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Sexualerziehung
"Gut aufbereitete Informationen sind wichtig"

1969 erschien der erste Sexualkunde-Atlas der BRD. 50 Jahre später gehe es bei der Sexualerziehung unter anderem um Medienkompetenz - und um die Mit-Aufklärung der Eltern, berichtete Beate Proll im Dlf. Sie betreut das Thema am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung.

Beate Proll im Gespräch mit Thekla Jahn |
Die SPD-Politikerin Käte Strobel stellt im August 1969 in Bad Wörishofen einer Schülerin den Sexualkunde-Atlas der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vor. Der Atlas soll im Sexualkunde-Unterricht verwendet werden. Strobel hatte mehrere Ministerämter inne und war von 1949 bis 1972 ohne Unterbrechung Mitglied im Deutschen Bundestag. Aufsehen erregte sie u.a. durch ihren Auspruch "Politik ist eine viel zu ernste Sache, um sie allein den Männern zu überlassen" sowie mit dem von ihr initiierten Aufklärungsfilm "Helga" (1968). Käte Strobel wurde am 23. Juli 1907 in Nürnberg geboren und verstarb ebenda am 26. März 1996. | Verwendung weltweit
Käte Strobel (SPD) blättert 1969 mit einer Schülerin im ersten Sexualkunde-Atlas der BRD. Seitdem hat sich viel geändert. (dpa)
Thekla Jahn: Sex ist im Web und in den sozialen Medien omnipräsent und an deutschen Schulen Pflichtfach - seit 50 Jahren. Damals kam übrigens der erste Sexualkunde-Atlas raus, der biologische Informationen zur Sexualität des Menschen liefern sollte - wie auf dem Einband zu lesen war.
Beate Proll ist am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung unter anderem für das Thema Sexualerziehung zuständig und Berichterstatterin für die Kultusministerkonferenz in Fragen der Gesundheitsförderung.
Beate Proll, wenn Sie den Sexualkunde-Atlas heute betrachten - wie antiquiert kommt er ihnen vor?
Beate Proll: Also, die 50 Jahre sind natürlich zu sehen. Der Bereich, wann für mich der richtige Zeitpunkt für das erste Mal ist und so weiter, das wird natürlich gar nicht aufgegriffen, weil es schwerpunktmäßig hier um eine biologisch-medizinische Herangehensweise geht.
Thekla Jahn: Es waren ja auch damals die Anfänge des Sexualkundeunterrichtes, allerdings muss man sagen, in der BRD, in der Bundesrepublik.
Proll: Genau. Ja, genau.
Jahn: In der ehemaligen DDR wurde schon ein Jahrzehnt früher damit angefangen. Also: War man in der ehemaligen DDR einfach aufgeklärter?
Proll: Das kann ich schwer beurteilen, weil ich selber hier in der BRD aufgewachsen bin. Das, glaube ich, wird von einzelnen Menschen, die es selbst auch erlebt haben, sehr unterschiedlich gesehen. Also, wir wissen natürlich, dass es in der DDR durchaus, wenn man jetzt beispielsweise auf FKK-Kultur schaut, einen freieren Umgang mit Körperlichkeit gegeben hat. Nichtsdestotrotz hat es aber, bezogen auf Erziehung von Kindern, trotz Berufstätigkeit beider Geschlechter ja auch Unterschiede gegeben.
Es geht um "Wissensbestände bei Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen"
Jahn: Kommen wir vom, ja, letzten Jahrhundert sozusagen in dieses. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich viel getan: die Abschaffung des Paragrafen 175, der im Volksmund Schwulenparagraf hieß, vor 25 Jahren wurde er abgeschafft, die Akzeptanz verschiedener sexueller Orientierungen und sexueller Identitäten, seit Ende vergangenen Jahres gibt es drei offizielle Geschlechter, nun männlich, weiblich und divers. Was gehört also heute alles zu einer zeitgemäßen Sexualaufklärung in der Schule?
