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Serie: Die grosse Vielfalt religiösen Lebens in Israel
Warum orthodoxe Juden Religion und Staat stärker trennen wollen

Orthodoxes Judentum wird oftmals gleichgesetzt mit israelischer Regierungspolitik oder dem Oberrabbinat. Dabei werden orthodoxe Strömungen übersehen, die in andere Richtungen denken. Ihnen fühlt sich der Historiker und Journalist Gershom Gorenberg verbunden.

Von Andreas Main |
    Eine junge Frau mit Kippa
    Um das, was er als den Kern des Jüdischen ansieht, zu bewahren, plädiert Gershom Gorenberg für eine Neugründung Israels. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Orthodoxes Judentum wird oftmals gleichgesetzt mit israelischer Regierungspolitik oder dem Oberrabbinat. Dabei werden orthodoxe Strömungen übersehen, die in andere Richtungen denken. Ihnen fühlt sich der Historiker und Journalist Gershom Gorenberg verbunden.
    "Was den jüdischen Staat zerstören würde? Ganz einfach! Wenn die Besatzung der Palästinensergebiete weitergeht - und zwar bis zu dem Punkt, an dem wir keine andere Wahl mehr haben als die Annexion und die volle israelische Staatsbürgerschaft für alle, die zwischen Jordan und Mittelmeer leben. Dadurch würden Juden zu einer Minderheit in diesem Staat - und es gäbe keine Selbstbestimmung mehr für das jüdische Volk."
    Der Mann, der diese scharfe Kritik an der israelischen Regierungspolitik übt, trägt Kippa und Bart. Ganz offensichtlich ist Gershom Gorenberg religiöser Jude. Was ihn als Publizisten antreibt, erklärt er so:
    "Alles, was ich hier sage, sage ich als religiöser Jude, als orthodoxer Jude, als jemand, der es für wichtig hält, die jüdische Religion zu bewahren und weiterzuentwickeln. Es ist nicht nur die politische Situation, die mir große Sorgen macht, sondern auch, wie sich das auswirkt auf die Religion, die zu dem zählt, was mir am wichtigsten ist."
    Staat und Synagoge sollen sich nicht protegieren und subventionieren
    Orthodoxes Judentum wird oftmals gleichgesetzt mit israelischer Regierungspolitik oder dem Oberrabbinat. Dabei werden orthodoxe Strömungen übersehen, die in andere Richtungen denken und denen Gorenberg sich verbunden fühlt:
    "Ich stehe politisch links von der Mitte. Ich bin orthodox, benutze diese knappe Bezeichnung aber nur, weil sie so verbreitet ist und verstanden wird. De facto stammt der Begriff 'orthodox' wohl eher aus anderen Kulturen und passt überhaupt nicht zum Judentum, weil 'orthodox' bedeutet rechtgläubig. In anderen Religionsgemeinschaften ist Rechtgläubigkeit zentral. Aber im Judentum sind viele theologische Deutungen möglich. Für mich wäre es also korrekter zu sagen: Ich bin ein halachischer Jude, ich strebe danach, mein Leben an der Halacha auszurichten, entsprechend der jüdischen Tradition, die uns lehrt, wie wir unseren Alltag leben sollen."
    Dass es einen Staat braucht, in dem Juden ihre jüdischen Traditionen leben können, ist für Gorenberg zentral. In diesem Sinne ist er Zionist. Wenn sich jedoch Staat und Synagoge wechselseitig protegieren und subventionieren, sei das kontraproduktiv. Er sei in vielerlei Hinsicht ein Kritiker des freien Marktes, sagt Gorenberg mit einem Augenzwinkern. Aber in Religionsfragen sei Staatseigentum ein Irrweg. Fördere ein Staat bestimmte religiöse Richtungen, habe das nur eine Folge:
    "Das korrumpiert die Religion. Dann ist eine staatliche Bürokratie für religiöse Entscheidungen verantwortlich. Damit setzt sich die Religion politischen Machtspielen aus. Klientelpolitik ist die Folge. Außerdem verliert die jüdische Hierarchie so den Kontakt zur Basis. Wenn aber Staat und Religion getrennt sind und die religiösen Körperschaften nicht mehr auf Unterstützung des Staates zählen können, dann müssen sie beweisen, dass sie relevant sind. Das stärkt sie. Das etablierte Verhältnis von Synagoge und Staat hingegen schadet sowohl dem Staat als auch der Religion."
