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Sergej Lochthofen
Erinnerungen an ein graues Land

Sergej Lochthofen, der Journalist und jahrelange Chefredakteur der "Thüringer Allgemeinen", hat seine Lebensgeschichte aus einem untergegangenen Land aufgeschrieben. Er erzählt in seinem Buch von Schule und Studium, von der Arbeit bei der SED-Zeitung "Das Volk", und von einer Farbe, die für ihn die gesamte DDR überlagerte: Grau.

Von Gemma Pörzgen |
    Der Journalist Sergej Lochthofen erzählt eigentlich von zwei untergegangenen Staaten, die sein Leben maßgeblich prägten. In der Sowjetunion lebte er als deutsches Kind und kehrte später als Kunststudent wieder zurück. In der DDR galt Lochthofen immer als Russe und behielt seinen sowjetischen Pass. Diese doppelte Identität des Autors durchzieht auf faszinierende Weise sein Buch „Grau. Eine Lebensgeschichte aus einem untergegangenen Land". Es erinnert daran, wie stark die ostdeutsche Lebenswirklichkeit mit dem sowjetischen Bruderstaat verbunden war – nicht nur in dieser ungewöhnlichen Biografie. Lochthofen schreibt dazu:
    "Dass ich im Gulag auf die Welt kam und doch eine behütete Kindheit hatte, dass ich von dort nach Deutschland kam und nicht irgendwohin in die Steppe, dass es der Osten war und nicht der Westen, Gotha und nicht Berlin, dass ich in eine russische und nicht die deutsche Schule ging, einen sowjetischen Pass und nicht einen Ausweis der DDR besaß. Nichts davon ist selbstverständlich. Vermutlich auch nicht, dass ich keine Heimat habe."
    Die Erzählung dieses Lebens führt vom sowjetischen Arbeitslager in Workuta nach Thüringen, wo Lochthofen als einziges Kind eines Zivilisten die sowjetische Garnisonsschule besucht. Die Ehe der Eltern zerbricht. Sergej und sein Bruder Pawel leiden unter den Ausbrüchen der russischen Mutter. Später reist der junge Mann auf die Krim, um ein paar Semester Kunst zu studieren. Dort besucht er gerne seinen russischen Großvater auf dem Dorf. Um der Einberufung zur Sowjetarmee zu entgehen, kehrt Lochthofen zurück in die DDR, deren trister Alltag in dem Buch breiten Raum einnimmt. Den Titel des Buches "Grau" hat Lochthofen sehr bewusst gewählt, um die DDR so zu charakterisieren:
    "Nicht wenige blicken heute auf das Leben von damals durch ein grobes Raster: Schwarz und Weiß. Mehr nicht. Es gibt Gründe dafür. Doch in meiner Erinnerung waren es vor allem die Grautöne, die das Leben in der Deutschen Demokratischen Republik prägten. Das Grau des „Industrienebels" über den Dächern der Stadt, der nicht Smog heißen durfte. Das Grau der abgeschabten Fassaden der Häuser. Das Grau im Gesicht der jungen Frauen, die gehetzt nach der Arbeit die Kinder aus der Krippe holten. Graue Autos. Graue Kaufhallenregale. Das Grau der Zirkulare und Parteibeschlüsse... Grau in allen Schattierungen. Als sei jede andere Farbe mit Schimmel überzogen. Graue Menschen in einem grauen Land."
    "Kein Vollidiot"
    Dennoch lugt inmitten dieser Grautöne das pralle Leben hervor. Lochthofen erzählt zahlreiche Anekdoten aus dem DDR-Alltag. Leider gehört es zu den Schwächen des Buches, dass der Autor sich an manchen Stellen zu stark in kleinteiligen Episoden verliert. Aber es gelingt Lochthofen dann auch wieder, die Stimmung dieser vergangenen Zeit einzufangen. So schildert er mit einigem Humor, wie sein Vater ihn bei der damaligen SED-Bezirkszeitung „Das Volk" unterbrachte. Das Vorstellungsgespräch in der Redaktion verlief dann so:
    "Die beiden Männer, die vor mir saßen, waren nicht nur gleich groß, sie sahen sich auch ähnlich. Beide hatten nach hinten gekämmte graue Haare, beide trugen graue Hosen und weiße Campinghemden mit kurzen Ärmeln, hatten rote Schlipse um, immerhin, der eine grau gestreift, der andere gepunktet, und beide hatten cremefarbene Schuhe an. Es war mir schon klar, dass ich in ihr Weltbild nicht passte. Mit gespannten Mienen hörten sie meine ersten paar Worte an. Der „Probierer" hatte wohl vergessen zu sagen, dass ich Deutsch sprach. Nun waren sie froh, dass sie der Redaktion keinen Vollidioten präsentieren mussten, der außer „Guten Tag" und "Auf Wiedersehen" nichts konnte."
    Damit war der Einstieg in die Redaktion geschafft, aber Lochthofen erlag anfangs noch einigen Illusionen: "Die ostdeutschen Zeitungen waren nicht besser als die russischen. Im Grunde noch zahnloser. Und „Das Volk" war keine Ausnahme. Trotzdem: Journalist klang irgendwie gut. Hätte ich die Zeitungen nur gelesen, dann hätte es mich vielleicht abgeschreckt. Aber so lebte in mir ein romantisches Bild von einem Menschen, der dazu berufen war, anderen die Welt zu erklären, um sie jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Aufrecht, kritisch unbestechlich. Im Fernsehen, im Kino, in meinen Büchern war es ein aufregender Beruf, er versprach Abwechslung und gute Geschichten. Dass diese Vorstellung mit der Realität nichts zu tun hatte, ging mir später auf."
    Zu frühes Ende
    Die Realität holte den Redakteur in der DDR schnell ein. Lochthofen beschreibt die politische Beeinflussung durch die SED, die Intrigen unter den Kollegen, aber auch alltägliche Momente des Redaktionsalltags. Umso euphorischer erlebte der Journalist später die Wende und den journalistischen Neuanfang. 1990 wird aus dem einstigen Parteiorgan die "Thüringer Allgemeine".
    "Die Reaktion der Leser ist überwältigend. Eine Woge der Sympathie trägt uns durch den Tag. Die Leser stehen am Kiosk Schlange. Nach der Mittagskonferenz trifft sich der Redaktionsrat im Zimmer des Chefredakteurs. Dr. Peter und der Gesandte des Verlagsrats sind auch dabei. Jemand hat sie Auszeichnungen der Zeitung aus der Vitrine genommen. Eine leere Schachtel, wo einst das 'Banner der Arbeit' lag."
    Es folgt noch eine kurze Schilderung von Lochthofens Rede bei einer Kundgebung auf dem Erfurter Domplatz am 18. Januar 1990, in der er die Unabhängigkeit seiner Zeitung von der SED besiegelte. Dann endet das Buch plötzlich unvermittelt. Der Autor spart leider die folgenden Jahre völlig aus. Dabei wird Lochthofen von seinen Kollegen zum Chefredakteur der „Thüringer Allgemeinen" gewählt. Als einziger Ostdeutscher schafft er es, in den Nachwendejahren an der Spitze einer regional bedeutenden Zeitungsgruppe zu stehen. Auch seine Ablösung 20 Jahre später aufgrund des rigiden Sparkurses der WAZ-Gruppe bleibt leider völlig unerwähnt. Das Buch endet mit dem Ende der DDR.
    Sergej Lochthofen: „Grau. Eine Lebensgeschichte aus einem untergegangenen Land"
    496 Seiten, Rowohlt Verlag, 19,95 Euro
    ISBN: 978-3498039448