Sie geht einem so schnell nicht aus dem Kopf. Allein diese Autofahrt mit Camille Preaker: laute Musik, der Aschenbecher quillt über, in der Wasserflasche, an der sie kontinuierlich nippt, ist billiger Wodka, und das zerbrochene Handydisplay - naja, man muss kein Sprachwissenschaftler sein, um darin eine Metapher ihres Gemütszustandes, ihres ganzen Lebens, zu erkennen.
Ach ja, "Sharp Objects", der Serientitel - das steht für die Rasierklingen und Nadeln, mit denen sich Camille an Armen und Beinen ritzt und die sie selbst im Auto an der Unterseite ihres Sitzes immer griffbereit hat.
Traumatisierte Protagonistin
Journalistin Camille Preaker, gespielt von Amy Adams als traumatisierte, zerrissene, herzzerreißende Figur - so gut war sie wahrscheinlich noch nie - versucht nach einer Lebenskrise mit psychologischer Therapie, zurück ins Leben zu finden. Von ihrer Zeitung wird sie in ihre Heimatstadt Wind Gap (Missouri) geschickt, um über den Mord an zwei jungen Mädchen zu berichten.
Camille wird dabei mit ihrer Kindheit, mit dem Verlust ihrer Schwester und ihrer gefühlskalten Mutter konfrontiert, die auf "Gäste" gerade eigentlich gar nicht eingestellt ist und sich nervös die Wimpern zupft, eine Umarmung gibt’s nur von der Haushälterin. Es sind genau solche Szenen, die unter die Haut gehen und die Serie "Sharp Objects" so großartig machen.
Die Serie ist Psycho-Horror im besten Sinn: Hinter dem scheinbaren Idyll einer wohlhabenden amerikanischen Familie und ihrem Kleinstadtleben tut sich ein Abgrund auf. Eine Beerdigung reiht sich die nächste, die Bewohner tratschen, beäugen sich, Jugendliche langweilen sich auf der Straße und verschwinden plötzlich.
Der Meister des Abgründigen, David Lynch, lässt grüßen. Aber warum überhaupt ein Vergleich? Der Oscar-nominierte und Emmy-prämierte Regisseur Jean-Marc Vallée hat mit Dallas Buyers Club oder zuletzt Big Little Lies längst bewiesen, dass er solche Stoffe perfekt beherrscht und zu inszenieren weiß: "Sharp Objects" überwältigt (und irritiert teilweise auch) mit einer konsequenten, hochmodernen Filmsprache. Wenn über eine rasante Montage zwischen den Zeitebenen gewechselt wird; wenn Gegenwart und Vergangenheit, Realität, Traum und Erinnerung zu einer großen psychologischen Erzählung verschmelzen.
So gut wie die Romanvorlage
Und dann rückt die Serie - man muss es betonen, weil immer noch außergewöhnlich - das Schicksal einer Frau, einer vielschichtigen Anti-Heldin in den Mittelpunkt: Camille trinkt, ritzt sich, sie raucht, kotzt, flucht, sie moderiert aber auch, protegiert ihre Stiefschwester, lacht, flirtet und recherchiert für ihre Story - solche komplexe Frauencharaktere sieht man leider immer noch viel zu selten. Was typisch für Romane von Gillian Flynn ist, funktioniert hier auch in der Verfilmung perfekt - anders als zum Beispiel beim eher verunglückten "Gone Girl". Hier bekommt der Charakter Zeit, in all seinen Facetten, als glaubwürdiger, gebrochener, sich wieder zusammenraffender Mensch zu erscheinen.
Ganz klar: "Sharp Objects" mit Amy Adams ist neben "Patrick Melrose" mit Benedict Cumberbatch die (bis dato) beste Serie und Schauspielleistung dieses Jahres. Figuren, die ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen werden.
Die Serie "Sharp Objects" ist ab 9. Juli auf Sky Ticket parallel zur US-Ausstrahlung zu sehen, ab Ende August dann auch auf Deutsch auf Sky Atlantic.