Archiv

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Sport
„Seit Generationen großes Schweigen“

Der britische Sportsoziologe Mike Hartill beschäftigt sich seit 20 Jahren wissenschaftlich mit sexualisierter Gewalt an Kindern im Sport. Hartill sagte im Dlf, dass der Sport neben Regeln auch ein Umfeld schaffen müsse, in dem Betroffene sich äußern können und macht eine Kultur des Schweigens aus.

Mike Hartill im Gespräch mit Marina Schweizer |
Rear view behind the net of a child football goalkeeper in the goal Pamplona, Navarre, Spain PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY CRSEBO200420B-342921-01,model released, Symbolfoto
Eine Kultur von "Zähne zusammenbeißen!", "Beschwere dich nicht!", im Sport benennt Mike Hartill als Faktor für das Schweigen vieler Betroffener. (imago images / Cavan Images)
Mike Hartill beschäftigt sich seit 20 Jahren wissenschaftlich mit sexualisierter Gewalt im Sport und ist Direktor des Forschungszentrums für Kinderschutz im Sport an der Edgehill University in Großbritannien.
Marina Schweizer: Was lässt Menschen ihre Geschichte teilen?
Mike Hartill: Also zunächst mal ist es wichtig zu sagen: Es gibt viele Gründe, warum Menschen ihre Geschichte von sexuellem Missbrauch nicht teilen. Auch, warum sie es Freunden nicht erzählen oder im privaten Raum.
Schweizer: Weil es weh tut, auch, weil es ein sehr emotionales Thema ist.
Hartill: Ja, aber es ist auch so: Wenn ein Opfer eine Geschichte teilt, dann erzählt es auch etwas zutiefst Privates, das kann sehr weh tun und emotional und quälend sein. Oft behalten Betroffene das für eine lange Zeit für sich. Wenn sie ihre Geschichte teilen, wissen sie nicht, was damit passiert. Auch, was Menschen darüber denken. Es ist schwer vorherzusehen, was für sie persönlich daraus erwächst, außer, dass man weiß, dass es eine Auswirkung haben wird.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Dr. Mike Hartill ist Sportsoziologe an der Edgehill Universität in Großbritannien. (Deutschlandradio / Andrea Schültke)
Schweizer: Also hat es auch sehr viel mit Vertrauen zu tun?
Hartill: Natürlich – enorm viel. Weil es so viel Unsicherheit gibt, wenn man eine Geschichte teilt. Also muss das Umfeld, dem so etwas erzählt wird, vertrauenswürdig sein. Ich würde also wenig in diese Zahlen (der Rücklauf von 93 bei der Aufarbeitungskommission, die Redaktion) hineininterpretieren, sie resultieren ja aus dem ersten Versuch, Menschen mit einer Missbrauchsgeschichte zu ermutigen, zu sprechen. Denn: Es ist ja schon schwer, so eine Geschichte auf einer individuellen Ebene mit einer Vertrauensperson zu teilen, noch viel schwerer ist es, auf der hohen Ebene einer offiziellen bundesweiten Untersuchung.
Mann muss auch die Sportkultur als einen Faktor sehen. Das ist eine Kultur von "Zähne zusammenbeißen!", "Beschwere dich nicht!", "Mach weiter!", "Behalte Dinge für dich!", "Es geht ums Team, nicht den Einzelnen!". Und diese kulturellen Faktoren spielen vermutlich eine große Rolle beim Schweigen, das wir von Menschen gesehen haben, wenn es darum ging, von Missbrauch im Sport zu erzählen. Obwohl das ein nationaler Aufruf war, sind die Individuen doch aus der Sportkultur, auch wenn es ehemalige Athleten sind. Und diese Kultur war nicht gut darin, einzugestehen, dass es sexuellen Missbrauch, sexualisierte Gewalt und sexuelle Ausnutzung gibt. Es gibt seit Generationen großes Schweigen.
