Rüdiger Achenbach: Herr Ginzel, wenn man etwas von Jesus von Nazareth erfahren will, dann ist man allein auf die christlichen Quellen angewiesen. Von den nicht-christlichen Schriftstellern seiner Zeit wird er nicht erwähnt – auch nicht im Judentum. Liegt es vielleicht daran, dass es damals im jüdischen Umfeld viele Personen gab, die in ähnlicher Weise wie Jesus aufgetreten sind?
Günther Ginzel: Ja, es war eine aufgeregte Zeit, es war eine Zeit der Rebellion, der messianischen Naherwartung. Man war von den Römern unterdrückt. In der Tat sind uns mindestens zwei, drei Dutzend Personen auch namentlich bekannt, die als Messias verehrt wurden oder den Anspruch erhoben, Messias zu sein oder Vorboten des Messias zu sein. Es war also eine Zeit, in der zahlreiche Messiasse auftraten. Jesus war, so er sich denn selbst dem Volk als Messias überhaupt vorgestellt hat, einer unter vielen.
Achenbach: Das heißt also, er ist als Wanderprediger aufgetreten. Zu seiner Botschaft gehörte ja wesentlich die Ankündigung des Kommens des Reiches Gottes. Wie ist diese eschatologische Bewegung überhaupt zu verstehen?
Messias-Vorstellungen im Fluss
Ginzel: Da muss man sehen, dass sich jüdische Messias-Vorstellungen im Fluss befinden – seit damals. Die Bibel sagt so gut wie überhaupt nichts davon. Es ist gar nicht so ohne Weiteres möglich, ein klares, jüdisches Messias-Bild aus der Bibel zu filtern, in dem man sagt, so ist es. Sondern hier geht es um Andeutungen und Interpretation. Eine der Interpretation ist die bekannte Geschichte, dass aus dem Hause David dereinst der Messias kommen werde. Das war nicht zuletzt bei den Propheten wichtig. Aber zunehmend war in der Zeit, über die wir jetzt sprechen, das Entscheidende, nicht nur, dass der Messias kommt, dass alles neu wird, dass ein neuer Bund geschlossen wird, dass eine Völkerwallfahrt nach Zion eintritt, sondern das Entscheidende war: Bereitet euch auf diese Zeit vor. Tut etwas, um diese Zeit mit herbei zu führen. Und das bedeutet, geht in euch, kehret um.
Achenbach: Das heißt, man verstand sich sozusagen in der Erwartung der Endzeit.
Ginzel: Zu mindestens ein Teil. Es ist nicht so ohne Weiteres zu beantworten, wie weit war das jetzt verbreitet. Also ganz offensichtlich waren es beträchtliche Teile des Volkes, die das so ergriffen hat. Ob das jetzt zum Beispiel für die Oberschicht galt, dürfte füglich bezweifelt werden, denn solche Gedanken erschütterten ja ihre Macht. Das heißt also, ob das – wie wir heute sagen würden – das Establishment ähnlich messianisch gestimmt war mit der Maßgabe, demnächst geben wir unsere Macht ab und ein Höherer kommt. Ich nehme an, dass die die Zeitläufte ganz anders interpretiert haben. Dementsprechend gab es sehr unterschiedliche Strömungen. Sicherlich auch Strömungen, die das, was wir eben dargestellt haben, entweder als Ausdruck der Verwirrung oder gar als politisch gefährlich eingestuft haben.
