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Serie "Was ist deutsch?"
"Ethnisch-nationale Debatte ist eine ganz komische Sache"

Deutschland sei nie ein einheitliches und zentralistisches Land gewesen, sagte die Journalistin und Schriftstellerin Katja Petrowskaja im Deutschlandfunk. Schon dadurch gäbe es keine Leitkultur. Ständig werde über Ethnien, Nationalitäten und Religionen geredet - die Wirklichkeit sei aber viel breiter.

Katja Petrowskaja im Gespräch mit Karin Fischer |
    Katja Petrowskaja, ukrainisch-deutsche Schriftstellerin und Journalistin.
    Katja Petrowskaja, ukrainisch-deutsche Schriftstellerin und Journalistin. (picture alliance / Erwin Elsner)
    Karin Fischer: Zuerst aber ein weiteres Gespräch in unserer Reihe "Was ist deutsch?". Dass Deutschland sich durch die Migranten und Flüchtlinge auch kulturell verändern wird, ist eine Annahme, von der wir dabei implizit ausgehen. Ein Hörer, der uns geschrieben hat, findet die Frage noch zu "deutschlastig" und schreibt dazu: "Wir werden uns mit der Rolle vertraut machen müssen, künftig aufgrund der neuen Völkerwanderung und eigener sinkender Geburtenrate zu einer Art Weltbürger zu mutieren ohne die bisherigen deutschnationalen Eigenheiten." Wenn wir diejenigen, die in unser Land und in die deutsche Sprache schon eingewandert sind, also danach fragen, was für sie deutsch ist, dann geht es da immer auch um einen Entwurf. Was sollte – noch, außerdem – deutsch sein, wie kann sich das Deutsche gut und gern auch verändern?
    - Heute im Gespräch: Die russisch-deutsche Schriftstellerin und Journalistin Katja Petrowskaja, die ich als Erstes gefragt habe, was sie mit dem Deutschen verbindet.
    Katja Petrowskaja: Wenn man anfängt, wird man nie enden mit diesem Gespräch. Ich bin in der Sowjetunion groß geworden und ich kannte damals kein Wort Deutsch. Oder eher gesagt so ein paar Worte, die ich durch Kriegsfilme erlernt habe. Und das war meistens "Hände hoch!" oder "Hitler kaputt" oder "Ausweis bitte!" und wie auch immer. Das bedeutet, deutsch war für uns eher eine Sprache des Krieges einerseits; andererseits habe ich im Chor gesungen. Und da war Bach ohne Ende und es war Bach über alles. Und das war schon damals so eine ganz komische Diskrepanz, aber eigentlich diese Diskrepanz ist auch für erwachsene Menschen immer da. Diese Diskrepanz zwischen Deutschland des Krieges und Deutschland des höheren Geistes sozusagen. Eigentlich glaube ich, dass es ganz anders ist, wenn man die Sprache von Kindheit an kennt, wie einige Freunde von mir. Sie hatten nicht diese Schärfe erlebt wie ich zwischen dieser bellenden Sprache und dieser Sprache der Schönheit. Ich habe deutsch erst mit 27 angefangen, zu lernen, was man auch ab und zu merkt. Und es ist immer noch nicht ganz zu Ende, dieser Widerspruch, und dieser Widerspruch ist eigentlich in der Geschichte Deutschlands da.
    Fischer: Sie sind, Frau Petrowskaja, 1999 nach Berlin gekommen, also knapp unter 30. Sie haben vorher in Kiew und Moskau gelebt und in Estland, Stanford und New York studiert. Warum Deutschland?
