Henning Hübert: Als Erstes aber zu der aus Kroatien stammenden deutschen Schriftstellerin Marica Bodrozic. Im letzten Jahr ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung für ihren – Zitat – "maßgeblichen kulturellen Beitrag zur Neuordnung Europas nach 1989". Sie kann als ein Musterbeispiel dafür gelten, wie man in der deutschen Sprache heimisch werden kann. 1983 ist sie zehnjährig ihren aus Jugoslawien stammenden Eltern nachgereist, die als Gastarbeiter in die Bundesrepublik gegangen waren.
Seit dem 2002 auf Deutsch erschienenen Erzählungen-Band "Tito ist tot" bis hin zum jüngsten Reiseband "Mein weißer Frieden", seitdem erschienen elf Romane, Essay- und Erzählbände von ihr. Damit ist sie eine viel beachtete und zum Beispiel mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnete Autorin.
In unserer Reihe "Was ist deutsch?" lassen wir in "Kultur heute" in den deutschen Sprachraum zugezogene Menschen zu Wort kommen. Ich habe auch Marica Bodrozic gefragt, was für sie typisch deutsch ist.
Marica Bodrozic: Ja, typisch deutsch wäre für mich eine gewisse Zuverlässigkeit und damit auch verbunden natürlich sofort das Thema der Sprache, denn Logos und Zuverlässigkeit hängen bei mir irgendwie in einem Zusammenhang, sie sprechen einander zu.
Sich auf das Wort verlassen zu können heißt auch, sich auf ein Bewusstsein, auf ein Gegenüber, auf einen Menschen zu verlassen, und das ist die Erfahrung, die ich in diesem Land immer gemacht habe.
Hübert: Das klingt auch nach einer Hommage an Deutsch als Sprache der Philosophen. Greifen Sie manchmal auch ins Bücherregal noch zu deutschen Philosophen?
Bodrozic: Ja, davon ernähre ich mich. Ich liebe die deutsche Philosophie und die damit verbundene Sprache, weil die Denkbewegungen von Innerem und Äußerem, der inneren und der äußeren Zeit, den inneren und äußeren Räumen für mich sehr, sehr wichtig ist. Denn wir alle leben ja nicht nur zu einer Zeit, sondern auch in einer bestimmten Zeit, und die hat auch mit einem Bewusstsein zu tun, mit den Dingen, die uns alle bewegen, mit einer bestimmten Struktur unserer Welt, und damit ist Sprache immer verbunden und übrigens für mich auch immer die Verantwortung, die mit der Sprache als ästhetischem Medium, aber auch dem Medium von Würde und Verantwortung im gesellschaftlichen Sinne auch immer zu tun hat.
"Der Plural ist wichtig für die Freiheit"
Hübert: Finden Sie es verantwortlich, dass immer mehr in der Wissenschaft in deutschen Universitäten auf Englisch produziert wird?
Bodrozic: Ja da habe ich gar nichts dagegen. Sie haben in der Anmoderation gesagt, dass ich aus Kroatien komme. Das stimmt, das ist richtig. Aber ich komme auch aus Jugoslawien, einem Vielvölkerstaat, wo es mehrere Sprachen, mehrere Religionen und damit auch Denkweisen und spirituelle Traditionen gab. Und ich habe gegen diese Form von Vielfalt überhaupt nichts. Im Gegenteil! Ich glaube, sie schärft sogar den Sinn für das Eigene, was auch immer das dann bedeutet im Einzelfall, und lässt die Welt in einer Erweiterung zu. Das ist wichtig. Der Plural ist wichtig für die Freiheit.
Hübert: Ihr autobiografisches Buch "Sterne erben, Sterne färben" wurde auch mit dem Initiativpreis deutsche Sprache ausgezeichnet. In dem Buch schildern Sie Ihr poetisches Verhältnis auch zu Ihrer, wie Sie sagen, zweiten Muttersprache, die auch die Sprache eben Ihrer Literatur ja geworden ist. Durch was können Sie eigentlich, Frau Bodrozic, sicher sagen, dass die deutsche Sprache zu Ihrer eigentlichen Heimat wurde?