Schweizer: Es war ja das Vorhaben der Aufarbeitungskommission, die Geschichten zu hören und etwas über die Kultur zu lernen, die so etwas ermöglicht - damit etwas getan werden kann. Aus Amerika ist bekannt, dass sich erst viele Menschen getraut haben, sich zu melden, als auch prominente Athletinnen und Athleten sich öffentlich geäußert haben - zum Beispiel aus dem Turnen. Das ließ andere sich offenbar sicherer fühlen, sich zu öffnen.
Verschwommenes Bild der Beine von Teilnehmern in einer Sporthalle.
Sexueller Kindesmissbrauch im Sport - "Es sind keine Einzelfälle"
Matthias Katsch kämpft seit Jahren für die Anerkennung und Entschädigung von Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs in der Kirche. Im Dlf-Sportgespräch erklärt er, in welchen Belangen Sportorganisationen den Kirchen noch hinterherhinken und was passieren muss, um aufzuklären.
Hartill: Ja, total. Wir sehen das immer wieder. Und deshalb ist es auch so wichtig, dass dieses Hearing der Aufarbeitungskommission in Deutschland stattgefunden hat. Es ist aus meiner Sicht ein Anfang. Und es kann Teil eines Kulturwandels sein. Das macht Gespräche über diese Themen ein wenig einfacher.
Wir haben in Großbritannien seit 20 Jahren eine Spezialeinheit zum Kinderschutz im Sport. Der erste große Fall war 1996, eine Verurteilung eines olympischen Schwimmtrainers. Aber erst 20 Jahre später gab es den großen Skandal im Fußball, der ja noch andauert. Es hat also 20 Jahre gedauert bis andere Menschen ausgesagt haben, obwohl es in dem anderen, sehr bekannten Fall großflächige Berichterstattung gegeben hatte. Also: Es braucht Zeit und wird auch noch Zeit brauchen.
Aber ja: Wenn besonders bekannte Athleten darüber sprechen, gibt das einer Geschichte eine Legitimation. Denn es ist ein weltweites Problem von Betroffenen, dass ihnen nicht geglaubt wird. Wenn sie also in den Medien in ihrem Land sehen, wie bekannte Athletinnen und Athleten über ihre Erfahrungen sprechen, und sie sehen, dass sie vom Großteil der Gesellschaft und den großen Sportorganisationen ernst genommen werden, dann macht das einen großen Unterschied für die, die darüber nachdenken, auszusagen.
Ein Kind balanciert auf einer Bank, im Hintergrund hangeln andere Kinder während des Kinderturnens an Seilen.
Aufarbeitung von sexueller Gewalt im Sport - Der Sport muss sich seiner Verantwortung stellen
Rund 100 Betroffene aus dem Sport haben sich bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gemeldet. Was es jetzt braucht, sind Menschen im gesamten organisierten Sport, die nicht schweigen und wegsehen, sondern aufstehen und hinsehen, kommentiert Maximilian Rieger.
Schweizer: Es schien einen Kosens zu geben diese Woche, dass in Deutschland jetzt etwas passieren muss. Sie haben ja langjährige Erfahrung mit dem Thema, zum Beispiel als Forscher. Wenn das Sportministerium darüber nachdenkt, mehr zu tun – dann frage ich mal: Was wäre eine effektive Möglichkeit, etwas für Betroffene zu tun und gegen eine Missbrauchskultur?
Hartill: Da muss ich nochmal unterstreichen: Das ist ein Prozess. Das ist nichts, was initiiert werden kann und dann ist alles gelöst. Ich denke: Es gibt ja schon Bestimmungen in Deutschland. Das ist auf jeden Fall ein erster Schritt. Also: Es muss Regeln für den Sport geben. In Großbritannien war es so - und das war übrigens ein Fehler - dass viele Bestimmungen eingeführt wurden. Aber es gab keine zuverlässige und unabhängige Überprüfung und Auswertung.
