Außenminister Heiko Maas (SPD) hat angekündigt, dass die Bundesregierung keine weiteren Lieferungen von Waffen an die Türkei genehmigt, die in Syrien eingesetzt werden könnten. Dagdelen bezeichnete dies als "eine schwache Nummer". Waffen wie jagdfähige U-Boote, die nicht für das türkische Heer bestimmt seien, würden nicht minder problematisch eingesetzt, betonte die Linken-Politikerin. Die Waffenexporte an die Türkei würden alles andere als restriktiv gehandhabt.
Zum Abkommen zwischen den Kurden in Nordsyrien und der Armee von Syriens Präsident Baschar al Assad sagte Dagdelen, es eröffne die Möglichkeit, sich gemeinsam gegen den sogenannten Islamischen Staat zur Wehr zu setzen und "weitere Massaker Erdogans und seiner Schergen" zu verhindern. Die Kurden fühlten sich verraten und verkauft und seien nun zu diesem Zugeständnis bereit, um einen Völkermord abzuwenden.
Das Interview in voller Länge
Christiane Kaess: Mehr als 100.000 Menschen auf der Flucht. Zivilisten kamen bereits ums Leben bei der Militäroffensive der türkischen Armee in Nordsyrien. Außerdem Dutzende, wenn nicht Hunderte Kämpfer der Kurden-Miliz YPG. Dass etliche Staaten gegen den türkischen Vormarsch protestieren, scheint Ankara nicht groß zu beeindrucken. Auch nicht die Wirtschaftssanktionen, mit denen die USA drohen, oder die Tatsache, dass mehrere Länder, auch Deutschland ihre Rüstungsexporte an die türkische Regierung eingeschränkt haben. Die Kurden haben sich nun hilfesuchend an das Assad-Regime in Syrien gewandt. Sevim Dagdelen ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag und sie ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Wir haben heute Morgen ja eine neue Eskalationsstufe. Assad will Truppen zur Unterstützung der Kurden schicken. Beginnt jetzt im Norden Syriens ein Zermürbungskrieg?
Sevim Dagdelen: Ich weiß nicht, ob das jetzt eine neue Eskalationsstufe ist, weil Fakt ist, dass wir eine Invasion des türkischen Staatspräsidenten Erdogan mit seiner Armee haben und seiner islamistischen Soldateska, mit der Freien Syrischen Armee, die dort Massaker begeht, und dass da eine neue humanitäre Katastrophe in der Region angerichtet worden ist, wo Hunderte von IS-Angehörigen auch freigekommen sind in den Lagern, wo sie waren. Insofern muss man gucken, ob das eine Eskalation ist, oder nicht dieses Abkommen von den Kurden mit Assad die Möglichkeit eröffnet, sich gemeinsam gegen die islamistischen Terrormilizen zur Wehr zu setzen und vor allen Dingen weitere Massaker Erdogans und seiner Schergen zu verhindern.
Kaess:!! Frau Dagdelen, aber es kommt ja jetzt eine neue Konfliktpartei noch dazu und wir wissen noch nicht einmal – im Bericht ist das angeklungen -, wie Russland reagieren wird.
Dagdelen: Genau! Russland hat ja schon reagiert, indem sie gesagt haben, wir wollen eine No Fly Zone errichten, beziehungsweise wollen sie auch, dass alle ausländischen militärischen Kräfte, die nicht auf Einladung der syrischen Regierung in Syrien sich befinden, wieder rausgehen sollen. Man muss jetzt abwarten, was sein wird. Klar ist: Die Kurden fühlen sich von den USA und Trump und dem Westen verkauft und verraten an den NATO-Partner Türkei und sind laut eigener Aussage für diese schmerzhaften Zugeständnisse bereit, um diesen Völkermord der Türkei in Syrien abzuwenden. Ich finde, was wir jetzt machen müssen, ist, klar Druck auszuüben, dass diese Einigung unterstützt wird, indem weiteres Blutvergießen verhindert wird und weitere Massaker. Wichtig ist, wie die USA sich hier verhalten wird, ob sie tatsächlich ihre Truppen abziehen wird, oder hier nicht nur einen vermeintlich neutralen Akteur spielt, sondern sich auf die Seite der Türkei stellt, weil die Aussagen aus der Türkei, dass man bereit ist zu einem Krieg gegen Syrien, sind darauf hinzudeuten, dass sie eventuell ein Backing der USA haben, und das wäre dann der Beginn eines noch größeren Krieges.
"Generelles Waffen-Exportverbot für die Türkei"
Kaess: Aber, Frau Dagdelen, um das noch mal rauszuarbeiten. Sie glauben, unter Umständen könnte das den Konflikt verkürzen, wenn Assads Truppen jetzt eingreifen, und die Türkei dann schneller bereit sein oder überhaupt bereit sein, sich zurückzuziehen?
