Rüdiger Achenbach: Herr Hornung, wenn man versucht, dem sogenannten esoterischen Ägypten auf die Spur zu kommen, stößt man zum Beispiel auch auf die Pyramiden, die ja lange Zeit mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben waren, weil sie eben seit der späten Antike bis zur Neuzeit völlig unbekannt waren. Unbekannt war der Sinn und Zweck, warum sie aufgebaut wurden. Welche Vorstellung hat man denn damals mit diesen gigantischen Bauwerken verbunden?
Erik Hornung:Die Pyramiden hatten nicht nur, sondern haben immer noch den Zauber des Geheimnisvollen. Wobei sich in der Pyramidenmystik, wie man sie gerne nennt, in sehr eigenartiger Weise uralte Traditionen mit relativ jungen mischen. Die Vorstellung von geheimen Kammern angefüllt mit Schätzen ist eine sehr alte Vorstellung, die schon die Fantasie der mittelalterlichen arabischen Schriftsteller beflügelt hat.
Achenbach:Man hat also erwartet, dass man dort Schätze finden kann? Noch heute tut man das.
Hornung: Ja, noch heute treten ja jedes Jahr Amateur-Archäologen auf, die fest davon überzeugt sind zu wissen, in welcher Kammer König Phiops mit all seinen Schätzen bestattet ist. Ich pflege in solchen Fällen immer zu sagen: Behalten Sie um Gottes Willen Ihr Wissen für sich, verraten Sie es niemand, damit die Totenruhe von Phiops nicht durch moderne Schätzgräber gestört wird.
Achenbach: Es gibt ja nun auch andere Bilder. Sie haben ja gerade die Schatzkammern angeführt. Aber es gab ja zum Beispiel auch die Vorstellung, dass es sich um Kornspeicher handele.
Hornung: Ja, das war im Mittelalter vorübergehend bei christlichen wie arabischen Schriftstellern eine Vorstellung. Man suchte eben in Ägypten nach den Spuren des Alten Testamentes und glaubte, in den Pyramiden jene Kornspeicher zu erkennen.
Achenbach: Also die Kornspeicher, die in der Josephsgeschichte im Alten Testament gegen die Hungersnot gebaut werden.
Hornung: Ja, genau. Und hat sich dabei eben völlig falsche Vorstellungen von den Pyramidenbauten gemacht - mit niedrigen Fenstern, durch die man das Korn einfüllen konnte, die ja in Wirklichkeit überhaupt nicht existieren. Aber diese Vorstellung ist - wie gesagt - dann doch sehr bald aufgegeben worden.
"Pyramiden selber sind reine Grabstätten"
Achenbach: Ja, vor allem durch die Archäologie kam ja dann der sogenannte Fluch der Pharaonen auf, die die Pyramidenmystiker in besonderer Weise beeinflusst hat.
Hornung: Ja, auch das finden wir im Grunde schon bei den arabischen Schriftstellern des Mittelalters, die eben als Hüter dieser ungeheuren Schätze, die sie in den Pyramiden vermutet haben, Dämonen annahmen, die eben jeden Unberufenen abschrecken und verfolgen würden. Das wurde dann in der Neuzeit wieder aufgegriffen. Vor allem hat da der Fund der Königsmumien in Theben 1881 sehr auf die Fantasie gewirkt. Conan Doyle, der bekannte Kriminalschriftsteller, hat ja auch dann Ende des Jahrhunderts einen Roman - "Der Ring des Thot" - veröffentlicht, wo auch der Fluch der Pharaonen eine Rolle spielte. Dann vor allem nach der Entdeckung des Tutenchamun-Grabes neue Triumphe feierte.
Achenbach: Man kann also feststellen; die Pyramidenmystik wird sich also weiterhin halten, denn sie ist wahrscheinlich viel zu interessant mit ihren geheimnisvollen Spekulationen. Nun wissen wir heute, dass es sich bei den Pyramiden um Grabstätten für Pharaonen handelt. Hatten diese Bauwerke im alten Ägypten denn auch eine sakrale Funktion?