    Petrowskaja: Ja, ich frage mich das auch. Und eigentlich ist die kürzeste Antwort auf diese Frage das Buch, was ich geschrieben habe. Das war auch ein Versuch, für mich zu erklären, was ich hier tue und warum ich hier bin. Eigentlich aus der Liebe zu einem Mann und zu einem Land. Ich habe einen deutschen Mann, der aber perfekt russisch spricht. Und wir haben uns auf Russisch kennengelernt und er wollte immer auch in Moskau bleiben. Aber ich war kurz in Berlin, erst '97 und dann '98, und ich habe mich in diese Stadt verliebt. Und auch in diese merkwürdige Stadt und diese - ich weiß nicht wie man das erklärt -, in diese Spuren des Krieges, die auch durch die Mauer konserviert wurden. Das hat mich alles so unglaublich bewegt und auch dabei diese Normalität dieser Stadt. Moskau war damals schon ein bisschen brutal. Und wie brutal Moskau damals war, kann man heutzutage noch besser sehen. Also diese friedliche Stadt einerseits, angesichts dieser Spuren, das hat mich sehr, sehr fasziniert in gewisser Weise. Dieser Sprung nach Deutschland war in gewisser Weise gegen alle Regeln meiner eigenen Biografie. Ich kannte kein Deutsch, ich habe mich beinahe von meinem Beruf verabschiedet und so weiter. Aber ich wollte hier leben. Und es war unmöglich, mich zu zügeln. Ich wollte mich auch zügeln, aber es hat nicht geklappt.
    Fischer: Sie kommen aus dem Osten in ein Berlin, das Sie als friedlich bezeichnen. Das ist schon hoch interessant, denn wir gucken von dem nicht ganz so friedlichen Berlin immer nach New York und finden es dort natürlich viel, viel vielfältiger und bunter und multikultureller, gerade natürlich auch, weil jeder, der in Amerika geboren ist, auch gleich Amerikaner ist. In Deutschland reden wir seit vielen, vielen Jahren über das Einwanderungsland Deutschland. Und wir sind es im Grunde noch gar nicht. Ist das für Sie etwas, was anstrebenswert wäre, dass Deutschland noch vielfältiger, noch bunter wird?
    Petrowskaja: Natürlich. Es ist auch ein riesiger Unterschied zwischen dem kulturellen Leben hier, was unglaublich reich ist einerseits und reellen Gesetzen. Wenn ich Ihnen erzählen würde, was ich die Aufenthaltsgenehmigung bekommen habe: Das ist eine mittelalterliche Geschichte mit unglaublichen Erniedrigungen, mit Schlangen ab fünf Uhr morgens, ich war schwanger, ich musste irgendwelche Ultraschallbilder ins Kammergericht schicken. Das ist wirklich unglaublich gewesen. Aber für mich war zum Beispiel diese Illusion ganz wichtig, zu sagen, ich gehöre zu einer neuen Generation von postsowjetischen Kindern oder wem auch immer aus dem Osten, die einfach wählen dürfen. Es ist auch nicht ganz so: Ich konnte in Deutschland leben, nur weil ich verheiratet war. Und nach drei Jahren konnte ich eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Und nach sieben Jahren konnte ich auch die Staatsbürgerschaft von Deutschland bekommen. Aber es gibt keine doppelte Staatsbürgerschaft. Und ich möchte nicht mich von meinem ukrainischen Pass verabschieden. Es wäre dann für mich tatsächlich ein Schritt in Migration und ich bin kein Migrant. Also ich lebe einfach hier.
    Und was mich zum Beispiel wahnsinnig stört: Ich bezahle auch unheimliche Steuern in diesem Land und ich habe nicht mal ein Lokalwahlrecht. Und ich meine, ich wohne in Berlin Prenzlauer Berg seit 16 Jahren und ich beeinflusse nichts. Es geht nicht um mich, es geht auch um riesige Gruppen von Bevölkerung, die hier seit 20, 30 Jahren wohnen, diese Politik beeinflussen möchten. Man sagt oft, und das ist gut so, dass sie das nicht tun, aber sie haben kein Recht, zu wählen.
    Fischer: Nun sind wir ja durch äußere Umstände gezwungen dazu, Einwandererland zu werden. Und Sie haben gerade schon beschrieben, was alles dem entgegensteht, zum Beispiel dem im Prinzip ja vielleicht vernünftigen Vorschlag, Flüchtlinge und Migranten auch schneller zu naturalisieren, zu Deutschen zu machen. Wolfgang Thierse hat diese Aufgabe, die vor uns liegt, der Integration von Flüchtlingen als eine doppelte beschrieben. Die Flüchtlinge sollen heimisch werden in fremdem Land und die Einheimischen sollen nicht fremd werden im eigenen Land. Was bedeutet das für Sie, die Gratwanderung, sich als Gesellschaft zu verändern, und dennoch das, was man als deutsch betrachtet - viele haben ja schon wieder versucht, die Leitkultur-Debatte anzustoßen -, nicht aufzugeben?
