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Serie "Was ist deutsch?"
"Symbole kommen und gehen"

Eine Festschreibung der Nationalhymne ins Grundgesetz findet die Schriftstellerin und Journalistin Mely Kiyak befremdlich. Die Neuankömmlinge in Deutschland bräuchten keine Wegweiser, die zeigen, hier laufe alles prima, sagte sie im Deutschlandfunk.

Mely Kiyak im Gespräch mit Antje Allroggen |
    Die Journalistin Mely Kiyak
    Die Journalistin Mely Kiyak (dpa/ picture alliance / Karlheinz Schindler)
    Antje Allroggen: "Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage "Was ist deutsch?" niemals ausstirbt", hat Friedrich Nietzsche einmal gesagt. Immer wieder gab es gute Gründe, danach zu fragen, was eigentlich deutsch ist. Nach 1945 war die kollektive Identität erschüttert. Bis heute wirkt diese Erschütterung in Brüchen nach. Gegenwärtig sind es die Flüchtlinge, die tagtäglich zu Tausenden nach Deutschland kommen, die die Frage nach der eigenen Identität erneut aufs Tableau bringen. Deutschland befindet sich in einer Transformationsphase. Damit verbunden ist die Aufgabe, sich als Einwanderungsgesellschaft neu zu denken, vielleicht auch neu zu erfinden, ohne die Ängste vieler vor diesen umfassenden Veränderungen zu ignorieren. Deshalb fragen wir in einer kleinen Reihe zu Beginn des neuen Jahres noch einmal, "Was ist deutsch?", um diese Frage aber auch für Neues zu öffnen, was sollte deutsch sein, was könnte deutsch noch sein, und lassen dazu Kulturschaffende mit Migrationshintergrund zu Wort kommen.
    - Heute ist Mely Kiyak an der Reihe. Sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren als freie Autorin und Journalistin. Als wir Mely Kiyak für ein Gespräch innerhalb dieser kleinen Serie angefragt haben, antwortete sie: Das Thema Integration langweile sie inzwischen kolossal. Es sei nichts als schwammiges Zeug. Deshalb haben wir uns über etwas anderes unterhalten, nämlich über deutsche Symbole. Ich habe Mely Kiyak zunächst gefragt, was für sie typisch deutsche politische Symbole sind.
    Mely Kiyak: Wüsste ich nicht. Kann ich Ihnen nicht beantworten. Ich glaube, unser politisches Symbol wäre das Grundgesetz, das sozusagen unser Zusammenleben in der Öffentlichkeit regelt, in der Gesellschaft. Aber mir widerstrebt es fast, es ein Symbol zu nennen, weil es kein Symbol ist, sondern weil es die Grundlage unseres Zusammenlebens ist.
    Allroggen: Sie denken zunächst an keine gehisste Fahne, an den Schwarzen Adler, oder auch an die Nationalhymne?
    Kiyak: Symbole kommen und gehen
    Kiyak: Nein! Die Symbole kommen und gehen. Und jetzt aktuell - und wir können ja immer nur für unsere politische Gegenwart sprechen, denn nie hat es ja eine politische Gegenwart auf dem Gebiet, auf dem Deutsch gesprochen worden ist, die hat ja nie fünf Jahrzehnte am Stück oder so überlebt. Außer - Ausnahme - nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland.
    Allroggen: Sie haben sich auch Gedanken zur deutschen Nationalhymne gemacht. Die gehört ja zur Symbolpolitik der Deutschen dazu. Die CDU will sie jetzt sogar im Grundgesetz verankert wissen. Soll die Hymne, was meinen Sie, unserer Selbstvergewisserung dienen, oder soll sie als Wertekanon den Geflüchteten dienen, Mely Kiyak?