Hornung: Die Pyramiden selber sind ja reine Grabstätten, zu denen Kultbauten gehörten - außerhalb der eigentlichen Pyramiden, also in Form von Tempeln, Säulenhallen und so, in denen dann der eigentliche Totenkult stattfand. Also insofern waren die Pyramiden Anlagen, auf jeden Fall auch Kultanlagen, aber nicht die Pyramiden selber. Das ist eine Vorstellung, die sich im Grunde über die Antike hinaus gehalten hat, dass man in den Pyramiden wirklich Grabstätten gesehen hat. Erst im 18. Jahrhundert treten daneben ganz neue Vorstellungen, die bis heute nachwirken, vor allen die Vorstellung von der Cheopspyramide. Das ist ja eigenartigerweise immer wieder die Cheopspyramide, obwohl die Ägypter noch hundert andere Pyramiden gebaut haben.
Achenbach: Und sie steht immer in Mittelpunkt.
Hornung: Ja im Mittelpunkt, weil es eben die größte ist, die auffälligste. Eine der modernen Legenden lässt sich ganz genau datieren. 1731 hat Abbé Terrason einen Roman mit dem Titel "Setos" veröffentlicht, in dem er das Leben eines ägyptischen Prinzen schildert. Dieser Prinz wird in einem bestimmten Moment, in der Cheopspyramide eingeweiht - nach allen Regeln der Kunst, also auch mit Elementenprobe.
Hoffnung auf eine Universalsprache durch Hieroglyphen
Achenbach: Also eingeweiht in einen Mysterienkult.
Hornung: Ja, in einen Mysterienkult. Diese Einweihung, die viele Stadien durchläuft, die braucht Platz. Deswegen musste Terrason die Pyramiden mit einer ganzen Flucht von Sälen ausstatten - sogar mit einem unterirdischen Wasserfall. Obwohl das ausgesprochen märchenhafte Züge sind, wirkt das bis heute nach. Noch heute vermuten die meisten esoterischen Gruppierungen in der großen Pyramide eine Einweihungsstätte - und kein Grabmal.
Achenbach: Das heißt, der Roman ist ja über 200 Jahre hin immer wieder zitiert worden.
Hornung: Ja, er wird heute nicht mehr gelesen. Aber im 18. Jahrhundert hatte er sehr großen Einfluss - ist übrigens auch eine der Quelle für Mozarts Zauberflöte - und wurde dann sofort bei den Freimaurern und Rosenkreuzern aufgegriffen - und später dann bei Philosophen und Anthroposophen.
Achenbach: Bevor wir auf dieses esoterische Gedankengut näher eingehen, noch eine andere Frage. Zu einem Bild von einem geheimnisvollen Ägypten gehören ja besonders auch die Hieroglyphen - also die Schrift aus dem alten Ägypten. Die Kenntnisse, diese Schrift zu lesen, waren ja verloren gegangen. Da lag es natürlich nahe, diese Schrift auch für eine Geheimsprache zu halten, die nur Eingeweihten, also den Priestern im alten Ägypten bekannt war. Wie ist man auf diese Vorstellung gekommen?
Hornung: Ja, das knüpfte man eigentlich direkt an antike Überlieferungen wieder an, die nur den symbolischen Gehalt der Hieroglyphen betonten. Man hatte in der Spätantike durchaus noch korrekte Kenntnisse über die Lesung zum Beispiel von Hieroglyphen. Aber das wurde überlagert von einer rein symbolischen Deutung. Das wurde nun in der Renaissance, als man diese Quellen wieder entdeckte, sofort aufgegriffen. Man hatte nun die Hoffnung, dass man über die Hieroglyphen zurückkäme zu einer Art Ursprache und Universalsprache, die gewissermaßen vor die Sprachverwirrung am Turm von Babel zurückführt und einem wieder die Sprache lehren könnte, die Adam im Paradies gesprochen hat. Zugleich waren diese symbolischen Zeichen geeignet für jegliche Sprache. Das heißt, unabhängig von einer ganz konkreten Sprache - also auch darin eine Art Universalsprache, die von allen Menschen verstanden werden könnte.
Achenbach: Also die Tatsache, dass man diese Schrift nicht lesen konnte, hat natürlich enorm dazu beigetragen, sie auch als besonders geheimnisvoll anzusehen. Sie dann zu enträtseln, zu entschlüsseln.
Hornung: Es kommt ja noch ein Umstand hinzu, den man leicht vergisst. Wir haben aus der Antike eben nur Beschreibungen von Hieroglyphen und ihrem symbolischen Wert, aber ohne Illustrationen. Das heißt, man hat in der Renaissance dann zu diesen Beschreibungen, die man jetzt wieder kannte, hat man neu Illustrationen geschaffen - mit Fantasiehieroglyphen, die überhaupt nichts mehr mit dem alten Ägypten zu tun haben, aber ein ganz zähes Eigenleben entfaltet haben, auch noch die Barockzeit beeinflusst haben.
