Serbien
Jugend vereint sich gegen Korruption

Zehntausende Menschen demonstrieren seit Wochen in Serbien. Sie fordern Rechenschaft für den tödlichen Einsturz eines Bahnhofsdachs in Novi Sad, das Ende der Korruption in ihrem Land und den Rücktritt des Ministerpräsidenten Miloš Vučević.

    Ein Meer an Menschen überflutet den Slavija Platz in Belgrad in Belgrad. Die dunklen Straßen der serbischen Hauptstadt sind mit unzähligen Lichtern beleuchtet.
    In der serbischen Hauptstadt Belgrad demonstrieren Zehntausende Menschen gegen die Korruption im Land. Ursache ist der Einsturz eines Bahnhofsvordachs in Novi Sad. (picture alliance / Anadolu / Filip Stevanovic)
    In Serbien finden derzeit die größten Straßenproteste seit Jahrzehnten statt. Der Anlass: Anfang November stürzte in der nordserbischen Stadt Novi Sad das Vordach des Bahnhofs ein. Bei dem Unglück kamen 15 Menschen ums Leben. Studierende organisieren seit dem Vorfall Proteste und fordern von der Regierung, Verantwortung zu übernehmen und den Fall aufzuklären. Die Demonstrierenden sehen die tief verwurzelte Korruption im Land als Ursache für den Einsturz.

    Inhalt

    Wie kam es zu dem Einsturz von Novi Sad?

    Das Bahnhofsgebäude in Novi Sad ist in den vergangenen drei Jahren saniert worden. Der Bahnhof wurde erst im Juli 2024 wieder in Betrieb genommen. Wie die Arbeiten mit dem Einsturz des Vordachs zusammenhängen, wird ermittelt.
    Das Dach war am 1. November zusammengebrochen. Regierungskritiker vermuten hinter dem Unglück Korruption als eine Ursache. 

    Was fordern die Protestierenden von der serbischen Regierung?

    Seit dem Bahnhofsunglück kommt es immer wieder zu Demonstrationen von Studierenden. Begonnen hat die aktuelle Protestbewegung nach einem Vorfall an der Universität der Künste in Belgrad, wo Studierende am 22. November der Opfer gedachten. Die Veranstaltung wurde von Anhängern der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) gestört; Studierende wurden angegriffen.
    Nachdem die Behörden zu Beginn der Proteste hart durchgriffen und auch prominente Demonstranten verhafteten, wuchs die Protestwelle. Die Demonstrierenden fordern, dass die Verantwortlichen für das Bahnhofsunglück in Novi Sad vor Gericht gestellt werden, ein Ende von Korruption und funktionierende Institutionen.
    Außerdem verlangen sie, dass die Verträge mit denen an der Renovierung des Bahnhofs beteiligten Firmen veröffentlicht werden. Auch fordern sie den Ministerpräsidenten Miloš Vučević sowie den Bürgermeister von Novi Sad zum Rücktritt auf.
    Es soll sich um die größten Proteste seit dem Sturz des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs Slobodan Milošević am 5. Oktober 2000 handeln. Die Proteste weiteten sich über das ganze Land aus. Den Protesten haben sich Oppositionelle, Schüler und Schülerinnen, Professorinnen, Künstler und Bauern angeschlossen.
    Im Dezember wurde ein weiterer Skandal öffentlich, der das Vertrauen in die Regierung erschütterte: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtete, dass die serbische Polizei und Geheimdienste die Handys von Aktivisten und Journalisten mit einer israelischen Spionagesoftware infiziert haben.

    Wie hat die Regierung von Präsident Vučić auf die Proteste reagiert?

    Seit dem Einsturz sind zwei Minister zurückgetreten; die serbische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen mehrere Personen. Präsident Aleksandar Vučić stellte der Bevölkerung im Zuge der Proteste Wohnungen, billige Kredite oder weniger Schulgeld in Aussicht – was von Beobachtern als Beschwichtigungsversuch gewertet wurde. 
    Anders als bei vorangehenden Demonstrationen aus dem Jahr 2019 richten sich die Studierenden allerdings nicht direkt an den Präsidenten Vučić. Sie verlangen stattdessen, dass sich Institutionen wie die Justiz der Öffentlichkeit stellen.
    Aleksandar Vučić ist in wechselnden Funktionen seit zwölf Jahren an der Macht in Serbien. Seit 2017 ist er Präsident des Landes.
    Seit Jahren wird im Land immer wieder gegen seinen autokratischen Regierungsstil demonstriert. Der Vorwurf: Vučić habe Serbien in einen Parteistaat verwandelt und kontrolliere die wichtigsten Medien des Landes.

    Wie viel Rückhalt hat die Regierung von Präsident Vučić?

    Regierungsbeamte, Mitglieder und Anhänger der Serbische Fortschrittspartei (SNS) gehören zu denen, die sich nicht mit den Protestierenden solidarisieren. Die SNS hat offiziell 700.000 Mitglieder, sagt der Universitätsprofessor und Filmregisseur Janko Baljak, der sich auch an den Protesten beteiligt.
    „Das sind Menschen, die mit Arbeitsstellen erpresst werden.“ Verliere Vučić die Macht, müssten sie um ihren Job bangen. Andere hätten Straftaten begangen und würden rechtliche Konsequenzen nach einem Regierungswechsel fürchten. „Manche von ihnen befreien sich langsam. Wenn die wirklich die Seiten wechseln würden, dann bedeutet das das Ende des Regimes“, so Baljak.
    Gründe für Unzufriedenheit in der Bevölkerung sind Korruption oder zu teure Wohnungen. Seit Jahren gibt es auch Demonstrationen auch gegen Bauprojekte oder den von der Regierung geplanten Abbau von Lithium.

    Könnten die Demonstrationen zu einem Regierungswechsel in Serbien führen?

    Ob die Proteste sich so ausweiten, dass sie einen Regierungswechsel herbeiführen, ist unklar. Doch Kritiker hoffen, dass sich durch die Proteste etwas in ihrem Land verändern könnte.
    Laut dem Philosophieprofessor und Menschenrechtsaktivist Dinko Gruhonjić sind die Proteste das Beste, was Serbien in den vergangenen zwölf Jahren passiert ist. Zum ersten Mal in seiner Präsidentschaft habe Vučić keine Antwort. Gewalt gegen die jungen Leute würde den Zorn nur verstärken. Nun müssten die Opposition und die Justiz "eine Einheit schaffen - eine Front bilden“, sagt Gruhonjić.
    Auch der Filmregisseur Janko Baljak geht davon aus, dass es sich um die größten Studentenproteste in der serbischen Geschichte handelt. Es seien fast alle Fakultäten in Serbien besetzt, auch die Mittelschulen sowie die Kunst- und Kulturszene nehmen an den Protesten teil.
    „Manche denken, dass Serbien in einen Generalstreik gehen könnte, wenn die Arbeiterinnen und Unternehmer mitmachen. Das würde zum Fall der Regierung führen“, sagt Baljak. „Um ehrlich zu sein: Dieses Mal bin ich viel optimistischer als vorher.“

    tan