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Serie „Dracula“
Der Graf zwischen Held und Hipster

Die BBC-Serie „Dracula“ auf Netflix“, von den Machern der gefeierten „Sherlock“-Serie, erzählt den Vampir-Mythos zeitgemäß und selbstreferenziell bis in unsere Gegenwart. Eine Meta-Erzählung über den Graf als Gourmet, Hipster und brutales Monster - die auch viel über uns selbst verrät.

Von Julian Ignatowitsch |
Szene aus der Serie "Dracula": Claes Bang steht vor einer Nonne
Szene aus der Serie "Dracula" mit Claes Bang (l.) als Blursauger (Netflix)
Bühne frei für einen Feinschmecker:
Graf Dracula: "62 würde ich sagen, Buchhalter."
Graf Dracula, in Schlips und Budapestern, trinkt Blut wie ein Sommelier Wein:
"Man sollte seine Jahrgänge mit Sorgfalt wählen, sei es rot oder weiß. Und ich schätze beides."
Und er findet darin die Wahrheit. Nicht "in vino…", nein, "in sanguine veritas":
"Blut sind Leben, sie können alles aus dem Blut erfahren, wenn sie verstehen darin zu lesen."
Dracula, der Aristokrat auf dem Weg von seinem transsilvanischen Schloss ins gelobte Land England:
"Ein ganzes Land voller kultivierter und kluger Menschen. Wie ich bereits seit Jahrhunderten der Welt zu erklären versuche: ‚Du bist, was du isst.‘"
Spiel mit dem Mythos Vampir
Allzu ernst sollte man das nicht nehmen. Und, Achtung, hinter dem ach so eleganten Gentleman lauert ein Biest, das plötzlich die Zähne fletscht und seine Opfer brutal zerfleischt. Die Serie "Dracula" spielt auf mal erschreckende, mal amüsante, immer aufschlussreiche Weise mit dem Mythos Vampir.
"Der Vampir ist generell ja eine Figur, die sich sehr gut als Projektionsfläche für Sehnsüchte eignet. Vampire sind verführerisch, unsterblich, sie haben übernatürliche Fähigkeiten." Kulturwissenschaftlerin Marion Näser-Lather von der Uni Marburg über die Vampirfigur und ihre erzählerische Bedeutung. "Und dadurch eignen sie sich sehr gut als Sehnsuchtsfigur, vielleicht sogar als Identifikationsfigur in einer Zeit, in der man nach persönlichem Empowerment strebt. Also der Vampir ist unabhängig, hält sich nicht an Gesetze, sondern er ist frei, kann tun und lassen, was er will. Er kann also ausbrechen aus gesellschaftlichen Zwängen."
Seit gut 200 Jahren sind Vampire Stoff für Literatur, Bühne, heute vor allem für Film und Fernsehen. Ob als okkulte Schreckensfigur wie in Murnaus "Nosferatu", als sexuell potenter Mann wie in Francis Ford Coppolas "Dracula" oder als asketischer Romantiker im "Twilight"-Universum - bei der Vampirfigur wurden im Lauf der Jahre viele unterschiedliche Facetten betont. Zwischen Blutdurst und Triebverzicht verortet Näser-Lather diese Erzählungen und glaubt, "dass der Vampir sowohl die erstrebenswerten Seiten des menschlichen Daseins symbolisiert, als auch das Bestialische und Monströse, das heißt über den Vampir lassen sich Kernthemen des menschlichen Lebens adressieren."
Meta-Erzählung zu "Dracula"
Aber was soll man da noch Neues hinzuerfinden? Genau diese Frage greift die neue BBC-Serie auf Netflix auf - und schafft damit quasi eine Meta-Erzählung zu "Dracula". Die Macher der "Sherlock"-Serie Mark Gatiss und Steven Moffat haben dieses Prinzip bereits beim neurotischen Meisterdetektiv Holmes perfekt angewandt. "Dracula" steht dem in Nichts nach.
"Ein Holzpflock mitten durchs Herz. Wissen Sie, manchmal sind Legenden durchaus wahr."
So philosophiert der Graf zusammen mit seiner mindestens genauso gewitzten Gegenspielerin, der Nonne Agatha van Helsing, über Okkultismus und Rollenklischees …
"Agatha van Helsing. Wer sind Sie?"
"Ihr allerschlimmster Albtraum: eine Frau mit Bildung und Kruzifix."
… sowie über Glaube, Tod und das ewige Leben.
"Verstehen Sie doch, das Ende ist ein Segen. Der Tod verleiht Größe."
Popkulturelles Spiegelbild unserer Zeit
Näser-Lather: "Das ist natürlich auch ein Spiegelbild unserer Zeit, dass wir uns alle natürlich selbst reflektieren, selbst analysieren, dass wir offen mit unseren Schwächen umgehen. Das hat auch etwas mit Selbstoptimierung zu tun mit dem Ziel, wenn man diese Schwächen erkannt hat, sie auch zu überwinden."
Dazu schaurig-blutige Gruseleffekte und Humor à la Monty Python.
"Sie sind ein Monster!"
"Und Sie sind Anwalt! Niemand ist vollkommen."
Die Hauptfiguren, die am Ende passenderweise in unserer Gegenwart ankommen und von Claes Bang und Dolly Wells hervorragend gespielt werden, dekonstruieren sich ganz zeitgemäß auf weltgewandt-ironische Weise selbst.
Näser-Lather: "Die Ironisierung ist etwas, was man in der Popkultur zur Zeit sehr stark vorfindet, man denke nur an die Kultur der Hipster, die ja letztlich als Kern ja die Selbstironie hat."
Dabei scheut die Serie aber auch das ganz große Pathos nicht wie in mancher operngleichen Szene. Zusammengefasst: Dieser Dracula ist ein schlagfertiger Gourmet, ein schicker Hipster, ein bestialisches Monster und ein gebrochener Held. Von ihm und seinem weiblichen Counterpart lässt sich viel über unsere Gegenwart, über Identitätssuche, die Konstruktion von Feindbildern und angeblich unverrückbaren Wahrheiten lernen. Eine Serie für das Jahr 2020, die ihre Wurzeln und Mythen nicht vergisst - und schon jetzt eine der Produktionen dieses Jahres ist.
Marion Näser-Lather, Marguerite Rumpf (Hsg.): "Vampire - Zwischen Blutdurst und Triebverzicht"
Büchner Verlag Marburg, 2020. 180 Seiten, 22 Euro.