Ägyptenbild wurde nur in der Wissenschaft revidiert
Achenbach: Das war dann ja 1822 zu ende, als Jean-François Champollion die Hieroglyphen entziffert hat. Was war denn der Auslöser für seine Entdeckung?
Hornung: Auch er musste sich zunächst von dem Vorurteil freimachen, dass die Hieroglyphen eine rein symbolische Lesung haben. Es hat dann als gewissermaßen neue Arbeitshypothese auch erst Lautzeichen angesetzt. Und in dem Moment gelang 1822 die Entzifferung - und zwar wirklich auf einen Schlag.
Achenbach: Das heißt, seine eigentliche Entdeckung war, keine symbolische Bildersprache in den Hieroglyphen zu sehen, sondern eine Lautschrift.
Hornung: Vorwiegend ja - eine Mitschrift im Grunde. Es gibt auch Zeichen, die einen gewissen Symbolgehalt haben. Aber es gibt daneben reine Lautzeichen, sogar alphabetische Zeichen.
Achenbach: Das heißt, man muss sich dann ein Bild vorstellen, das für einen bestimmten Buchstaben, in dem Fall für einen Konsonanten steht, denn es ist eine reine Konsonantensprache.
Hornung: Richtig, ja. Nehmen wir als Beispiel den Konsonanten "m". Den hätte man theoretisch mit der Katze - "mio" ägyptisch - oder am Löwen - "mai" - schreiben können. Man hat den Laut aber mit der Eule geschrieben, die ägyptisch "im", Klagevogel, heißt. Das war einfach eine bewusste Auswahl aus mehreren Möglichkeiten.
Achenbach: Als man nun die Hieroglyphen lesen konnte, führte das dann nicht auch zu einer großen Entmystifizierung des überlieferten Ägyptenbildes?
Hornung: In gewissem Sinne ja, allerdings eigentlich nur in der Wissenschaft. Die Wissenschaft hat sich dann sehr schnell befreit von dem antiken Ägyptenbild, gewissermaßen die griechische Brille beiseitegelegt, die manches dort verzerrt und verfremdet hatte. Man konnte ja jetzt - dank der Entzifferung - die Originalquellen Alt-Ägyptens unmittelbar sprechen lassen.
Achenbach: Und dadurch natürlich etwas ganz anderes erfahren, was man vorher interpretiert hatte.
Hornung: Das Eigenartige ist, dass daneben diese andere von der Antike geprägte Ägyptenbild immer noch weiter lebte.
Achenbach: Das schon eine 2.000 Jahre alte Tradition hatte.
Hornung: Eben bis heute, bis in die modernsten afrozentrischen Bewegungen, die alle Weisheit aus Schwarz-Afrika ableiten wollen - auch die sind immer noch von den antiken Autoren von Diodor, Plutarch und so weiter bestimmt und nicht von der modernen Ägyptologie.
Berührungspunkte zwischen Ägyptologie und Ägyptosophie
Achenbach: Wie steht denn die Ägyptologie heute zu dieser alten Tradition der sogenannten Ägyptosophie?
Hornung: Tja, man hat eigentlich das antike Ägyptenbild durchaus gelten lassen als ein Bild seiner Zeit, aber man dieses moderne Fortleben eigentlich völlig ignoriert. Es gibt da einfach gewisse Berührungsängste.
Achenbach: Also Ägypten als zeitlose Idee, könnte man so sagen?
Hornung: Ja, eben. Und zwar vor allem als Quelle allen Geheimwissens. Das hat man in der Ägyptologie völlig beiseitegeschoben und wollte mit dieser esoterischen Linie eben eigentlich nichts zu tun haben.
Achenbach: Wie sehen Sie das denn? Gibt es überhaupt Berührungspunkte zwischen der Wissenschaft Ägyptologie und der Ägyptosophie?
Hornung: Ich glaube, dass es da durchaus Berührungspunkte gibt und noch mehr gäbe. Die Ägyptologie hat ja eine ganze Reihe von religiösen Texten erschlossen, die auch im gewissen Sinne esoterische Weisheiten enthalten. Etwa die ausführlichen Beschreibungen von der Unterwelt, der nächtlichen Sonnenfahrt. Da ergeben sich Berührungspunkte. Nur die moderne Ägyptosophie als esoterische Strömungen, die sich zum Teil an diese Quellen noch gar nicht herangegangen oder man ist als Aufbereitung noch gar nicht herangekommen.