Karin Fischer: "Was ist deutsch?" fragen wir die Nachkommen der Migrantenfamilien früherer Jahrzehnte, die heute in Deutschland denken und schreiben. Esra Kücük ist Sozialwissenschaftlerin und hat 2010 die "junge Islamkonferenz" gegründet, auch als Reaktion auf Thilo Sarrazin und seine krude Thesen. Im März wird sie zum Gorki-Theater stoßen und dort das Gorki-Forum aufbauen, das die gesellschaftlichen Debatten einer postmigrantischen Großstadt wie Berlin reflektieren und spiegeln soll.
- Esra Kücük ist sehr gerne empirisch und wissenschaftlich unterwegs und hat deshalb auf eine Studie der Humboldt-Universität hingewiesen, die die Einstellung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Religion, Gesellschaft und Identität klären wollte. Was, habe ich Esra Kücük zuerst gefragt, erfahren wir dort denn zu unserer Frage?
Esra Kücük: Ja, auf "Was ist deutsch?" kann man natürlich auf mehrere Art und Weise antworten. Wie Sie sagen, empirisch sind wir dieser Frage nachgegangen in der Studie. 97 Prozent der Bevölkerung ist wichtig, dass Deutscher der ist, der die Fähigkeit mitbringt, deutsch zu sprechen. 79 Prozent sagen, die deutsche Staatsangehörigkeit ist ihnen wichtig. Oder 40 Prozent, die sagen, man muss akzentfrei deutsch sprechen. Das sind ja alles eher Kriterien und haben nicht so viel mit emotionalen Dingen zu tun. Darum haben wir versucht, auch rauszubekommen, was denn so die Gefühlswelt betrifft, was die Narration oder vielleicht die Ereignisse aus der Geschichte sind, die Menschen mit dem Deutschsein verbinden. Und da haben wir rausbekommen, dass im Grunde erst einmal Deutschland ein sehr positives Image hat, dass 85 Prozent der Menschen sagen, ich liebe Deutschland. Und dass der Ausgangspunkt von diesem positiven Selbstbild die Wiedervereinigung ist und gar nicht mehr mit dem Zweiten Weltkrieg oder mit dem Holocaust. Das sind sehr viel geringere Zahlen, die darauf verweisen. Ich glaube, es ist immer leichter, von außen auf etwas zu schauen und zu sagen, wie es ist, als von innen heraus. Ich glaube, das ist die Schwierigkeit und die Debatte, die wir führen jetzt hier aus dem Inneren heraus: Was ist eigentlich deutsch?
Fischer: Aber Sie gucken ja schon seit ein paar Jahren aus diesem Inneren heraus. Könnte man sagen, dieses Wir, dieser deutsche Gesellschaftskörper, um es mal pathetisch zu formulieren, ist längst so was wie ein multiethnisches Gebilde geworden und deutsch überhaupt nur insoweit, als alle seine Teile in diesem Land leben, dass man die Frage "Was ist deutsch?" vielleicht dann besser beantworten kann, wenn man fragt, "Wer sind wir?"
20 Prozent der Gesellschaft mit Migrationshintergrund
Kücük: Genau! Ich glaube, das ist ein Teil der Antwort, wenn wir in den Spiegel schauen und sehen, dass mehr als 20 Prozent unserer Gesellschaft heutzutage Migrationshintergrund mitbringt. Darum wird vielmehr die Frage sein, gar nicht das zu nivellieren, dass wir vielfältig sind, sondern eher die Frage sein, wie gehen wir damit um. Weil ich glaube, wir können keine positive Geschichte daraus machen, wenn wir die ganze Zeit uns dagegen wehren, das sein zu wollen. Also ist mehr die Frage, welche Gesellschaft wollen wir sein, weil dann können wir auch diese Gesellschaft, glaube ich, werden, als uns darum zu streiten, wie vielfältig und ob wir Vielfalt gut finden oder nicht, weil sie ist einfach da. Und wir sehen ja auch die Gesellschaften, die das gemacht haben, dass es im Grunde positive Ergebnisse erbracht hat, wenn wir an so Länder wie Kanada denken beispielsweise. Unity in diversity, Einheit in Vielfalt, ist nicht nur unser Slogan, also nicht nur Marketing, sondern ist auch das, womit wir uns wirklich identifizieren.
Fischer: Jetzt haben Sie, Frau Kücük, schon einige der Schwierigkeiten benannt, die wir Deutschen, sage ich jetzt, mit der postmigrantischen Gesellschaft und mit diesem "die" und "wir" haben. Wir hatten gestern an derselben Stelle das Beispiel, dass viele der Helfer, die heute Flüchtlinge unterstützen, selbst aus migrantischen Familien stammen, darüber aber nie berichtet wird. Das scheint mir aber nach gerade ein strukturelles Problem zu sein.
Kücük: Ja, das ist leider momentan in der Diskussion um Flucht in Deutschland grundsätzlich eine Sache, die ich ein bisschen vermisse. Dass wir diesen Menschen gar nicht so sehr vertrauen, wenn sie sagen, wir schaffen das, und wenn sie positiv mit dieser Herausforderung umgehen, sondern die Stimmen viel lauter gerade wahrgenommen werden, die Angst machen, die eher diese Abwehrhaltung haben. Und in der Tat finde ich das sehr schade, dass in einem positiven Kontext, wenn wir Helferinnen und Helfer haben mit Migrationsgeschichte, die jeden Tag an Flüchtlingsunterkünften, Erstaufnahmelagern stehen und helfen, dass wir da den Migrationshintergrund nicht betonen, aber jetzt gerade, wie wir es sehen, in der Debatte rund um die Übergriffe in Köln, die sich ereignet haben, da den Migrationshintergrund ganz bewusst betonen, obwohl wir noch gar nicht genauere Informationen haben zu den Tätern, aber schon eine laufende Debatte dazu, wie damit umgegangen werden soll, wenn die Täter einen solchen oder solchen Hintergrund mitbringen.
