Michael Köhler: Sehr deutsch ist ja die Frage: Was ist deutsch? Die Nation, die spät kam, dann außer sich war, getrennt und wiedervereint wurde und nun vielleicht bei sich ist, hat kaum Zeit, zur Besinnung zu kommen; da halten sie Flüchtlingskrise und weltweiter Terrorismus in Atem, um von EU-Krise mal zu schweigen. Elena Bashkirova, in Moskau geborene Konzertpianistin und Gründerin des Jerusalemer Kammermusik-Festivals, ist heute unser Gast in der Gesprächsreihe "Was ist deutsch?". Sie leben in Berlin, haben auch elf Jahre in Paris gelebt. Sie sagten mir vor zehn Jahren einmal, Sie lieben Deutschland. Ist das noch so?
Elena Bashkirova: Ja, das wäre wirklich eine sehr leichtsinnige Liebe. Wenn sie das gleich mit Problemen am Anfang gewesen wäre, würde ich das nicht mehr lieben. Wir sind noch nicht so weit und ich habe große Hoffnung, dass es noch nicht so weit kommen darf.
Köhler: Kultur und Musik bedeuten in Deutschland etwas anderes als in anderen Ländern, haben Sie mir mal gesagt. Ist das noch so?
Bashkirova: Ja, das kann man wohl sagen. Es gibt natürlich Länder, wo Kultur sehr viel bedeutet, aber die Musik per se bedeutet vielleicht doch mehr in Deutschland oder, sagen wir, im deutschsprachigen Raum. Und da sind wir als Musiker natürlich sehr privilegierte Leute. Musik - auch für Politiker, auch für andere Leute bedeutet etwas. Nirgendwo, glaube ich, in anderen großen Ländern auf der Welt gibt es das, wo Musik einen so großen Platz zum Beispiel in der Presse hat, oder überhaupt in der Gesellschaft.
Köhler: Sie haben die deutsche Poesie durch die Liedbegleitung kennen gelernt?
Bashkirova: Ja, kennen gelernt und lieb gewonnen. Ich habe deutsche Sprache nie gesprochen, wie Sie sehr gut hören. Ich habe das nie richtig gut gelernt, leider. Es war immer vom Gehör, aber ich bin total frei damit. Ich kann Gespräche führen und sehen Sie, ich gebe sogar unverschämterweise auch Interviews.
Köhler: Sie haben sie nicht gelernt, sagen Sie kokett.
Bashkirova: Nein.
Köhler: Aber Sie verstehen sie sehr gut.
Bashkirova: Natürlich!
Köhler: Wer Schubert-, Goethe-, Mahler- oder Strauß-Lieder begleitet oder interpretiert, der muss es einfach verstehen. Sonst wird es nichts.
Bashkirova: Ja. Er muss nicht nur die Worte verstehen, er muss auch sozusagen den Sinn verstehen, und das ist sehr wichtig. Und ich finde, die deutsche Sprache, wenn sie gesungen ist, ist so schön und ich habe mich verliebt in diese Sprache durch das Lied. Das ist wahr. Und Oper!
Köhler: Sie sind Künstlerin, Pianistin, aber auch Theaterfreundin, Theaterliebhaberin. Bildende Kunst ist Ihnen wichtig. Sie standen auch mal vor der Frage, vielleicht Bildhauerin zu werden. Nun hat Deutschland eine unvergleichliche Erinnerungskultur entwickelt nach dem zweiten Weltkrieg, eine Aufarbeitungskultur. Ist die Pflege des Erbes vielleicht etwas typisch deutsches, sich mit Geschichte zu befassen, oder vielleicht gerade heute, dass wir sie beginnen zu vergessen?
Bashkirova: Ist das wirklich so? ich weiß nicht. Es sind vielleicht die jungen Leute von heute. Sie haben vielleicht weniger Zeit, das zu verarbeiten. Sie kriegen so viel Informationen, aber sie wissen nicht, was damit zu tun ist.
Köhler: Tradition ist Arbeit. Sie haben am Tschaikowski-Konservatorium in Moskau studiert. Ihre erste Auslandsreise war in die DDR, wenn ich mich richtig erinnere.
Bashkirova: Das stimmt, ja.
Köhler: 25 Jahre nach der Wiedervereinigung hat sich Deutschland verändert. Für viele ist es das Paradies, sie flüchten hierhin. Sie haben mal gesagt, niemand ist frei von Totalitarismus. Sind wir es? Ist es deutsch, frei davon zu sein?
Bashkirova: Man kann die Freiheit, die wir haben, und dieses wunderschöne Leben, was wir doch hier genießen, nicht als selbstverständlich nehmen. Man muss sich immer damit auseinandersetzen, dass wir in einer besseren Gesellschaft leben, besser als viele, viele andere Menschen und Länder. Aber das ist nicht selbstverständlich. Wir müssen auch etwas dafür tun und wir müssen uns bereit erklären, auch anderen Menschen zu helfen, und wir müssen die Werte, die uns so lieb sind, auch verteidigen können.
"Wir Künstler können den Menschen Schönheit geben"
Köhler: Welchen Beitrag kann Kunst und Kultur dazu leisten?
Bashkirova: Ich glaube, diese Verbindung zwischen Tradition und Moderne ist sehr wichtig, weil wir kennen die Tradition und wir können den Menschen etwas geben, was, ich glaube, jedem Menschen Gutes tut. Zum Beispiel wir Musiker. Ich weiß, die Menschen, die zum ersten Mal ein Stück hören, ein großes Musikstück hören, normalerweise bleiben sie dabei. Es ist kein Mensch, den ich kenne, der sagt, nein, das ist nichts für mich, das ist kompliziert oder so. Wenn man ein großes Stück Musik hört, sagen wir Mozart, Beethoven, Verdi, Wagner, egal, Tschaikowski, wenn das eines Menschen Herz berührt, dann hat man einen Menschen gewonnen, glaube ich, und das ist für diesen Menschen ein großer Reichtum. Im Grunde wir Künstler, wir können geben. Das ist, was wir machen können. Wir können den Menschen Schönheit geben.