    Kiyak: Ja. Ich habe mir darüber, über die Nationalhymne, ehrlich gesagt, gar keine Gedanken gemacht. Ich hatte sie schon fast vergessen. Sie fällt einem ja nur auf, wenn Fußballspiele sind. Und das letzte Mal, dass sie wirklich mit großem Pathos gesungen wurde, war, als die Mauer fiel, also mit großem Pathos. Und dann war ich so erstaunt, als ich hörte, dass die CDU auf ihrem Parteitag in Karlsruhe - ich glaube, auf Antrag der jungen Parteimitglieder - beschlossen hatte, dass die deutsche Nationalhymne ihren Platz im Grundgesetz bekommen solle. Und da war ich natürlich erst mal ganz erschrocken, weil ich Länder kenne, in denen die Fahne und die Nationalhymne, wenn sie denn im Gesetz verankert ist, so heilig ist, dass eine Verletzung dessen mit Gefängnisstrafe geahndet wird. Und ich dachte, um Gottes Willen, das darf in Deutschland nicht passieren. Und stellte dann fest, die Verunglimpfung der staatlichen Symbole ist auch in Deutschland verboten und kann mit bis zu drei Jahren Haft geahndet werden. Dann schaute ich mir die Begründung an. Und die hieß: Gerade jetzt, wo so viele Menschen zu uns kommen, sollten wir ein Zeichen setzen, dass unsere Nationalhymne das ausdrückt, was wir fühlen. Ich glaube, das einzige, was man schon allein aus der Geschichte unserer Nationalhymne sehen kann, ist, dass wir eben nicht das sind, was uns die ganzen Nationalisten auch dieser Tage und diese ganzen rechten Vereinigungen und so weiß machen wollen, dass Deutschland so ein Gebilde ist, was irgendwie seit Ewigkeiten existiert hat. Und mit einer Fahne und einer Hymne und jeder, der von außen kommt, bedroht dieses Gebilde und kann nicht dazugehören, sondern der Text und die Geschichte der Nationalhymne zeigen uns eigentlich, wie wechselvoll diese Geschichte dieses heutigen Deutschlands ist. Und dass, wenn man zurückblickt, es viele Deutschlands waren. Wir sind sozusagen improvisiert zusammengewürfelt.
    Allroggen: Sie sprechen von einem verstümmelten Text in Bezug auf die Nationalhymne. Sie haben gerade von einer improvisierten Nation gesprochen. Finden Sie das denn schlimm?
    Kiyak: Nein, überhaupt nicht. Gar nicht! Man muss ja sagen, dass viele Nationalhymnen der Länder, wenn man mal guckt, das sind ja zum Teil extrem blutrünstige und auch unpoetische Texte. Die Frage ist, braucht ein Land eine Nationalhymne und warum brauchen wir das, warum müssen wir uns hymnisch besingen, können wir das überhaupt, können das die einzelnen Länder. Das gilt ja nicht nur für Deutschland. Jedes Land, wenn es sich umdreht und ein paar Jahrzehnte manchmal nur in seiner Geschichte blättert, kann ja angesichts der Kriege, kann sich ja eigentlich gar nicht hymnisch besingen und braucht es vielleicht auch nicht. Wenn ich sage verstümmelt, dann sage ich das nicht, um zu diskreditieren, sondern ich sage das, um zu illustrieren, wer wir sind und wie wir zueinander gekommen sind, auf welchem Weg das geschehen ist.
    Allroggen: Die Nationalhymne beschwört die Einigkeit ja aber auch gerade deshalb, weil Deutschland, wie Sie gerade beschrieben haben, immer wieder Stückwerk war. Politische Symbole sind ja auch Wunschzeichen, auf die sich alle erst mal verständigen können oder auch sollen. Sind politische Symbole insofern nicht wichtige Wegweiser, sowohl für die Deutschen, die schon angekommen sind, als auch für die nach Deutschland geflohenen?
    Kiyak: keine Wegweiser notwendig
    Kiyak: Na ja, mein Eindruck ist, ehrlich gesagt, dass diejenigen, die dazukommen, keine Wegweiser brauchen im Sinne eines Nationengebildes. Die kommen doch selber aus Ländern, in denen sie genau wissen, wie das funktioniert mit den Nationen und wie brüchig das ist. Die haben doch gerade ihre Nation verlassen. Die kommen doch oft aus ethnischen und sozialen Konflikten. Denen müssen wir nicht noch Wegweiser geben und sagen, schaut mal, bei uns läuft das alles prima. Ich glaube, was ich sehr viel wichtiger fände und was auch ein großes Defizit in Deutschland ist, ist, sozusagen eine Geschichte über dieses Land zu erzählen, ohne irgendwelche Gruppen auszuschließen. Denn das sehen wir ja. Das ist ja eigentlich das Ringen auch in all den Debatten, die wir um Nation und das Deutschsein und so weiter führen, dass immer Gruppen kommen und sagen, wir wollen teilnehmen an diesem Prozess. Wir wollen, dass unsere Vergangenheit oder unsere Gegenwart oder die Geschichte unserer Eltern Teil von diesem Deutschland ist. Wir wollen, dass an großen Feiertagen, wenn die Kanzlerin oder der Bundespräsident vor die Mikrofone tritt und dieses Land beschwört, dass wir, die Flüchtlinge, die Gastarbeiter, alle Menschen, die im Laufe dieser Jahrzehnte dazugekommen sind und dieses Land gebildet haben, abgebildet werden in Wort und Erinnerung. Und ich glaube, wenn wir das hinkriegen, vielleicht wäre das ein schönes Symbol sogar. Aber es wäre auch Realität und es wäre, finde ich, angesichts der Geschichte auch wahrer und wahrhaftiger.