Bodrozic: Es hat ja immer etwas mit der eigenen Freiheit, auch mit dem eigenen Leben zu tun, und sich die eigene Freiheit zu erarbeiten, ist mir in dieser Sprache zuteil geworden.
Ich komme ja auch aus sehr patriarchalen Strukturen, aus Denkweisen, die man vielleicht in das 19. Jahrhundert auch verorten würde, und in der deutschen Sprache und in diesem Land habe ich die Selbstermächtigung gelernt und lerne sie immer noch. Vielleicht lernen wir das alle, solange wir leben.
"Von meinem Großvater habe ich sehr viel gerlernt"
Hübert: sie haben es angedeutet: Ihr Großvater in Dalmatien, er war Analphabet. Bei ihm haben Sie mehr oder weniger die ersten zehn Lebensjahre verbracht. Hatte damit, dass er auch nicht wirklich selber lesen konnte, das Serbokroatische, wie man es damals, glaube ich, noch nannte, erst mal einen schweren Stand bei Ihnen?
Bodrozic: Nun ja, ich habe meinem Großvater versucht, das Alphabet beizubringen, aber er hat sich geweigert. Er ist nicht diesen Weg mit mir gegangen. Aber ich habe sehr vieles andere von ihm gelernt, wie übrigens von vielen anderen sehr einfachen Menschen, die nicht gebildet waren, die vielleicht sehr religiös waren. Mein erster Lehrer war beispielsweise ein Muslim, der aus Bosnien nach Dalmatien gezogen war, der mir beigebracht hat, wie das direkte Menschliche in einem eigenen Leben Fuß fassen kann, nämlich durch die Zuwendung und das gesehen werden durch den anderen, wo das Fremdere, vielleicht die andere Religion nicht so wichtig war.
Aber von meinem Großvater habe ich sehr viel gelernt, das was vielleicht allen Menschen zustehen sollte, nämlich diese unmittelbare Zuwendung und die Liebe, die jeder braucht, um auch im Leben Vertrauen fassen zu können, um selbst auch etwas zu schenken, was vielleicht ein anderer Mensch sich wünscht.
Hübert: Jetzt haben Sie Ihre Themen ja ausgemacht. Das sind Migration, Neuanfang und die Aufarbeitung Ihrer jugoslawisch-kroatischen Vergangenheit. Gab es bei Ihnen einen Zeitpunkt, wo Sie sich entschieden haben und ab da dann offen dazu gestanden haben, ja, ich komme vom Balkan, und hat Ihnen das geholfen?
Bodrozic: Das habe ich eigentlich nie verheimlicht und es hat mir auch nie geschadet, das zu sagen, weil ich das auch immer sehr geliebt habe, aber durch das Leben in Deutschland und in der deutschen Sprache auch immer eine kritische Distanz hatte. Das ist letztlich die Reibung, aus der heraus meine eigentliche Freiheit entstanden ist, nämlich mich nicht mit dem einen oder anderen zu identifizieren, aber genau zu sehen. Und dieses genaue Sehen, das ist eigentlich das große Thema überhaupt meines Lebens, nämlich die Freiheit, nicht dazu gehören zu müssen, sondern zu sehen.
"Dieses Fremde wollte ich intuitiv spontan erobern"
Hübert: Und was hat Ihnen eigentlich dabei geholfen, so wunderbar Deutsch zu lernen aus zehnjährige Anfang der 1980er-Jahre in der Nähe von Frankfurt am Main?
Bodrozic: Um es ganz direkt und einfach zu sagen: die Liebe. Die Liebe zu den Menschen, die meine Eltern waren, ohne die ich ja groß geworden bin. Die Liebe zu der neuen Umgebung. Die Sehnsucht, eigentlich etwas sehr, sehr Deutsches, ohne dass ich es damals gewusst habe. Die Sehnsucht, in diese Sprache auch einzutauchen, in das, was mir so lange so fremd war, denn meine Eltern haben ja in Deutschland gearbeitet und kamen auch immer wieder nach Jugoslawien und sprachen Deutsch miteinander.