Proll: Es geht natürlich immer darum, dass auf der einen Seite natürlich Wissensbestände da sein müssen bei Kindern, Jugendlichen, aber auch bei Erwachsenen, die belastbar sind. Es geht aber auch darum, die Haltung zu bestimmten Fragestellungen – wie stelle ich mir Partnerschaft vor – zu durchdenken, mir zu überlegen, was ist da für mich wichtig, und vor allem auch zu lernen, dass ich in Austausch, in Kommunikation dazu gehen muss.
Jahn: Das Internet spielt nun eine große Rolle, dort kann man sich, wenn man möchte, schon sehr früh, in frühem Alter informieren. Es gibt dort massenweise Internetpornos, es gibt Nackt-Selfies, es gibt ganz viele Seiten über Sex. Wissen Jugendliche heute besser, deutlich besser über Sex Bescheid als frühere Generationen?
Proll: Mit Sicherheit mehr, als meine Eltern in dem Alter wussten. Aber es ist natürlich auch so, dass ich heutzutage in der Vielfalt der Informationsmöglichkeiten im Netz auch irgendwo her wissen muss: Welchen Informationen traue ich denn jetzt, welche stimmen? Und da gibt es natürlich auch durchaus Irritationen bei Jugendlichen und, wie Sie schon gesagt haben, natürlich auch die Erfahrung, die frühere Generationen nicht hatten, dass sie über digitale Medien, über soziale Medien mit Dingen im Bereich Sexualität konfrontiert werden, die nicht altersangemessen sind und die auch übergriffig sein können.
Da schauen wir natürlich immer wieder auch auf Studien, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat eine zur Jugendsexualität, aber auch die Shell-Jugendstudie ist immer ganz interessant. Und da kann man wirklich sehen, dass gut aufbereitete Informationen oder auch ein geschützter Chat zum Thema Sexualität für Jugendliche heutzutage wichtig sind, dass aber auch der persönliche Austausch beispielsweise im Rahmen der schulischen Sexualerziehung eine hohe Bedeutung hat, weil Jugendliche durchaus selber auch realisieren, das, was in der Gleichaltrigen-Gruppe besprochen wird oder das, was sie im Netz finden, dass das nicht immer stimmt.
Medienkompetenz - und Aufklärung für die Eltern
Jahn: Wie wichtig ist dann da in einem Unterrichtsfach auch die Analyse der Quellen, woher Jugendliche möglicherweise ihre Informationen bekommen haben?
Proll: Das ist ganz zentral, und da können wir natürlich all das nutzen, was im Bereich der Medienpädagogik gemacht wird. Also es gilt ja nicht nur für den Bereich der Themenblöcke Liebe und Sexualität, sondern für viele andere Dinge auch, dass wir sagen, wenn wir unsere Kinder und Jugendlichen für die Zukunft gut vorbereiten wollen, gehört die Medienkompetenz einfach dazu.
Jahn: Sexualkunde ist nun eines der umstrittensten Schulfächer, was die Inhalte angeht, und immer wieder sind Eltern auch verunsichert, 2014 zum Beispiel in Baden-Württemberg, da sind tausende Eltern auf die Straße gegangen und haben gegen die von ihnen sogenannte Gender-Ideologie demonstriert. Wie kann die Schule Eltern mit einbinden?
Proll: Also, wir gehen ja natürlich grundsätzlich davon aus, dass auch sogenannte Bildungs- und Erziehungspartnerschaften mit Eltern geschlossen werden können, das heißt, dass die Schule schon schaut, wie sie einen guten Kontakt zu den Eltern herstellt. Und bezogen auf den Bereich kritische Rückfragen zur schulischen Sexualerziehung würden wir durchaus auch Unterschiede sehen. Es gibt auf der einen Seite Eltern, die selber in der Schule keine Sexualerziehung hatten und die sich dann manchmal Dinge vorstellen, dass beispielsweise Pornos gezeigt werden oder vergleichbar andere Dinge, die ja in Wirklichkeit gar nicht passieren.
Jahn: Also Aufklärung für die Eltern.