Achenbach: Man bezeichnet das ja als eine apokalyptische Tradition. Es gab sehr viele apokalyptische Schriften, die in dieser Zeit und dann auch später daraufhin entstanden sind. Ein wesentlicher Punkt für die Apokalypse ist in der hebräischen Bibel vor allem das Buch Daniel gewesen. Das Buch Daniel ist in einer Zeit entstanden, in dem das Nachfolgereich von Alexander dem Großen, unter den Seleukiden eine hellenistische Weltkultur sozusagen im Vorderen Orient eingeführt hat. Da gab es Protest aus dem Judentum, vor allem aus den frommen Kreisen, die sich auch dagegen gewehrt haben. Und es gab ja zwei wesentliche Punkte für diese Apokalypse. Das ist einmal: Helfen kann eigentlich nur ein gesandter Gott, der zum Ende der Zeit erscheint. Voran geht eine Zeit der Not. Und auf der anderen Seite – und das ist für das Judentum an der Stelle ja auch etwas Neues – es gibt auch den Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit, in dem man nun auch von der Auferstehung der Toten redet, was ja in der alten klassischen Literatur des Judentums so überhaupt nie vorgekommen war.
Ginzel: Das ist das, was ich eben sagte, dass sich die Messias-Vorstellungen im Fluss befinden. Man hat immer wieder neu die Schriften studiert und darin entdeckt und gesagt – aha, zu den paradiesischen Zeiten gehört das und das. Und in der Tat: Die Auferstehung von den Toten wurde ganz entscheidend. Nun gab es natürlich unterschiedliche und unterschiedlichste Judentümer. Es gab das Judentum des Hellenismus, und zwar nicht nur das in der griechischen Diaspora, sondern auch ein großer Teil der jüdischen Oberschicht was fasziniert von griechischer Kultur und versuchte, dies miteinander zu verbinden. Es gab die Oppositionsbewegung dagegen, es gab die Protestbewegung dagegen. Das ist nicht zuletzt eben auch diese apokalyptische Bewegung, die dann in der eigenen politischen Machtlosigkeit auf das Eingreifen des Himmels hoffte, auf das Eingreifen eines Gesandten hoffte, auf das Eingreifen des Menschensohns hoffte. Dass dann auch sozusagen die eigenen Zeitläufte versuchte, entsprechend zu deuten. Man muss das ja realistisch sehen. Man hat eine konkrete Situation und überlegt sich, warum ist die so. Man schaut sich die Schrift an und sagt – ah, da finde ich eine Antwort. Mit anderen Worten, da steht eben doch auch geschrieben, dem allen geht eine schreckliche Zeit voraus. Ist es jetzt vielleicht diese schreckliche Zeit? Durchleben wir jetzt im Moment sozusagen unserer Apokalypse, unsere Katastrophe? Und am Ende kommt die Erlösung, kommt die Berufung, kommt vor allen Dingen – und das ist natürlich in diesen Notzeiten immer wichtig – die Wiederauferstehung der Toten, und nicht zuletzt der Opfer, der Märtyrer. Ein wunderbarer Gedanke für ein unterdrücktes Volk, für ein Volk mit vielen Opfern. Sie sind nicht umsonst gestorben, wir werden uns wiedersehen.
Achenbach: Gerade dieser Gedanke der Totenauferstehung, der in einigen Gruppierungen ja eine ganz besondere Bedeutung im Judentum bekommt, wird aber gerade von der Elite, der sogenannten Priester-Aristokratie, kategorische abgelehnt.
Unterschiedliche Auslegungen zur Totenauferstehung
Ginzel: Ja. Hier müssen wir einfach sehen, es durchzieht ein Charakteristikum das Judentum seit seiner Existenz. Bereits in den biblischen Zeiten selbst, bereits die Bibel selbst legt dafür Zeugnis ab, dass wir unterschiedliche Quellen haben und unterschiedliche Auslegungen. Das heißt, die Frage, wie ist eine klare biblische Stelle oder wie sind zwei unterschiedliche biblische Stellen zu interpretieren, führte dazu, dass man diskutieren musste, dass also die Suche nach Antworten zu einem System im Judentum selbst wurde. Und das bedeutet verschiedene Antworten, verschiedene Schulen, die meinten, dass ihre Antwort richtig ist. Und die Sadduzäer, die vor allen Dingen identifiziert werden mit einer griechisch-römisch orientierten jüdischen Oberschicht, die den Tempel beherrschten, die die Macht innehatten, sie waren ganz offensichtlich die Konservativen, diejenigen, die an alten Traditionen festhielten. Und da man in den ganz frühen Traditionen zwar so ein Schattenreich der Toten hatte, ohne dass man darüber über Scheol nachgedacht hat. Jetzt aber auf einmal wurde es klar, weil andere Interpretationen kamen und sagten, das ist das Zeichen der messianischen Zeit. Die Auferstehung von den Toten, sagten sie, es gibt keine Auferstehung von den Toten, für sie ein Dogma, lehnen wir ab.