Dieses Fremde wollte ich, glaube ich, intuitiv spontan erobern, in so einem geistigen Sinne Teil dieses Fluidums sein. Und dann ist es so, wie es für alle Kinder ist: die Schönheit, die neuen Menschen, die neuen Freunde, die neue Schule, das neue Leben. Was ich erfahren habe, erfahren alle Menschen, die sich irgendwie ein bisschen bewegen, nämlich dass das Leben nie im Singular dar ist, dass die Dinge immer alle gleichzeitig da sind. Und das hat eine unmittelbare Freude damals in mir hervorgerufen und macht es bis heute.
"Die Situation hat sich vollständig verändert"
Hübert: Wenn wir auf die heutige Zuwanderer-Entwicklung schauen, haben die es ungleich schwerer, Menschen, die heute kommen aus Nahost, aus Afrika, als Sie vom Balkan Mitte der 80er-Jahre?
Bodrozic: Ja, die Situation hat sich vollständig verändert, einfach durch die Krisen dieser Welt, dass die Bewegungen nicht nur Migrationen im Sinne einer Arbeitsmigration, so wie das meine Eltern damals vollzogen haben, sind, sondern dass die Menschen unglaubliches Unglück hinter sich lassen, dass sie sich so viel versprechen von Europa. Überhaupt müsste man sich fragen, was ist das. Vielleicht denken sie ja auch ein ganz anderes Europa an als das, in dem wir leben.
Ich denke, dass sie es sehr schwer haben, auch die Sprache zu erlernen, dass diese Liebe, die mir so möglich war in diesem beschaulichen Main-Taunus-Kreis Anfang der 80er-Jahre, dass das noch einmal eine größere Herausforderung ist. Aber ich hoffe, dass das dennoch möglich ist, weil die Sprache genau diese Brücke ist, in der die Geschichten der Menschen ihren Platz haben können, aber mittels Sprache auch das Neue sich aneignen können, Teil davon werden können und auch müssen.
Denn über die Sprache finden wir zu dem anderen, zu der anderen Welt, zu der Lebenswelt auch, und das ist wichtig für uns alle, gerade auch, da ich die Freiheit vorher erwähnt habe, im Sinne aller. Denn die Freiheit meint nicht nur den Einzelnen, der Schutz sucht, der diese Freiheit auch gewährt bekommt, sondern auch ein Geben und Nehmen, was von beiden Seiten sehr, sehr wichtig ist.
Hübert: Sie haben längst den deutschen Pass. Sie sind auch mit einem Deutschen verheiratet. Zu Ihrer Mitgliedschaft noch am Ende im internationalen Schriftstellerverband: Warum eigentlich sind Sie ausgerechnet im P.E.N.-Club des Fürstentums Liechtenstein? Ist das das noch bessere Deutschland?
Bodrozic: Sehen Sie, da hat mich die Poesie hingeführt. Ich habe nämlich die große Freude mal gehabt, vom P.E.N.-Club Liechtenstein einen Literaturpreis für meine Lyrik zu bekommen, und so hat sich die Verbindung ergeben. Und ich finde, für mich in meinem eigenen Leben hatte es auch so eine kleine symbolische Bedeutung, noch einmal einen Moment lang sich auch von dieser neuen Identität frei zu machen, und in diesem Sinne bewege ich mich auch gerne, dass ich mich da nicht festlegen lassen.
Das, worin ich wohne, worin ich mich bewege, worin ich sozusagen der kleine Vogel und der denkende Mensch zeitgleich bin, das ist die deutsche Sprache, und die kann mir niemand wegnehmen. Sie ist eigentlich im Grunde genommen mein Ausweis.
Hübert: Das sagt die deutsche und in Jugoslawien geborene Schriftstellerin Marica Bodrozic.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.