Fischer: Dazu wollte ich Sie gerade ansprechen. Da erleben wir gerade die Vermischung sämtlicher Begrifflichkeiten in dieser Debatte um die Gewalt gegen Frauen in der Silvesternacht. Plötzlich wird Frauen der gute Rat gegeben, sich von Männergruppen fernzuhalten. Die Kürzestdenkenden werfen da in den üblichen Netzkanälen die möglichen Täter sofort mit den Flüchtlingen in einen Topf. Was passiert denn da gerade im Augenblick?
Köln als "Beweis" für die Maskulinisierung im öffentlichen Raum
Kücük: Zunächst einmal müssen wir ja sagen, was wissen wir überhaupt. Wir wissen, dass eine Gruppe von organisierten Kriminellen die chaotische Situation vor dem Hauptbahnhof in der Silvesternacht genutzt haben, um sich über Opfer herzumachen. Diebstahl und sexuelle Übergriffe, davon wissen wir. Und das ist furchtbar und so was darf natürlich überhaupt nicht passieren und so was muss diskutiert werden. Was wir jetzt aber wirklich diskutieren oder haben - mal wieder - ist eine Einwanderungsdebatte, eine Debatte über unsere Einwanderungspolitik, über unsere Flüchtlingspolitik. Einige Akteure sind sehr froh darüber, dieses Beispiel zu nehmen, um das als Beweis für die Maskulinisierung des öffentlichen Raums durch Flüchtlinge zu thematisieren und wieder Obergrenzen auf die Agenda zu bringen. Obwohl die Polizei bereits die Information gegeben hat, dass es sich hierbei nicht um Flüchtlinge handelt, dass es sich um polizeibekannte Intensivtäter handelt, die offenbar gezielt als Gruppe diese Aktion geplant haben. Aber für mich ist das auch egal. Ganz unabhängig von dem Hintergrund ist es für mich nicht zulässig, jetzt diese Debatte so zu führen. Wenn es zulässig wäre, angesichts der Übergriffe in Köln die Zuwanderungspolitik infrage zu stellen, dann müsste man das ja ständig machen. Dann müsste man ja angesichts von 800 Anschlägen auf Flüchtlingsheime auch darüber sprechen, dass es zulässig wäre, Pegida oder AfD oder die NPD zu verbieten. Und so funktioniert eben die Rechtsstaatlichkeit nicht.
Fischer: Man hat aber den Eindruck, als ob im Moment wirklich viel zusammenkommt, das Thema Fremdenfeindlichkeit in Deutschland zu triggern. Wo stehen wir gerade in dieser Hinsicht?
Kücük: Ja, im Grunde sind das Debatten, die wir gerade erleben, die wir in den 90er-Jahren auch schon hatten. Und das ist das, was ich so traurig daran finde, dass wir reflexartig gewisse Ressentiments wiederholen. Dieser Vergewaltigungsmythos beispielsweise, diese Debatte hatten wir auch im Zusammenhang der italienischen Gastarbeiter damals, wo es hieß, sie werden unsere blonden Frauen im Schwabenland vergewaltigen. Und diese tief dahinter sitzenden Ressentiments in den Debatten, die werden leider derzeit überhaupt nicht so richtig decodiert, weil die rechte Gegenöffentlichkeit so präsent ist. Dass ich den Eindruck habe, dass auch seriöse Medien gerade in den Druck geraten, dass sie dem Vorwurf gerecht werden müssen, nicht aus falsch verstandener Toleranz oder politischer Korrektheit nicht über die negativen Dinge zu berichten. Aber darüber gerät einiges durcheinander. Und da würde ich mir doch wieder mehr wünschen, dass wir an die Dinge zurück uns erinnern, wovon wir auch viel gelernt haben in der Zeit der Gastarbeiter und des Asylkompromisses in den 90er-Jahren.
Fischer: Das ist eine interessante Tendenz, die Sie da aufzeigen, Frau Kücük. Gibt es denn auch positive Entwicklungen in der aktuellen Integrationsdebatte?
Kücük: Ja. Ganz positiv ist natürlich, dass uns die Gesellschaft, und zwar nicht die politischen Debatten, sondern die Gesellschaft da draußen, um die es ja geht, die vor Ort sind an den Erstaufnahmelagern, die vor Ort sind und mithelfen, dass die uns spiegeln dieses Kredo der Kanzlerin, wir schaffen das. Wenn ich vor Ort bin und mit den Menschen rede, oder wenn ich neue Berliner zu mir nachhause zu einem Abendessen einlade. Und sie mir spiegeln, was sie bisher von Deutschland mitbekommen haben, dann sind das ganz viele positive Geschichten. Und ich glaube, auf die können wir sehr stolz sein und uns darüber freuen, dass immer noch die Bereitschaft so anhält und wir eine sehr positive Zivilgesellschaft haben.
Fischer: Esra Kücük, die Begründerin der jungen Islamkonferenz und demnächst Mitglied im Direktorium des Gorki-Theaters in Berlin, zur Frage "Was ist deutsch?".
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