    Petrowskaja: Deutschland kein einheitliches Land
    Petrowskaja: Ja, ja. Aber hier werden wirklich sehr, sehr viele Themen geöffnet durch diese Frage. Es geht eigentlich um eine ganz einfache Wahrnehmung. Deutschland ist seit vielen Jahren kein einheitliches Land und vor dem Krieg war es auch kein einheitliches Land. Deutschland war eigentlich nie ein einheitliches Land und nie zentralistisch wie Frankreich oder Russland, wo alles nach einem Zentrum strömt. Und schon dadurch könnte es keine Leitkultur geben. Diese ethnisch-nationale Debatte ist eine ganz komische Sache. Und ich glaube, es gibt doch komische Reste von nationalistischem Denken auch, weil jede Kultur im 20. Jahrhundert besteht aus vielen Elementen, die nicht unbedingt national geprägt sind. Und wir reden ständig über Ethnien und Nationalitäten und dann Religionen, aber es ist viel, viel breiter als das. Letztendlich ist es zum Beispiel so: In meiner sowjetischen Kindheit war es sehr schwierig zu sagen, ist deutsch deutsch, dieses Deutschland, was uns prägt, ist das tatsächlich deutsch? Zum Beispiel wir haben nie unterschieden, ob Haydn, Händel oder Mozart aus einem Land kamen oder aus verschiedenen, verstehen Sie. Wenn wir aber über die heutigen Aufgaben reden, wir können auch wiederum anschauen, was mit Türken in Deutschland passiert, warum erst bei der Pisa-Studie irgendwie festgestellt wird, dass es keine zweisprachigen Kitas gibt, dass keine Ausbildung in 50 Jahren gemacht wurde für die Lehrer oder Erzieher, die zweisprachig sind, und solche Sachen. Es geht um ganz konkrete Dinge und nicht über hochnäsige Politik. Es fängt ganz, ganz unten an.
    Fischer: Integration als Bildungsaufgabe?
    Petrowskaja: Ja. Es werden zum Beispiel in einer Sporthalle Marienburger Straße, da wo ich wohne, 200 Flüchtlinge untergebracht. Und ich meine, wir reden über Integrationsaufgaben. Dort bei einer Schicht von Helfern gab es eine Frau aus Indien, die mitgeholfen hat, die einfach ein Designprojekt in Berlin macht. Da gab es einen Türken, der schon seit Langem hier wohnt und eigentlich als Deutscher bezeichnet werden soll. Und ein Deutscher, der Deutscher ist, verstehen Sie. Und sie haben alle dann Menschen geholfen, die auch aus verschiedenen Ländern kommen. Und wir reden ständig über Deutsche, die helfen, oder irgendwie. Es ist an sich nicht ganz richtig.
    Fischer: Wenn wir, Frau Petrowskaja, von wechselnden Identitäten sprechen, so wie Sie sie gerade auch benannt haben, dann stellen wir ja in Deutschland fest, dass im Moment tatsächlich viele Schriftsteller mit Migrationshintergrund den Ton angeben auch in der deutschen Sprache. Was halten Sie von diesem Phänomen?
    Petrowskaja: Es ist seit Jahren irgendwie modisch, eigentlich ein Schriftsteller mit Migrationshintergrund zu sein. Ich habe auch ein bisschen dadurch profitiert. Aber eigentlich ist das ein sehr interessanter Prozess. In Amerika war es in den 20er-, 30er-Jahren sehr ähnlich. Und das ist ein ganz interessanter Prozess, weil Identität ist nicht nur, woher man kommt; das ist auch, was man liebt.
    Fischer: Die Schriftstellerin und Journalistin Katja Petrowskaja in unserer Reihe "Was ist deutsch?" Für ihre autobiografisch geprägte Erzählung "Vielleicht Esther", das nur als Ergänzung zum Anfang dieses Gespräches, bekam sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt und danach viele andere Preise. Das Buch ist bei Suhrkamp erschienen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.