Also, das ist ja mal ein Ansinnen! Wir schreiben das Jahr 2020, jeder weiß, eine Dokumentation ist eine Dokumentation und ein Spielfilm ein Spielfilm. Aber der britische Kulturminister Oliver Dowden befürchtet, die Leute könnten die Netflix-Serie "The Crown" für bare Münze nehmen. Ist das nicht völlig Panne? Immerhin müsste gerade Netflixern klar sein, was die Wochenzeitung "Die Zeit" so formuliert hat: "Das Reale ist nur so lange real, bis es als Grundlage für eine TV-Serie herhalten muss. Dann wird es Fiktion."
Allein, um die Grobsortierung von Realität und Fiktion geht es gar nicht, verehrte "Zeit". Sondern darum, dass sich "The Crown" zugleich an die Fakten hält und nicht an die Fakten hält. Richtig! Das ist natürlich die ewige Irritation bei jedem Film nach wahren Begebenheiten. Die Realgeschichte liefert den Teig, das Drehbuch die Rosinen: Es verknappt, dramatisiert, dichtet dazu, verfälscht hier und da lustvoll – es soll schließlich allen schmecken.
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie 'Richard III.' hören?
Das Königshaus erträgt's bislang mit stiller Fassung. Aber darüber hinaus sorgt gerade die vierte Staffel bis ans Ende des Commonwealth für Feuer unterm Dach. Der Drehbuchautor Peter Morgan fand es witzig, den ehemaligen australischen Premier Bob Hawke über Prinz Charles sagen zu lassen: "Wir sollten einem Schwein nicht eine erstklassige Rinderherde anvertrauen." Was den australischen Sender ABC zu der bierernsten Richtigstellung nötigte, Hawke habe Charles in Wirklichkeit als "netten jungen Kerl" tituliert.
Fans der britischen Ex-Premierministerin Thatcher beharren wütend darauf, dass ihr Idol die Queen 1990 keineswegs aus schierer Egomanie gebeten hat, das Unterhaus aufzulösen. Kommandeure der Royal Navy finden es impertinent, dass "The Crown" suggeriert, die Queen habe sich im Falkland-Krieg nicht wie ein Mann hinter die Truppen gestellt. Und so weiter.
Das Boulevardblatt "Daily Mail" stach sogar durch, ein Freund von Prinz Charles habe behauptet, "The Crown" arbeite bei aller Pracht insgeheim an der Abschaffung des Königshauses. Sind diese Kritiker alle kunstfeindliche Kleingeister oder Speichellecker der Krone? Gemach, gemach! Sie könnten am Richard-Syndrom leiden. Kurze Probe: Was fällt Ihnen ein, wenn Sie 'Richard III.' hören? Das politische Wirken des englischen Königs? Oder das menschliche Monster bei Shakespeare?
"Achtung, Fiktion!" - "Aber mit wahren Kernen"
Geben wir es zu: Die meisten von uns haben nur dank Shakespeares Drama überhaupt irgendeinen Schimmer von Richard III. Allerdings gleicht Shakespeares Richard dem historischen König so wenig wie Donald Duck einer Ente. Soll heißen: Manchmal hat die Realität gegen die Fiktion keine Chance. Und deshalb ist der Einspruch des britischen Kulturministers Oliver Dowden nicht völlig Panne – er ist völlig aussichtslos! Denn es gäbe überhaupt keine Kunst alias Fiktion, wenn sie ihren Stachel nicht tief ins Fleisch der Realität bohren könnte.
Okay, Lady Di übergibt sich in "The Crown" tatsächlich oft und kräftig, weniger Erbrechen wäre vielleicht mehr gewesen. Aber die Kloschüssel-Szenen ergeben Sinn: Nicht nur der Filmfigur ging es im Königshaus oft total dreckig. Sollte demnächst im Vorspann tatsächlich "Achtung, Fiktion!" stehen, müsste man fairerweise "Aber mit wahren Kernen" hinzufügen und im Grunde unter jeder Szene den historischen Wahrheitsgehalt in Prozent einblenden. Und das fänden dann wirklich alle zum Kotzen.