. Mehr können sie nicht. Aber das ist ganz schön viel.
Eine blutige Ära. Milosevic zettelte in den 90er-Jahren mehrere Kriege mit an, in Bosnien Herzegowina, in Kroatien, zuletzt im Kosovo. Er ließ Oppositionelle verhaften. Die Bevölkerung verarmte. Unter Milosevic geriet das, was von Jugoslawien noch übrig blieb in die Isolation.
Die geballte Faust der Demonstranten war mehr als nur eine Geste der Wut. Sie war das Zeichen der Jugendorganisation "Otpor", "Widerstand". Die Aktivisten von "Otpor" hatten in jenen Wochen die gesamte Belgrader Innenstadt mit schwarzen Fäusten besprüht, Fahnen und T-Shirts mit dem Symbol bedruckt, Plakate geklebt.
"Otpor" hatte sich Ende der 90er-Jahre gegründet. Ursprünglich war es eine studentische Bewegung. Die jungen Leute protestierten gegen Unfreiheit und Korruption an den Universitäten. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 weiteten sie ihre Aktivitäten aus. Ihr Prinzip war gewaltloser Widerstand gegen das Regime. Ein harter Kern organisierte damals die Massendemonstrationen. Einer von ihnen war Sinisa Sikmann:
"Für eine erfolgreiche Bewegung brauchst du drei Dinge: Organisation und Organisation und Organisation."
Otpor erreichte, dass die Menschen Milosevic förmlich aus dem Amt demonstrierten, ohne körperliche Gewalt anzuwenden.
Der Erfolg machte Schule. Die serbischen Aktivisten von Otpor bekamen Anfragen aus anderen Ländern, die gleichfalls von Diktatoren oder autoritären Herrschern geführt wurden. So viele Anfragen, dass sie Seminare anboten. Seminare für gewaltlosen Widerstand gegen Diktatoren. Sikmann war einer der Dozenten:
"Im ersten Workshop sage ich den Teilnehmern, sie sollen eine Hochzeit planen. Wenn ihr eine Hochzeit zum Beispiel für den 9. September plant, dann müsst ihr von dort aus zurück denken. Ich muss die Schuhe zum Beispiel Anfang September kaufen. Und ich muss es selbst tun, niemand anderes kann für mich Schuhe kaufen. Oder: Wie kommen die Getränke zum Fest? Ist das Restaurant dafür verantwortlich oder jemand anderes?
Zur Hochzeit musst du Leute einladen. Zur Demonstration auch. Du musst wissen, wann du sie einlädst. Du brauchst Stühle, und du musst wissen, wer wo sitzt, wenn du zum Beispiel Diplomaten einlädst. Wenn du das Prinzip kennst, kannst du auch die Weltmeisterschaften im Basketball organisieren."
Oder eben Revolutionen, wie drei Jahre später im Südkaukasus, in Georgien.
In Georgien regierte damals, 2003, Eduard Schewardnadze, und zwar seit bereits elf Jahren. Zuvor war er Außenminister der UdSSR gewesen. Unter seiner Präsidentschaft stieg die Arbeitslosigkeit in Georgien ins Unermessliche. Misswirtschaft und Korruption blühten. Energiekrisen und Lebensmittelknappheit gehörten zum georgischen Alltag in den 90er-Jahren. Allerdings nicht für Schewardnadze und seine Verwandten, die die Ressourcen des Landes untereinander aufgeteilt hatten.
In Georgien hieß die Jugendbewegung "Kmara", "Genug". Auch ihr Symbol war die Faust.
Genau wie ihr serbisches Vorbild "Otpor", wurde auch Kmara im Umfeld von Wahlen aktiv: der Parlamentswahl im November 2003. Schon im Vorfeld rechnete damals jeder damit, dass die Machthaber das Wahlergebnis zu ihren Gunsten manipulieren würden. So geschah es, und die Georgier waren zornig.
Am 22. November kam das aus Sicht der Bevölkerung illegitime Parlament zur konstituierenden Sitzung zusammen. Während einer Rede von Eduard Schewardnadze stürmte eine Gruppe in den Sitzungssaal. An ihrer Spitze: Der damals 36jährige Micheil Saakaschwili. Er trug eine Rose in der Hand.
Die Revolution hatte ihren Namen: "Rosenrevolution".
Nach einem Treffen mit Saakaschwili erklärte Schewardnadze seinen Rücktritt. Wenige Wochen später wurde Saakaschwili mit 96 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Georgiens gewählt.
Heute, sechs Jahre nach der Rosenrevolution, entscheidet Saakaschwili persönlich mit einem kleinen Kreis enger Vertrauter über die Geschicke des Landes. Seine Partei stellt die gesetzgebende Mehrheit im Parlament. Ein System, in dem die Opposition die Regierung kontrolliert, gibt es nicht. Von Gewaltenteilung kann keine Rede sein.