    Allroggen: Wir hatten uns so ein bisschen darauf verständigt, nicht über Integration zu sprechen. Vielleicht machen wir es jetzt doch ganz kurz an dieser Stelle. Sie schreiben in einem Ihrer Texte, dass Sie nichts auf Integration geben. Niemand solle sich integrieren. Sie selber würden das auch nicht tun. Sie würden gar nicht daran denken. Was gibt es an Alternative für Sie?
    Kiyak: Da muss ich lachen, weil ich erinnere mich. Das habe ich mal in einer Kolumne geschrieben. Ich habe gesagt, ich denke überhaupt nicht daran, mich zu integrieren, und die Leute sind fast ausgeflippt. Und ich bleibe dabei. Ich integriere mich nicht, ich habe überhaupt kein Interesse an Integration. Niemand muss sich überhaupt gar nicht integrieren und mich nervt das kolossal und von mir aus kann das ins Grundgesetz, niemand muss sich integrieren. Mir reicht es, wenn die Leute das Gesetz einhalten und mich nicht auf der Straße überfallen. Und alle zahlen Steuern, ich zahle auch Steuern. Ich zahle sie übrigens gerne und das langt mir vollkommen. Wir haben Schulpflicht und ein Arzt muss mich behandeln, wenn ich verletzt bin. Irgendwie läuft es doch. Ich finde es besser, wenn die Leute, wenn man Menschen hilft, dass sie gleichberechtigt sind. Ich habe ein Interesse an gleichberechtigten Menschen. Ich bin nicht oben und da unten sind welche und die müssen sich nach mir richten oder so. Gar nicht!
    Allroggen: Muss es denn neue Formen demokratischer Teilhabe geben?
    Kiyak: Wunsch nach einer wirklich gleichberechtigten Gesellschaft
    Kiyak: Na ja, ich erinnere nur daran, dass wir in diesem Land 4,5 Millionen Menschen haben, die immer noch kein Wahlrecht haben: die ehemaligen Gastarbeiter. Wenn es uns wirklich mit diesem schrecklichen Begriff der Integration wichtig gewesen wäre, nämlich der politischen Integration, dann könnten wir keinen Tag länger damit leben, dass Menschen in diesem Land seit 30, 40, 50 Jahren sich abgebuckelt haben und nicht mal wählen dürfen über die Leute, die tagtäglich über sie sprechen. Ich fände es schön, wenn wir in einer emanzipierten Gesellschaft leben, in einer wirklich gleichberechtigten Gesellschaft.
    Allroggen: Noch eine persönliche Frage: Sie sind im deutschen Sulingen geboren und leben jetzt in Berlin Prenzlauer Berg. So ganz durchmischt ist es da vielleicht auch nicht mehr, wo es, wie Sie auch sagen, jede Menge Fundamentalisten mit heller Hautfarbe gibt und Filzklamotten tragende Schwaben, die die Ossis verdrängen. Leben Sie eigentlich gerne in Deutschland, oder ertragen Sie das nur noch mit ganz viel Ironie?
    Kiyak: Ich bin natürlich vom Prenzlauer Berg weggezogen, weil es war die größte und schrecklichste Parallelgesellschaft, die ich je in meinem 40-jährigen Leben erlebt habe. Ich lebe jetzt in einem Viertel, in dem 167 Nationen, glaube ich, unter einem Dach leben. Ich habe auch vorher schon in Kreuzberg immer gearbeitet und habe in Prenzlauer Berg gelebt. Das war eine Verirrung. Aber ich bin auch nach der Wende, mich hat es immer interessiert, dahin zu gehen, wo niemand hin wollte. Ansonsten: Ich bin ein Mensch, mich können Sie auch in China abwerfen und da fühle ich mich dann auch wohl. Ich bin für mein Leben selber verantwortlich und auch für mein Glück. Und wenn es mir hier nicht gefällt, dann gehe ich woanders hin.
    Allroggen: Überall zuhause sein, so ist das in der globalisierten Welt - die Journalistin und Autorin Mely Kiyak war das in unserer Reihe "Was ist deutsch?"
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.