Ein abstraktes Gemälde von Wassily Kandinsky ist zur Büste geworden. Sie erinnert an ein Schulterstück aus der griechisch-römischen Antike, nur total deformiert. So sehr, dass sie an einen Darm erinnert oder an einen Alien aus einem Science-Fiction-Film. Titel: "Rippled Kandinsky" – "Geriffelter Kandinsky". Eine andere Büste nennt sich "Zigzagman Lichtenstein". Motiv: ein gerastertes Comicstrip-Bild des US-amerikanischen Pop Art-Pioniers Roy Lichtenstein. Diesmal zickzackartig verformt. Wieder so ein skulpturaler Zwitter aus Antike und Science-Fiction.
"Das sind Büsten aus meiner Serie "New Age Demanded". Gestaltet sind sie mit 3D-Softwareprogrammen, wie sie in Hollywood oft verwendet werden, um Monster und verschiedene Kreaturen in 3D zu erschaffen", kommentiert der kanadische Künstler Jon Rafman. "In diesem Kunstprojekt möchte ich enthüllen, wie mühelos man zwischen dem Virtuellen und dem Realen hin- und herpendeln kann. Da ist eine 3D-Datei, die kann als Skulptur ausgedruckt werden und an die tausend Jahre überdauern."
Kunst am Tablet oder Computer
Büsten antiker Epochen, fremdartige Wesen aus Science-Fiction-Welten, Gemälde von Künstlern der Moderne, Manga-Comics – es sind Fundstücke der menschlichen Kulturgeschichte, die Rafman mit dem Computer zu digitalen Skulpturen collagiert und mit dem 3D-Drucker in handfeste Büsten verwandelt. Die Stoffe der Skulpturen sind nicht mehr Marmor, Stahl oder Holz, sondern digitale Dateien und Plastik. Und damit die Stoffe unseres Zeitalters, einem Zeitalter des Virtuellen, der technischen Reproduzierbarkeit, des Remixes und: des Plastiks. Damit verändert Jon Rafman die Bildhauerei:
"Also es kombiniert so ein bisschen Vergangenheit und Zukunft, so ein bisschen dieses Bildhauer-Genius mit automatisierter Technik und dadurch schafft er auf jeden Fall etwas Neues", erklärt Alain Bieber, Leiter des NRW-Forums in Düsseldorf.
"Was sich da verändert: Dass das Handwerk des Bildhauers immer weniger eine Rolle spielt, weil heute können Computer, 3D-Drucker das alles produzieren. Wahrscheinlich sind das auch einfach aussterbende Berufe, wie andere Berufe, wie der Hufmacher, den es auch nicht mehr gibt. Der körperliche Akt hat sich einfach verändert. Der wird jetzt am Tablet oder am Computer oder mit der Maus gemacht."
Der körperliche Schaffensakt reduziert sich auf Mausklicks
Auch in der Malerei spielen Pinsel, Rakel, Leinwände keine Rolle mehr, der körperliche Schaffensakt reduziert sich auf Mausklicks. Das führt das Düsseldorfer Künstlerduo Giulia Bowinkel und Friedeman Banz vor. In ihren Gemälden fließen und fliegen Farben ineinander und auseinander, formen sich zu gelben, blauen, braunen, schwarzen oder transparenten Spiralen, Knäueln oder Kristallen. Die Farbkörper erscheinen dreidimensional, als flüssige Materie, eingefangen im Moment des Malens. Eine Gemälde-Serie nennt sich "Bodypaintings":
"Die basiert auf aufgezeichneten Bewegungsdaten unserer Körper und daraus haben wir einen Avatar errechnet. Wir haben dann verschiedene Punkte von dem Avatar ausgewählt - Handgelenk, Knie, Fuß - und das sind die Punkte, die die Flüssigkeit erzeugen, aus denen es dann quasi sprudelt. Das ist das Setting, das wir eingerichtet haben, um diese Flüssigkeiten erstmal zu generieren."
Künstlerin Giulia Bowinkel:
"Aber dann fängt’s eigentlich erst an mit der Gestaltung. Ab dann können wir einstellen, ob die Schwerkraft nach oben oder nach unten geht, ob es sich um Wasser handelt oder eine zähflüssige Substanz. Und wir können auch wieder zurückgehen, wenn uns dann eine gewisse Entwicklung nicht gefällt, und von da an nochmal andere Parameter einstellen, und da wird das dann sehr variabel."
Nicht gemalt, sondern gedruckt
Gemälde werden im Computer simuliert und können immer wieder verändert werden. Ein finales Kunstwerk kreieren Bowinkel und Banz dann aber doch und überführen es wieder ins Materielle. Nur wird es nicht gemalt, sondern gedruckt. Als "cgi", "computer generated imagery", einem Bild, das mit einer 3D-Computergrafik erzeugt wird.
"Was wir sozusagen im Computer virtuell eingerichtet haben als Simulation wird dann sozusagen auf die Größe des Bildes berechnet."
Friedemann Banz:
"Und diese Berechnung der Bilder nach allen Parametern, die wir dann eingestellt haben, nennt man rendern, und wenn das dann endlich abgeschlossen ist nach ach so langer Zeit, dann gibt’s eine fertige Datei, die kann man ausdrucken."
Und eine Augmented Reality-App. Im Ausstellungsraum hält der Betrachter sein Smartphone vor ein Bild. Auf dem Display erscheint nun eine Farbengirlande, die dreidimensional aus dem Gemälde herauswuchert. Die Farbe wird nun zu einer virtuellen Skulptur, die mit dem Smartphone umwandert und erkundet werden kann.
"Und diese Aufspreizung sozusagen der virtuellen Realität in Multiversen von verschiedenen parallel existierenden Wirklichkeiten, die da drin existieren, je nachdem, ob ich den einen Parameter jetzt so oder so einstelle, das ist was, was wir sehr spannend finden, weil das natürlich unsere Realität mitbeeinflusst, wenn man sich überlegt, dass wir so unsere Autos konstruieren und unsere Häuser."
Für Post-Internet-Artists gehört das Internet zum Alltag
Künstler wie Jon Rafman oder Banz & Bowinkel zählen zu den sogenannten Post-Internet Artists, heißt nicht: Nach-Internet-Künstler, sondern Künstler, für die das Internet zum Alltag gehört. Spätestens seit der Snowden-Affäre und der Kommerzialisierung des Netzes durch Big Player wie Google glauben sie nicht mehr an die Utopie vom Internet als Ort der grenzenlosen Möglichkeiten. Ironie erscheint den Post-Internet Künstlern aber zu destruktiv.
"Was man beobachten kann, ist wirklich so eine neue Ernsthaftigkeit in den Arbeiten. Also man könnte fast vielleicht von so einer neuen Sachlichkeit sprechen. Es gibt so eine Art ernüchtertes politisches soziales Bewusstsein."
Und so pendeln die sogenannten Post-Internet Künstler elegant zwischen virtuellen und realen Welten, zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Mediendesign und Selbst-Marketing. Kreative Allrounder mit breitem IT-Wissen. Ihre künstlerischen Werkzeuge sind der Computer, Softwareprogramme oder 3D-Drucker. Ihre Gemälde und Skulpturen erzeugen sie im virtuellen Raum. Um ihre Werke aber öffentlichkeitswirksam präsentieren zu können, überführen die Künstler sie wieder ins Materielle. Aber auch der Verkauf wird so attraktiver. Und so schaffen sie Hybride aus Malerei, Skulptur, Installation, Video, Skulptur und "Augmented Reality"-Welten. Kunst wird zum Event.