Kritiker werfen den Anführern der Rosenrevolution deshalb vor, sie hätten lediglich dafür gesorgt, dass andere Leute an die Macht kämen. Das System von Korruption und Günstlingswirtschaft aber sei das gleiche geblieben.
Wochenlang hat in diesem Frühjahr die Opposition protestiert. Sie forderte unter anderem mehr Medienfreiheit und eine unabhängigere Justiz. Einige Oppositionelle behaupten gar, Saakaschwili schränke die demokratischen Freiheiten noch stärker ein als sein Vorgänger, Eduard Schewardnadze.
Giorgi Kandelaki will das nicht gelten lassen. Er war einer der Anführer von "Kmara" und sitzt mittlerweile für Saakaschwilis Partei im Parlament von Georgien. Die Leute vergäßen, wie es in Georgien vor der Rosenrevolution aussah.
"Die Rosenrevolution war auf jeden Fall ein Erfolg und die Mühe wert. Auch wenn es viele andere Ansichten über Georgien gibt. Denn im Ausland bemühen sich viele Leute, unsere Reformen und unsere junge Demokratie in den Schmutz zu ziehen."
Mit dem "Ausland" ist vor allem Russland gemeint. Die Beziehungen zwischen Georgien und dem großen Nachbarn haben sich seit der Rosenrevolution rapide verschlechtert. Der Konflikt gipfelte im vergangenen Sommer in einen kurzen Krieg. Russische Truppen drangen bis kurz vor die Hauptstadt Tiflis vor.
Für Kandelaki ist genau das ein Beweis für den Erfolg der sogenannten Rosenrevolution:
"Es klingt paradox, aber vielleicht zeigen die August-Ereignisse des vergangenen Jahres – die russische Invasion – genau das. Denn wir haben in der Zeit zwischen der Rosenrevolution und dem Krieg beobachtet, dass, je weiter wir mit unseren Reformen kamen – mit einigen Fehlern zwar, aber es waren Reformen - desto frustrierter und paranoider wurde Moskau. Ich denke, dass Georgien mit seinen erfolgreichen Reformen diese Aggression angezogen hat. Das ist keine Verschwörungstheorie. In Moskau haben einige Leute gedacht: Wenn wir nicht so schnell wie möglich handeln, entgleitet uns Georgien wie einst das Baltikum. Also: Was vor fünf Jahren passiert ist, war ungemein wichtig für Georgien."
Kiew im Dezember 2004.
Wochenlang harrten Studenten und oppositionelle Ukrainer trotz Eiseskälte auf einem der zentralen Plätze ihrer Hauptstadt aus. Sie meinten, die Zeit sei reif für einen Machtwechsel, und so hieß auch die Bewegung: "Pora" – Es ist Zeit. Ihre Mitglieder kleideten sich gelb, ihr Symbol war eine Uhr.
Wenige Wochen zuvor, am 21. November, hat die Stichwahl für das Präsidentenamt stattgefunden. In der Ukraine regierte seit zehn Jahren Leonid Kutschma, wie Schewardnadze in Georgien ein ehemaliger Funktionär aus der Sowjetunion. Kutschma wollte das Amt an seinen politischen Ziehsohn Viktor Janukowitsch weitergeben. Die Stichwahl wurde gefälscht. Das war für die Aktivisten von "Pora" der Anlass, die Massen auf die Straße zu bringen.
Auch in der Ukraine gab es eine Allianz zwischen der Jugendbewegung und dem Präsidentschaftskandidaten der Opposition, Viktor Juschtschenko. Anhänger seiner Partei verstärkten das Heer der Demonstranten im Zentrum von Kiew. Ihre Farbe war orange. Daher der Name "orangefarbene Revolution".
Die Orangefarbenen waren erfolgreich und Viktor Juschtschenko wurde Präsident. Seine Mitstreiterin während der Revolution, Julia Tymoschenko, wurde Premierministerin.
Der Erfolg währte nur kurze Zeit. Nach einem Dreivierteljahr entließ Juschtschenko seine ehemalige Mitstreiterin Tymoschenko. Es folgte ein bis heute andauernder heftiger Grabenkampf. Dringend nötige Reformen blieben dabei auf der Strecke.
Davon profitiert die Partei des einstigen Diktators Kutschma, die vor allem im Osten der Ukraine starke "Partei der Regionen". Sie bekam schnell wieder Aufwind. Schon ein gutes Jahr nach dem Machtwechsel erlangte sie bei der Parlamentswahl im Frühjahr 2006 ein Drittel der Wählerstimmen und wurde damit stärkste Kraft im ukrainischen Parlament – weit vor den Parteien von Victor Juschtschenko und Julia Tymoschenko.
