In Serbien finden derzeit die größten Straßenproteste seit Jahrzehnten statt. Der Anlass: Anfang November stürzte in der nordserbischen Stadt Novi Sad das Dach eines Bahnhofsgebäudes ein. Bei dem Unglück kamen 15 Menschen ums Leben. Studierende organisieren seit dem Vorfall Massenproteste und fordern von der Regierung, Verantwortung zu übernehmen und den Fall aufzuklären. Die Demonstrierenden sehen die tief verwurzelte Korruption im Land als Ursache für den Einsturz.
Inhalt
- Wie kam es zu dem Einsturz des Bahnhofsgebäudes in Novi Sad?
- Was fordern die Protestierenden von der serbischen Regierung?
- Wie hat die Regierung von Präsident Vučić auf die Proteste reagiert?
- Wie viel Rückhalt hat die Regierung von Präsident Vučić?
- Könnten die Demonstrationen zu einem Regierungswechsel in Serbien führen?
Wie kam es zu dem Einsturz des Bahnhofsgebäudes in Novi Sad?
Das eingestürzte Bahnhofsgebäude in Novi Sad ist in den vergangenen drei Jahren umfassend saniert worden, der Bahnhof wurde erst im Juli 2024 wieder in Betrieb genommen. Eine chinesische Firma führte die Umbauarbeiten durch.
Das Dach war am 1. November offenbar unter der Last von Schneemassen zusammengebrochen. Regierungskritiker vermuten Korruption als Ursache für den Pfusch am Bau.
Was fordern die Protestierenden von der serbischen Regierung?
Seit dem Bahnhofsunglück kommt es immer wieder zu Demonstrationen, die vor allem von Studierendengruppen organisiert werden. Begonnen haben die Proteste an der Universität Belgrad, wo Studierende vor einer Fakultät den Opfern gedachten.
Nachdem die Behörden zu Beginn der Proteste hart durchgriffen und auch prominente Demonstranten verhafteten, wuchs die Protestwelle.
Die Demonstrierenden fordern, dass die Verantwortlichen für das Bahnhofsunglück in Novi Sad vor Gericht gestellt werden, ein Ende von Korruption und funktionierende Institutionen. Außerdem verlangen sie, dass die Verträge mit denen an der Renovierung des Bahnhofs beteiligten Firmen veröffentlicht werden. Auch fordern sie den Ministerpräsidenten Miloš Vučević sowie den Bürgermeister von Novi Sad zum Rücktritt auf.
Es soll sich um die größten Proteste seit dem Sturz des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs und Kriegsverbrechers Slobodan Milošević am 5. Oktober 2000 handeln. Die Proteste weiteten sich über das ganze Land aus. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten haben sich den Protesten inzwischen angeschlossen, darunter Oppositionelle, Schüler und Schülerinnen, Professorinnen und Künstler und Bauern.
Das Vertrauen vieler Bürger in die Regierung war bereits vor Beginn der Proteste aufgrund eines Skandals erschüttert worden: Mitte Dezember 2024 berichtete die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, dass die serbische Polizei und Geheimdienste die Handys von Aktivisten und Journalisten mit einer Spionage-Software infiziert haben.
Wie hat die Regierung von Präsident Vučić auf die Proteste reagiert?
Seit dem Einsturz sind zwei Minister zurückgetreten - und die serbische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen mehrere Personen.
Präsident Aleksandar Vučić stellte der Bevölkerung im Zuge der Proteste Wohnungen, billige Kredite oder weniger Schulgeld in Aussicht – was von Beobachtern als Beschwichtigungsversuch gewertet wurde. Anders als bei vorangehenden Demonstrationen aus dem Jahr 2019 richten sich die Studierenden allerdings nicht direkt an den Präsidenten Vučić. Stattdessen verlangen sie, dass Institutionen wie die Justiz sich der Öffentlichkeit stellen.
Aleksandar Vučić herrscht in wechselnden Funktionen seit zwölf Jahren teilweise autoritär über Serbien. Seit 2017 ist er Präsident des Landes.
Seit Jahren wird im Land immer wieder gegen seinen autokratischen Regierungsstil demonstriert. Der Vorwurf: Vučić habe Serbien in einen Parteistaat verwandelt und die wichtigsten Medien des Landes unter seiner Kontrolle.
Wie viel Rückhalt hat die Regierung von Präsident Vučić?
Regierungsbeamte, Mitglieder und Anhänger der „Serbische Fortschrittspartei" (SNS) gehören zu denen, die sich nicht mit den Protestierenden solidarisieren. Die SNS hat offiziell 700.000 Mitglieder, sagt der Universitätsprofessor und Filmregisseur Janko Baljak, der sich ebenfalls an den Protesten beteiligt.
„Das sind alles Menschen, die mit Arbeitsstellen erpresst werden.“ Denn verliert Vučić die Macht, müssen sie um ihre Arbeitsstelle bangen. Andere hätten Straftaten begangen und würden rechtliche Konsequenzen nach einem Regierungswechsel fürchten. „Manche von ihnen befreien sich langsam. Wenn die wirklich die Seiten wechseln würden, dann bedeutet das das Ende des Regimes“, so Baljak.
Seit Jahren mehren sich die Anzeichen von Unzufriedenheit in der Bevölkerung wegen Korruption oder zu teuren Wohnungen. In der vergangenen Zeit demonstrierten die Serben auch gegen illegale Bauprojekte oder den von der Regierung geplanten Abbau von Lithium.
Könnten die Demonstrationen zu einem Regierungswechsel in Serbien führen?
Ob die Proteste sich so ausweiten, dass sie einen Regierungswechsel herbeiführen, mag kaum jemand zu prognostizieren. Doch Regierungskritiker hoffen, dass sich durch die Proteste endlich etwas in ihrem Land verändern könnte.
Laut dem Philosophie-Professor und Menschenrechtsaktivist Dinko Gruhonjić seien die Proteste das Beste, was Serbien in den vergangenen zwölf Jahren passiert sei. Zum ersten Mal in seiner Präsidentschaft habe Vučić keine Antwort. Gewalt gegen die jungen Leute würde den Zorn nur verstärken. „Nun müssen Opposition, Justiz, am besten alle eine Einheit schaffen, eine Front bilden“, sagt Gruhonjić.
Auch der Filmregisseur Janko Baljak geht davon aus, dass es sich um die massivsten Studentenproteste in der serbischen Geschichte handelt. Es seien fast alle Universitäten in Serbien besetzt, auch die Mittelschulen sowie die Kunst- und Kulturszene nehmen an den Protesten teil.
„Manche denken, dass Serbien in einen Generalstreik gehen könnte, wenn die Arbeiterinnen und Unternehmer mitmachen. Das würde zum Fall der Regierung führen“, sagt Baljak. „Um ehrlich zu sein: Dieses Mal bin ich viel optimistischer als vorher.“
tan