Köhler: Ist es deutsch, sich vielleicht ein bisschen schwer damit zu tun, ein beliebtes Einwanderungsland zu sein?
Bashkirova: Jetzt nehme ich meinen anderen Hut, weil ich habe einen deutschen Hut. Ich bin eine Deutsche, ich habe einen deutschen Pass und ich lebe hier seit Jahren. Aber ich bin doch von außerhalb gekommen, aus Russland, und dies ist mein anderer Hut. Ich denke, die Deutschen machen sich manchmal das Leben sogar zu schwer. Manche kulturellen Werte, da soll man überhaupt keine Angst haben, dass es deutsche Werte sind, zum Beispiel manche Deutsche in deutscher Musik oder Interpretation oder ich weiß nicht. Das gibt es selbstverständlich. Zum Beispiel in Russland sagt man, man spricht über die sogenannte russische Seele, es muss so klingen oder so aussehen, weil es ist russisch. Und ich glaube, das ist dasselbe mit deutsch. Dieses historische Gewicht ist ein bisschen manchmal wirklich übergroß. Ich spreche nur musikalisch jetzt.
Köhler: Wenn ich es richtig weiß, haben Sie, glaube ich, im Frühjahr oder Sommer in Berlin einen mehrtägigen Zyklus über Spätwerke in der Musik aufgeführt.
Bashkirova: Ja.
Köhler: Wäre das ein Beitrag vielleicht auch zur Integration, auch in der Einwanderungsfrage zu sagen, es gibt ja kulturelle Tafeln in allen möglichen Städten in Deutschland, die Menschen aus benachteiligten Kreisen es möglich machen, an Kultur teilzuhaben. Wäre das ein Beitrag vielleicht auch zur Integration durch Kultur?
Bashkirova: Das auf alle Fälle. Ich finde, wir als Künstler, wir müssen nach außen gehen und diese Kultur teilen, wenn die Menschen das wollen von uns. Wir können keinen Menschen dazu zwingen, Musik zu hören oder so, aber wir können diese Möglichkeit den Menschen geben. Wir müssen das machen und ich glaube, es ist ein wunderschönes Gefühl, wenn man den Menschen etwas geben kann. Ich kenne das aus diesem Festival in Jerusalem, was ich gegründet habe.
Köhler: Ich wollte gerade sagen: Das ist Ihr dritter Hut.
Bashkirova: Mein dritter Hut.
Köhler: Sie sind Gründerin des Jerusalemer Kammermusik-Festivals.
Bashkirova: Ja. Da gibt es dieses Gefühl in Jerusalem mit Publikum, dass man wirklich den Menschen etwas Wichtiges gibt, das ist manchmal in Europa und in Amerika nicht so. Man spielt sehr viele Konzerte, man macht viel mehr, es gibt alles, aber das ist wie gesagt auch selbstverständlich für sehr viele. In Krisenplätzen oder Regionen oder Ländern und Städten wird das ganz anders aufgenommen.
Köhler: Sie bringen mich auf eine Idee. Wenn Sie in Moskau oder Jerusalem sind oder wo auch immer und gefragt werden, was ist deutsch, was antworten Sie?
Bashkirova: Oh, das kann ich nicht so in einem Wort sagen. Es ist eine sehr interessante Frage. Deutsch in was zum Beispiel? Sagen wir, für mich ist deutsch im besten Sinne Kultur, ist Musik. Ich bin positiv dabei. Man kann aber auch negativ sagen, was ist deutsch. Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen, wo noch immer damals irgendwelche Filme über Krieg aus sowjetischer Sicht gezeigt worden sind.
Köhler: Es ist ja nicht nur die Sprache der Poesie; es ist auch die bellende Sprache der NS-Offiziere gewesen.
Bashkirova: Natürlich! Die bellende Sprache, genau.
Köhler: Und deswegen war es für mich besonders wichtig, dass ich die deutsche Sprache übers Lied gelernt habe. Was ist deutsch? Ich weiß nicht. Es gibt zum Beispiel sehr viele Musiker, die vielleicht die besten deutschen Musiker sind, aber sie sind nicht deutsch. Nehmen wir, ich weiß nicht, Claudio Arrau, den großen Pianisten chilenischer Herkunft.
Köhler: Sein Beethoven-Zyklus ist vorbildlich.
Bashkirova: Und so weiter und so weiter. Es gibt so viele Musiker, die nicht deutscher Abstammung sind, aber die haben dieses Deutsche sehr gut verstanden, viel besser als mancher sogenannter richtig ethnischer Deutsche. Also es gibt kein ethnisches Deutschtum, denke ich, in der Kultur.
Köhler: Das bringt mich auf einen abschließenden Gedanken. Wenn ich das zu Ende denke, was Sie gerade gesagt haben, dann weiß man nur, wer man selber ist, wenn man quasi durch die Brille des anderen guckt, oder noch einen Hut aufsetzt?
Bashkirova: Ja, noch einen Hut. Natürlich! Ich habe ein Hutgeschäft.
Köhler: Lassen Sie uns Hüte sammeln. Dann wissen wir, was deutsch ist.
Bashkirova: Ich glaube, das ist sehr gut.
Köhler: Das wäre mal ein anderer Ansatz - die Konzertpianistin Elena Bashkirova, Gründerin auch des Jerusalemer Kammermusik-Festivals, in unserer Serie "Was ist deutsch?", die wir noch fortsetzen bis zum Wochenende.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.