Proll: Bezogen auf diese Eltern lohnt es sich wirklich, ihnen zu erklären, ihnen zu zeigen, wie die schulische Sexualerziehung abläuft. Und dann gibt es natürlich Eltern, die aus ideologischen Gründen, aus religiösen Gründen bestimmte Themen ablehnen, die der Meinung sind, dass erst an den weiterführenden Schulen überhaupt etwas zum Thema Sexualität vermittelt werden soll, die sagen, wir wollen den Schwerpunkt bei der Ehe zwischen Mann und Frau sehen, das Thema gleichgeschlechtliche Lebensweisen bitte nicht. Ja, und das ist natürlich etwas, wo wir dann nicht mitgehen können, weil wir natürlich hier auch einen klaren Bildungsauftrag haben.
Was ist altersangemessen?
Jahn: Was Sie ansprechen, sind unter anderem die Migrantenfamilien. Wie schwierig ist es oder wie muss man Sexualaufklärung in der Schule so unterrichten, dass man auch Kinder aus Migrantenfamilien mitnimmt?
Proll: Da möchte ich an der Stelle noch mal betonen, dass die kritischen Nachfragen nicht nur von Eltern mit Zuwanderungsgeschichte kommen. Also, wir haben auch andere Gruppierungen, die religiös verortet sind. Wichtig ist, immer wieder zu sagen, dass auch in der schulischen Sexualerziehung natürlich die Grundrechte, die Menschenrechte leitend sind, ich aber trotzdem natürlich auch verschiedene Perspektiven auf die Vorstellung einer gelungenen Partnerschaft auch eröffnen muss.
Das geht aber dann natürlich nicht so weit, dass ich bestimmte Partnerschaftsformen wie beispielsweise die zwischen zwei Frauen oder zwischen zwei Männern diskreditieren darf, sondern da sind die Grund- und Menschenrechte dann wieder entscheidend, aber dass ich deutlich mache in dem, was ich pädagogisch anbiete, dass es verschiedene Vorstellungen, verschiedene Wünsche gibt und jede Person für sich auch selbst mit entscheidet, was für sie leitend ist. Und entscheidend ist dann zusätzlich natürlich, dass die Themen, die ich als Pädagoge, Pädagogin vorbereite, auch altersangemessen ausgestaltet werden.
Jahn: Das ist das Stichwort, altersangemessen – es gibt immer wieder Kritiker, die meinen, dass die Sexualaufklärung in der Schule Schamgrenzen der Kinder verletzt, weil viel zu früh damit angefangen wird.
Proll: Wir wissen natürlich einiges über auch die psychosexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die man sich natürlich nicht mit der Brille von Erwachsenensexualität angucken darf, dass auch Grundschulkinder schon Fragen zu dem Thema haben, und wir wissen, dass es gut ist, diese Fragen dann natürlich in altersgerechter Sprache zu beantworten, dass das auch ein Schutzbaustein bezogen auf das Thema sexualisierte Gewalt sein kann.
Jugendliche stärken, später Partnerschaften gut zu gestalten
Jahn: Wir sprechen über 50 Jahre Sexualerziehung in allen deutschen Schulen. Wenn Sie das heute perspektivisch sehen: Welches Ziel muss sexuelle Bildung haben?
Proll: Ja, sexuelle Bildung hat natürlich zum einen das Ziel, dass Kinder und Jugendliche gut informiert sind, das heißt, auch immer wieder Dinge, die aktualisiert werden müssen, beispielsweise das, was ich über sexuell übertragbare Krankheiten weiß, das ist ein Thema für die weiterführende Schule, und dass Schule auch zeigt, wie angemessen über die Bereiche Liebe und Sexualität kommuniziert werden kann.
Und das stärkt dann einfach Jugendliche darin, auch zu einem späteren Zeitpunkt Partnerschaften gut gestalten zu können, sie gewaltfrei gestalten zu können und auch wahrnehmen zu können, dass manchmal die eigenen Bedürfnisse anders aussehen als die von anderen Personen, und dass es das zu akzeptieren gilt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.