Dagdelen: Das könnte so kommen. Es könnte sein. Trotz aller Auseinandersetzungen haben sich ja Assad und die Kurden nie militärisch bekämpft. Das ist ja richtig in dem Vorbericht angeklungen. Das kann jetzt auch eine Voraussetzung dafür sein, für die Beibehaltung der kurdischen Autonomie. Dafür spricht auch, dass die FDS ihre Waffen nicht abgibt, die politischen Strukturen im Nordosten Syriens nicht angetastet werden sollen. Das kann dazu führen, dass man zusammen gemeinsam hier tatsächlich die islamistischen Mörderbanden zurückdrängt und damit auch die Türkei zurückdrängt.
Kaess: Jetzt hat Außenminister Heiko Maas gesagt, die Bundesregierung wird keine neuen Waffenexporte in die Türkei genehmigen. Sie haben das ja schon davor gefordert. Aber was bringt das?
Dagdelen: Das was an Aussagen von Außenminister Maas und der Regierung gemacht worden ist, ist meiner Meinung nach eine Nebelkerze, weil da ist eine Einschränkung. Es sollen keine Waffen genehmigt werden, keine Waffenexporte, die in diesem Einsatz in Syrien verwendet werden könnten. Wenn man sich die Rüstungsexportberichte von 2017 und 2018 anschaut und auch die tatsächliche Ausfuhr von bereits genehmigten Waffenexporten im ersten Halbjahr 2019 sich anschaut, sind das Waffen, die nicht für das Heer geeignet sind und damit auch nicht unbedingt für einen solchen Einsatz wie in Syrien, sondern das ist ein anderer Bereich wie zum Beispiel der maritime Bereich, die jagdfähigen U-Boote, die aber nicht minder problematisch eingesetzt werden können wie beispielsweise im östlichen Mittelmeer in der Konfrontation der Türkei gegenüber dem EU-Mitgliedsland Zypern. Insofern finde ich das eine schwache Nummer. Ich würde mir wünschen, dass man ein generelles Exportverbot von Waffen an die Türkei verhängt, auch natürlich, um ein klares Zeichen zu setzen, dass man nicht gewillt ist, dass ein NATO-Partner, dass ein EU-Beitrittskandidat einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg einfach so vom Zaun bricht und eine humanitäre Katastrophe in der Region anrichtet.
Deutsche Finanzhilfen stabilisieren Türkei
Kaess: Aber, Frau Dagdelen, die Frage stellt sich trotzdem nach der Wirkung, und die Bundesregierung hat jetzt auch noch mal darauf hingewiesen, dass in letzter Zeit, spätestens seit der türkischen Offensive in Afrin, die Waffenexporte an die Türkei ohnehin schon sehr restriktiv gehandhabt wurden. Alles das hat ja die Militäroffensive in Nordsyrien nicht verhindert und Erdogan sagt ja auch, das wird uns nicht stoppen.
Kaess: Zunächst einmal möchte ich behaupten, dass das überhaupt nicht restriktiv ist. Die Türkei ist Empfängerland Nummer eins unter den NATO-Staaten von deutschen Waffen, allein im ersten Halbjahr ein Volumen von über 180 Millionen Euro, im ersten Halbjahr 2019. Ich weiß jetzt nicht, was in den letzten Monaten geschehen ist. Das ist alles andere als restriktiv. Das zweite ist: Ich finde, jede Waffe, die man dem türkischen Präsidenten liefert, der damit in der Region zündelt, ist eine zu viel! Das dürfen wir nicht einfach mehr zulassen, auch in unserem eigenen Interesse. Es kommt ja auch hinzu nicht nur die Waffenexporte, sondern wir müssen nicht nur uns anschließen den europäischen Partnern wie Norwegen, Finnland und Niederlande mit einem generellen Waffenexportstopp; wir müssen auch umkehren mit der wirtschaftlichen und mit der Finanzhilfe, weil Erdogan steht und fällt mit der ausländischen Finanzhilfe. Ich finde es nicht vermittelbar, dass aus der deutschen Staatskasse seit 2018 2,6 Milliarden Euro Bürgschaften erteilt worden sind für Investitionen in der Türkei. Das ist eine Stabilisierung dieses Systems, damit müssen wir aufhören.
Kaess: Diese Forderungen, die gibt es ja auch bereits. Aber alles das ist natürlich nicht so einfach. Auch die Waffenlieferungen, über die Sie gesprochen haben, denn immerhin ist die Türkei NATO-Partner. Und es kommt noch etwas ganz anderes dazu: Erdogan droht ja damit, Flüchtlinge nach Europa zu schicken, wenn die Türkei weiterhin so scharf kritisiert wird. Ganz realpolitisch betrachtet: Sitzt er nicht letztendlich am längeren Hebel?