Dementsprechend gelassen blicken diejenigen, die einst aus dem Amt gejagt wurden, auf die Bewegung "Pora" und die Ereignisse im Dezember 2004 zurück. Ivan Popescu, Abgeordneter der Partei der Regionen:
"Historische Ereignisse haben immer positive und negative Seiten. Positiv ist, dass die Menschen begonnen haben, anders zu denken. Ganz eindeutig. Positiv ist, dass die Parteien, die in die Opposition mussten, zuvor aber lange an der Macht waren, gelernt haben, zu arbeiten. Unter Oppositionsbedingungen.
Wir wurden gezwungen, mehr mit der Bevölkerung zu arbeiten. Über Bürgersprechstunden. In den Gebieten, in denen unsere Partei nicht an der Macht ist, machen wir uns die Probleme der Leute zu eigen und konfrontieren die Regierung damit. Früher dagegen, als wir an der Macht waren, dachten wir immer: Es gibt keine Probleme, wir stellen den Chef der Gebietsverwaltung, wir geben die Fragen einfach weiter."
Dank der orangefarbenen Revolution würden sie jetzt endlich inhaltlich arbeiten, so Popescu von der "Partei der Regionen". Und das schließe auch Kompromissbereitschaft mit ein.
"Wir haben auch gelernt, einen Dialog mit den Vertretern der Koalition zu führen, weil wir genau wissen, dass WIR nicht genügend Stimmen haben, um Gesetze zu verabschieden, SIE aber manchmal auch nicht. Wir haben gelernt, zu verhandeln, damit wir bestimmte Ziele erreichen, auch wenn wir noch in der Opposition sind. Und nicht nur darauf zu warten, dass wir wieder an die Macht kommen."
Die Ukraine ist seit den Umbrüchen des Winters 2004/2005 von Krisen geschüttelt. Doch darin, dass diese Zeit das Land weitergebracht habe, sind sich die Gegner von einst einig.
Die Parlamentsabgeordnete Oksana Bilozir hat damals in der Eiseskälte mit ausgeharrt, um demokratische Reformen in der Ukraine anzustoßen. Sie ist eine enge Vertraute von Präsident Juschtschenko.
"Unsere Bürger haben in dieser Phase ihres Lebens einen sehr großen Fortschritt gemacht. Sie sind klug geworden. Wenn man ihnen früher, banal gesagt, ein Kilo Graupen oder Geld oder irgendwelche sozialen Geschenke geben konnte, so wissen sie heute, dass das Erpressung ist. Schmiergeld."
Diese Reifungsprozesse seien wichtiger als die derzeitige Krise in der politischen Führung, meint Bilozir.
"Die Revolution ist nicht gestoppt. Und überhaupt ist das keine Revolution, sondern eine Evolution. Die erste Etappe. Und wir entwickeln uns weiter. Wir lernen. Das ist ein schmerzhafter Prozess. Aber er ist nötig. Wir werden ihn durchstehen."
Ähnlich wie in Georgien, führte die bunte Revolution auch in der Ukraine zu einer Verschlechterung des Verhältnisses zu Russland. Die westlich orientierten Eliten um Juschtschenko und Tymoschenko streben die Mitgliedschaft des Landes in der NATO und in der EU an. Ihre Anhänger haben sie vor allem im ukrainischsprachigen Westen des Landes. Janukovitsch hingegen steht Russland nahe. Seine Partei ist vor allem im russischsprachigen Osten der Ukraine stark.
Russische Politiker haben ganz offen gegen den "orangefarbenen Virus" gewettert, haben die bunten Revolutionäre als vom Westen, vornehmlich von den USA bezahlte Spione verunglimpft, die Russlands Macht untergraben wollten.
"Ich kann dazu nur eines sagen: Jedes Land muss seine nationalen Interessen verteidigen. Wenn die Ukraine ihre nationalen Interessen verteidigt, dann ist das richtig. Auch wenn Russland das nicht gefällt."
Serbien – Georgien – die Ukraine. In diesen drei Ländern haben die farbigen Revolutionen zu einem Machtwechsel geführt.
Andernorts in Osteuropa scheiterten sie: In Weißrussland, Aserbaidschan und Moldawien. Von Russland gar nicht zu reden. Dort brachte der Kreml vor den Wahlen 2007 und 2008 Tausende Jubeljugendliche auf die Straßen. Sie besetzten immer die Kreuzungen und Plätze, auf denen oppositionelle Jugendliche Kundgebungen angekündigt hatten.