    Religion werde korrumpiert, sagt Gorenberg. Noch weiter ging der 1994 verstorbene Religionsphilosoph Yeshayahu Leibowitz, auf den sich Gorenberg oft beruft. Die Synagoge, mache sich, wenn sie sich vom Staat aushalten lässt, zur Prostituierten, schrieb Leibowitz, und zitierte die Bibel: Du sollst keinen Dirnenlohn in den Tempel des Herrn, deines Gottes, bringen.
    Essenzielle jüdische Werte werden verdrängt
    "Der Staat entscheidet dann, welche Rabbiner die Orthodoxie vertreten, und gibt diesen Rabbinern die Gelegenheit, das Judentum, das so unterschiedlich interpretierbar ist, einseitig zu interpretieren. Diese Kleriker-Hierarchie achtet vor allem darauf, was noch konservativere Vertreter über sie denken, und nicht darauf, wie sich ihre Entscheidungen auf die Menschen im Land auswirken. Sie müssen sich ja auch nur gegenüber ihrer eigenen Hierarchie verantworten, die wiederum eng verzahnt ist mit dem Staat. Das Oberrabbinat entscheidet dann auf der Basis von Koalitionsvereinbarungen und Parteipolitik. Das ist eine enge, ausgesprochen verzerrte Ausprägung des orthodoxen Judentums."
    Essenzielle jüdische Werte würden in dieser Gemengelage übersehen oder verdrängt. Aus Gershom Gorenbergs Sicht sollte ein jüdischer Staat ein Staat sein, in dem die Sprache, die Feiertage, der Kalender und die öffentliche Debatte jüdisch geprägt seien. Das bedeute aber nicht, andere auszuschließen. Denn ein jüdischer Staat sei erst dann jüdisch, wenn auch jüdische Werte implementiert seien: vor allem der Respekt vor dem Anderen. Dies sei das zentrale Thema der Tora.
    Auch andere jüdische Traditionen gerieten zurzeit in Vergessenheit, kritisiert Gorenberg, etwa die universale Idee, jeder Mensch sei als Abbild Gottes geschaffen, oder die Bereitschaft des Judentums, sich immer neu zu erfinden:
    "Das Medium ist die Botschaft. Der heilige Text ist die Erörterung verschiedener Deutungen, nicht eine Deutung. Wer sich ernsthaft mit jüdischer Tradition befasst, entscheidet sich zwischen verschiedenen Deutungen. Wenn jemand beansprucht, der heilige Text verlange eindeutig dies oder jenes von ihm, dann missinterpretiert er das Judentum. Die Vielfalt der Interpretationen - das macht unsere Tradition aus. Und wenn Machtstrukturen des Staates sich für eine Deutung unserer Tradition entscheiden, dann ist das zutiefst unjüdisch."
    Um das, was er als den Kern des Jüdischen ansieht, zu bewahren, plädiert Gorenberg für eine Neugründung Israels. Und zwar neben einem palästinensischen Staat. In diesem Israel wären Religion und Staat getrennt und alle Bürger gleich. Dann erst würde Israel wirklich zu einem jüdischen Staat. Die wahre zionistische Aufgabe heute bestehe darin, sagt Gershom Gorenberg, die Siedlungspolitik aufzugeben, damit Israel sich den Aufgaben zuwenden könne, die es zurückgestellt hat.