Dagdelen: Da sprechen Sie etwas an, was auch ein Problem ist, weil jetzt zeigt sich in aller Schärfe, dass die Bundeskanzlerin Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik ganz Europa zur Geisel eines Erpressers gemacht hat. Und ich finde, dieser Deal ist nicht alternativlos, dieser Flüchtlingsdeal. Ich finde, wir müssen jetzt …
Kaess: Was wäre denn die Alternative gewesen?
Dagdelen: Die Alternative ist, dass man die Fluchtursachen bekämpft, und das hat man seit 2015 nicht gemacht. Das sind jetzt vier Jahre her. Nichts ansatzweise wurde getan, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Menschen werden jetzt wieder in die Flucht getrieben. 150 bis 160.000 Menschen wegen diesem Angriffskrieg der Türkei unter Erdogan sind jetzt wieder am flüchten. Das heißt, wir machen einen Flüchtlingsdeal mit einer personifizierten Fluchtursache wie dem Präsidenten Erdogan. Ich finde, wir müssen die Wirtschaftssanktionen gegenüber Syrien endlich aufheben, weil sie zur Verarmung der Bevölkerung und zu einem neuen Exodus führen die ganze Zeit. Das muss beendet werden. Wir müssen hinkehren, in einen Wiederaufbau zu investieren, auch in den kurdischen Gebieten, auch in ganz Syrien, damit tatsächlich Menschen auch wieder zurückkehren können und wir nicht jedes Mal Angst haben müssen, dass Flüchtlinge aus Syrien oder aus Syrien über die Türkei letztendlich nach Europa kommen.
Wenn sich die USA zurückziehen, zieht die Türkei nach
Kaess: Lassen Sie uns zum Schluss noch mal ganz konkret auf die Konfliktsituation jetzt gucken. US-Präsident Trump rät den Kurden zum Rückzug. Sollten die Kurden diesen Rat befolgen? Ist das nicht langfristig die einzige Möglichkeit, diesen Konflikt zu befrieden, wenn die Kurden hier nachgeben würden?
Dagdelen: Nein, ganz und gar nicht. Das heißt ja dann, dass man einer neuen Besatzungsmacht wie der Türkei mit Hilfe von islamistischen Mörderbanden der Freien Syrischen Armee Zugang gewährt in eine große Zone. Das würde weitere Destabilisierung mit sich bringen. Und ich meine, der Vorschlag ist ja jetzt auch obsolet, sich zurückzuziehen, weil die Kurden werden sich nicht mehr zurückziehen. Sie werden jetzt mit der syrischen Armee zusammenarbeiten, unter dem Schutz der Garantiemacht Russland für Syrien. Insofern wird es spannend sein, wie die USA sich tatsächlich jetzt verhalten werden, ob sie tatsächlich die Seite gewechselt haben auf die Seite der Türkei, um weiter diesen Regime-Change-Krieg weiter fortzusetzen, oder sich tatsächlich zurückziehen. Wenn sie sich zurückziehen, wird auch die Türkei letztendlich sich zurückziehen müssen, weil die Russen jetzt mit den Syrern, mit der syrischen Armee und mit den Kurden natürlich eine No-Go-Zone für die Türkei errichten und sie zum Zurückdrängen bringen werden. Das ist, glaube ich, was wir alle eigentlich erhoffen müssten, dass dieses Abkommen zwischen syrischer Armee und den Kurden die Türkei wieder zurückdrängt und damit auch diese islamistischen Strukturen dort und dort Frieden einkehren kann für die Menschen, damit sie wieder zurückkehren können in ihre Häuser.
Kaess: Frau Dagdelen, noch ganz kurz mit der Bitte um eine kurze Antwort, denn wir haben nur noch eine Minute Zeit. Es gibt ja die Sorge, dass Zehntausende IS-Kämpfer freikommen könnten. Es gibt erste Meldungen, dass schon welche freigekommen sind. Welche Mitschuld trifft die Bundesregierung und andere westliche Regierungen, weil sie nicht bereit waren, die IS-Anhänger zurückzunehmen?
Dagdelen: Sie sagen es ja: Sie trifft die Mitschuld und die Verantwortung, weil sie nicht bereit waren, sie hier herzuholen und sie hier abzuurteilen, vor Gericht zu stellen. Insofern hat man das Schicksal einfach so laufen lassen und ist natürlich mitverantwortlich, wenn einer dieser IS-Kämpfer tatsächlich nach Deutschland es schafft und hier einen Anschlag verübt. Dann sind auch die Regierungen im Westen mitverantwortlich dafür.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.