Besonders in Weißrussland hatten Beobachter damit gerechnet, dass sich die Reihe der bunten Revolutionen fortsetzen könnte. Im Frühjahr 2006 fanden dort Präsidentenwahlen statt. Tausende gingen auf die Straße, harrten trotz Versammlungsverbotes aus, protestierten gegen den Diktator, Aleksandr Lukaschenko, und die Fälschung der Wahlergebnisse. Der Protest scheiterte. Sicherheitskräfte lösten die Menge gewaltsam auf.
Warum scheiterte das Projekt in Minsk? Der Weißrusse Pavel Morozau engagiert sich seit Jahren für demokratische Reformen in Weißrussland. Er lebt im Exil in Estland.
"Das hängt damit zusammen, wie stark die Kontrolle über die jeweilige Gesellschaft ist. In Serbien hat Otpor mehrere Anläufe unternommen, und erst, nachdem das Land bombardiert worden war, als Milosevic die Situation schon nicht mehr beherrschte, funktionierte die Revolution. Georgien war unter Schewardnadze, als vergleichbare Ereignisse passierten, praktisch kein Staat. In der Ukraine war es ähnlich: Kutschma kandidierte nicht mehr für eine dritte Amtszeit, und es entstand eine Situation, die man ausnutzen konnte. In Weißrussland ging es nie darum, dass Lukaschenko abtritt, bombardiert wird oder Ähnliches. Im Gegenteil: Er hatte immer eine große Unterstützung Russlands, und er war immer stark.
Deshalb: Einfach nur die Strategie zu übernehmen und die Szenarien aus Serbien, Georgien und der Ukraine zu übertragen, funktioniert nicht. In stark totalitären oder stark autoritären Systemen funktionieren diese Technologien nicht."
Morozau setzt deshalb auf einen sanften, langsamen Wandel. Er bildet Eliten aus, die später, nach einem Machtwechsel, das Land regieren können. Denn daran mangelt es in allen drei Ländern, in Serbien ebenso wie in Georgien und der Ukraine.
Beim Europarat in Straßburg koordiniert Cyrill Ritchie die Arbeit mit den sogenannten Nichtregierungsorganisationen. Ritchie kennt viele der Aktivisten von Otpor, Pora und Kmara persönlich. Und zu ihm kommen auch immer wieder junge Leute, die das Ganze noch planen. Er findet, dass die bunten Revolutionen Erfolg hatten.
"Ich spreche vom Erfolg dieser bunten Revolutionen in den Tagen und Wochen, in denen sie stattfanden. Ob sie auf längere Sicht erfolgreich sind, hat die Geschichte noch nicht gezeigt. Denn in Georgien und der Ukraine zum Beispiel gibt es zwar mehr Freiheit, aber das Land funktioniert nicht notwendigerweise besser."
Das ist auch gar nicht der Anspruch der bunten Revolutionsbewegungen. Das räumt bereits Gene Sharp ein – neben Mahatma Gandhi der große Vordenker der farbigen Revolutionen.
Gene Sharp hat 1993 ein Buch mit dem Titel "From Dicatorship to Democracy" veröffentlicht - "Ein Leitfaden für die Befreiung". Otpor, Kmara und Pora haben sich nach diesem Buch gerichtet. Es ist in weit mehr als 30 Sprachen übersetzt, offiziell. Niemand weiß, wie viele inoffizielle Übersetzungen in Ländern kursieren, in denen das Buch verboten ist, wie in China. Bereits im Vorwort warnt Sharp die gewaltfreien Revolutionäre:
"Der Sturz des Regimes bringt kein Utopia mit sich. Er macht vielmehr den Weg frei für harte Arbeit und lange dauernde Bemühungen, gerechtere gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Verhältnisse zu etablieren und andere Formen von Unrecht und Unterdrückung aus der Welt zu schaffen."
Cyril Richie sieht die Probleme in den Ländern, die ihren Diktator losgeworden sind, dementsprechend entspannt.
"Ich glaube nicht, dass es unbedingt schlecht ist, dass so ein Land dann erstmal schlecht funktioniert. Denn das ist Teil des Übergangs zu einer Demokratie. Das sind Länder, die 60 Jahre, 70 Jahre keine Demokratie kannten. Und es ist ein schmerzhafter Prozess, eine Demokratie auf die Welt zu bringen. Solche Bewegungen von Menschen, sei es durch Einzelne, die auf die Straße gehen und zur Bewegung werden, oder durch Nichtregierungsorganisationen, wird es überall geben. Wir sehen das überall auf der Welt und immer öfter. Hoffentlich können sie immer in solche Bahnen gelenkt werden, dass der Regimewechsel friedlich verläuft."
Selbst wenn einige behaupten, die bunten Revolutionen seien gescheitert – sie haben Diktatoren aus dem Amt gejagt. Mehr können sie nicht. Aber das ist ganz schön viel.