Achenbach: Sie beriefen sich also kategorisch auf die fünf Bücher Mose, das heißt auf die Thora. Und sagten, alles, was danach gekommen ist, ist für uns dann nicht von Bedeutung, weil für sie ja religiös der Tempelkult gilt, der dort in den ersten fünf Büchern Mose genau beschrieben wird, weil der eigentlich das Zentrale war für die Aristokratie der Sadduzäer.
Ginzel: Ja, so ist es. Man muss auch verstehen, der Tempelkult war ja Ausdruck einer Frömmigkeit, wie sie in der Antike üblich war. Und es war letztendlich der wichtigste Ausdruck eines Gottesdienstes. Wir leben heute in ganz anderen Zeiten – auch in ganz anderen jüdischen Zeiten. Also von daher muss man eben sehen, dass die Sadduzäer nicht nur böse Menschen waren, sondern sie hielten an dem fest, womit sie groß geworden sind, wie ehren wir am besten Gott. Indem wir die in der Thora vorgeschriebenen Opfer darbringen. Indem wir uns voll mit Gott identifizieren. Wir reinigen uns im Opfer, wir verzehren einen Teil des Opfers und fühlen uns Gott nah. Das war ja nicht nur irgendein abgehobenes Zeremoniell, sondern das war in der Tat Ausdruck der Liebe zu Gott, Ausdruck der Einheit mit Gott. Und gleichzeitig war natürlich der Opferkult mit Machtpositionen verdreht. Man konnte sagen, der Tempel in Jerusalem war der Vatikan des Judentums in der Antike. Wir hatten hier eine Aristokratie mit dem Anspruch, wir bestimmen, was richtig ist. Unsere Position ist sozusagen ex cathedra – so muss es sein, so wird es gemacht, Schluss. Deswegen war die Tempelaristokratie natürlich auch höchst misstrauisch gegenüber den vielen Dingen, die im Lande passierten, die diese Machtstellung, dieses Monopol auf Interpretationen der Willen Gottes, radikal ablehnten.
Achenbach: Und dieses Monopol war ja auch an Familienverbände gebunden. Das war ja kein demokratisches System. Man wurde in diese Ämter ja nicht direkt hinein gewählt, sondern nur gewählt aus den entsprechenden Familien.
Ginzel: Einmal das. Und zum anderen war es natürlich Hort der Korruption, Hort der Intrige mit allen hässlichsten Mitteln ausgetragener Machtkämpfe – das heißt also auch mit Mord und Totschlag. Die Propheten werden ja nicht müde, dies zu kritisieren. Wir haben ja schon in der Bibel relativ viele äußerst kritische Berichte, denn das ist ja das Spannende am jüdischen Schrifttum, das es auch diese Fehlentwicklungen festhält. Das wurde ja später auch zur Einladung anti-jüdischer Polemiken, weil man eben nicht nur die Offenbarungen und das Große in den Schriften finden konnte, sondern eben auch das Versagen, den Abfall und eben zum Beispiel hohe priesterliche Familien, die um Macht und Einfluss mit allen Mitteln vom Giftmord bis zum Rufmord kämpften. Auch das war natürlich ein Grund dafür, dass es immer auch eine Opposition – weniger gegen den Opferkult – gab, wohl aber gegen jene, die in dominierten und lenkten.