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Vor 125 Jahren geboren
Ein epochaler Filmkünstler: Sergej Eisenstein

Er gilt als einer der einflussreichsten Filmregisseure der Filmgeschichte. Die Montagetechnik seines Revolutionsfilms "Panzerkreuzer Potemkin" machte ihn weltberühmt. Geboren wurde Sergej Eisenstein vor 125 Jahren in Riga.

Von Hartmut Goege |
Sergej Eisenstein (links) 1930 zu Besuch bei Marlene Dietrich und Regisseur Josef von Sternberg während der Dreharbeiten zu "Der blaue Engel"
Sergej Eisenstein (links) 1930 zu Besuch bei Marlene Dietrich und Regisseur Josef von Sternberg am Set von "Der blaue Engel" (imago images / Sovfoto \ UIG / Sovfoto \ UIG via www.imago-imag)
„Ich kann mich meiner Herkunft nicht rühmen. Vater war kein Arbeiter. Mutter kam aus keiner Arbeiterfamilie.“
Für Sergej Eisenstein, am 23. Januar 1898 in Riga geboren, war die Oktoberrevolution 1917 eine Chance, sich der Autorität des Vaters zu entziehen. Während der Vater, ein deutsch-jüdischer Bauingenieur und Stadtarchitekt, nach Deutschland emigrierte, brach Eisenstein sein Studium ab und meldete sich zur Roten Armee:
„Wäre nicht die Revolution gewesen, hätte ich nie mit der Tradition gebrochen, dass der Sohn also wie der Vater Ingenieur werden musste. Der revolutionäre Sturm gab mir das Grundlegende: die Freiheit auf Selbstbestimmung.“

Film als Tor zur proletarischen Kunst

1920 ging Eisenstein zunächst als Bühnenbildner nach Moskau, um sich dem avantgardistischen „Proletkult-Theater“ anzuschließen. Früh schrieb er theoretische Aufsätze über neue Theaterkonzepte wie „Montage der Attraktionen“. Auch den Film sah er bald als Experimentierfeld, um von bürgerlichen Einflüssen freie, proletarische Kunst zu schaffen, so Eisenstein-Biografin Oksana Bulgakowa:
„Eisenstein meinte, dass erst der Film ihn zum Bolschewiken machte. Und die Filme, die er in den 1920er- Jahren machen konnte, waren die Filme über die proletarische Revolution. Weil sie ihm auch die Möglichkeit gaben aus dem alten traditionellen Verständnis, was Film und Kunst ist, auszubrechen.“

„Panzerkreuzer Potemkin" ein Jahrhundert-Filmkunstwerk

Im Zentrum seiner ersten Filme stand nicht der einzelne Held, sondern die Masse: Der 26-jährige Eisenstein war 1924 mit seinem ersten Film Streik über einen Arbeiteraufstand aufgefallen. Ein Jahr später beauftragten die Parteioberen ihn, einen Film anlässlich des 20. Jahrestages der ersten russischen Revolutionsbewegung zu drehen. Mit „Panzerkreuzer Potemkin“, über den Matrosenaufstand 1905, gelang Eisenstein ein weltweit gefeiertes epochales Filmkunstwerk. In Deutschland etwa begeisterte sich der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer.
„Dieser Film unterscheidet sich von amerikanischen und europäischen Filmen nicht durch die größere Kunst der Regieführung. Er hat die Wand durchstoßen, hinter die jene Filme nicht dringen. Er trifft eine Sache, die wirklich ist, er meint die Wahrheit, um die es zu gehen hat.“
Die Montage des Massakers auf der Hafentreppe von Odessa zählt zu den emotional eindrucksvollsten Sequenzen der Kinogeschichte. Die Zivilbevölkerung wird von zaristischen Soldaten brutal niedergemetzelt. Eisenstein dehnte das Blutbad auf der Treppe mit zahlreichen kurzen Einstellungen auf sechs aufwühlende Minuten: rhythmisch hinab stampfende Militär-Stiefel im Wechsel mit fliehenden Menschen, Gewehrschüssen, verzerrten Gesichtern, einer tödlich getroffenen Mutter, ihrem einsam hinabrollenden Kinderwagen.
1929 besuchte der nun weltberühmte Regisseur die Filmmetropolen Westeuropas, hielt Vorträge, reiste auf Einladung der Paramount nach Hollywood und versuchte dort vergeblich, Filmprojekte zu realisieren. 1932 musste Eisenstein in die Sowjetunion zurückkehren. Die Situation aber hatte sich seit Stalins Machtübernahme geändert, so Oksana Bulgakowa:
„In den 30er-Jahren wurden um ihn herum sehr viele nahe Freunde verhaftet. Sein Name fiel in den Protokollen der politischen Polizei, weil eine Künstler-Verschwörung ausgedacht wurde. Auch eine französische Zeitung fragte damals, ‚Ist Eisenstein schon im Gefängnis oder nicht?‘“

Zwischen Verdammung und Stalin-Orden

Die Experimentierfreudigkeit der 20er-Jahre war Stalins Kontrollwut gewichen, Eisensteins erster Tonfilm wurde als politisch verfehlt verurteilt. Seine Arbeit musste er öffentlich als entartet erklären. 1938 rehabilitierte sich Eisenstein mit dem Film „Alexander Newski“: Die Glorifizierung eines russischen Nationalhelden, der im Mittelalter eine siegreiche Schlacht gegen deutsche Ordensritter anführte. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurde auch dieses Werk verboten.
Seine letzte Arbeit, der dreiteilige Monumentalfilm „Iwan der Schreckliche“, sollte der Versuch werden, die stalinistischen Repressalien zu rechtfertigen. Kritiker aber waren sich uneinig, ob Eisenstein eine Verherrlichung im Sinne Stalins oder doch eine versteckte Tyrannen-Anklage gegen den Sowjetherrscher gelungen war. Für den ersten Teil erhielt er 1946 den „Stalin-Orden“, Teil zwei wurde verboten, der dritte Teil blieb unvollendet. Sergej Eisenstein starb 1948 in Moskau an Herzversagen, mit gerade 50 Jahren.
Filmszene aus "Iwan, der Schreckliche" von Sergej Eisenstein.
Filmszene aus "Iwan, der Schreckliche" von Sergej Eisenstein. (Imago / United Archives)