Also: Um eine robuste, aussagekräftige, strategische Möglichkeit zu entwickeln, wie man Kindesmissbrauch im Sport und auch anderswo begegnen kann, sind Initiativen für Prävention und Regeln wichtig. Aber es ist auch wichtig, dass man nach fünf oder zehn Jahren zurückschauen kann, um zu sagen: Das hier hat funktioniert und das nicht. Hier gibt es Stärken und Schwächen und das müssen wir besser machen. Es braucht einen langfristigen, strategischen Ansatz und bei der Überprüfung, Auswertung und Forschung müssen die Entscheidungsträger eingebunden werden.
"Neben Regelnmachen muss der Sport weiterhin ein Umfeld schaffen, in dem Betroffene die Möglichkeit haben, sich zu melden."
Schweizer: Einen Moment hier bitte. Ich würde das mit den Regeln gerne etwas vertiefen, damit wir verstehen, was Sie meinen. Geht es zum Beispiel darum, dass Sportverbände sich bewegen sollen, indem sie zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie nicht genug getan haben? Also im Sinne: Sie haben eine rechtliche Verpflichtung gegenüber den Athletinnen und Athleten?
Hartill: Ja, genau. In Großbritannien war es so, dass wir im Jahr 2002 landesweite Standards eingeführt haben, die alle nationalen Sportorganisationen erfüllen mussten. Sie haben dafür eine gewisse Zeit bekommen. Es gibt also jetzt eine Reihe an Präventionsmaßnahmen, die in Kraft sind. Und Sportorganisationen müssen Beweise dafür liefern, dass sie diese Standards auch beibehalten. Und wenn das nicht so ist, laufen sie Gefahr die staatliche Förderung zu verlieren. Es gibt also diese Drohung, dass die Förderung entzogen wird. Jeder Sport hat seine eigenen Kinderschutz-Regeln die deutlich machen, mit welchen Maßnahmen man gewisse Ziele erreichen will. Das bedeutet: Wenn es Standards gibt, kann die Organisation auch zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie diese nicht erfüllt.
Aber ich muss auch noch eine Sache erwähnen, die in Großbritannien passiert ist: Es gab in den späten 90ern einen großen Fall und Betroffene haben sich auch in den Medien geäußert. Aber dann ging es mit den Regeln los und die Menschen, die wahrscheinlich am meisten über solche Dinge wissen, nämlich die Betroffenen, die wurden außen vor gelassen. Sie haben ganz offensichtlich nicht die Chance bekommen, sich einzubringen.
Deswegen sehen wir 20 Jahre später hunderte von männlichen Fußballern, die über den Missbrauch, der ihnen widerfahren ist, aussagen. Also: Neben Regelnmachen muss der Sport weiterhin ein Umfeld schaffen, in dem Betroffene die Möglichkeit haben, sich zu melden. Ob es öffentlich oder vertraulich ist. Ein Zeichen dafür, ob sich die Kultur ändert, wird sein, dass mehr sich Menschen ermutigt fühlen, über ihre Erfahrungen zu berichten.
Schweizer: Braucht es dafür eine unabhängige Institution, eine die nicht im Sport selbst verankert ist?
Hartill: Ja, absolut. Weil es so ein emotionsgeladenes Thema ist, ist eines der großen Probleme beim Kindesmissbrauch und sexuellen Kindesmissbrauch, dass es sehr viel Leugnen und Verharmlosen gibt. Organisationen wollen sich im besten Licht darstellen und ihren Ruf schützen. Sie tun, was sie können, um sich besonders von Kindesmissbrauch zu distanzieren, aber auch von Gewalt und Missbrauch ganz allgemein. Es ist also ein Problem, wenn dieselben Verbände diesen Bereich leiten. Wir brauchen eine unabhängige Aufsicht für so etwas. Und das fehlt ehrlich gesagt auf der ganzen Welt.
Schweizer: Danke, Mike Hartill für dieses Interview.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.