Achtung: Dieser Beitrag enthält Beschreibungen sexualisierter Gewalt, die retraumatisierend sein können.
5. Mai 2019. Im Deutschlandfunk-Sportgespräch erzählt Nadine zum ersten Mal öffentlich ihre Geschichte. Sie möchte anonym bleiben, aber ihre Stimme soll zu hören sein, wenn sie über die schweren sexuellen Gewalttaten spricht, die sie durch einen Betreuer im Fußball erleiden musste. Alles beginnt, als sie zehn Jahre alt ist, zunächst mit ungewollten Berührungen. Und dann, bei einer Fahrt ins Ausland:
"Da war dann nichts mehr nur mit Anfassen, das war dann Vergewaltigung und Übergriffe jeder Art, die man sich vorstellen kann."
Betroffene können sich an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch wenden.
Keine Worte für das Geschehen
Zwei Jahre lang erfährt die junge Fußballerin unvorstellbares Leid. Sie behält es für sich, hat keine Worte für das, was geschieht. Sie schämt sich, gibt sich die Schuld. Dennoch, mit dem Sport aufzuhören war damals keine Option für Nadine:
"Da hätte ich gar nichts mehr gehabt, was in irgendeiner Weise mir Erfolg verspricht oder für mich persönlich irgendwie Glück bedeutete."
Die Folge der Übergriffe: Nadine wird krank. So schwer, dass sie nach dem Abitur keine Berufsausbildung machen kann. In einer Therapie versucht sie, ihre Geschichte aufzuarbeiten, hält sich irgendwie über Wasser.
Taten sind verjährt
Bei Nadines erstem öffentlichen Interview im Deutschlandfunk liegen die Taten 30 Jahre zurück, sind verjährt. Ihre Schilderungen bewegen die Menschen. Einige möchten spontan spenden. Freundinnen gründen daraufhin ein Crowdfunding. Das Geld soll Nadine dabei helfen, ihr nächstes Ziel zu erreichen, ein Studium zu beginnen.
DFB wird aufmerksam
Auch der DFB wird auf das Interview aufmerksam und aktiv. Für die WDR-Fernsehsendung "Sport Inside" schildert Stephan Osnabrügge, der Kinderschutzbeauftragter des Verbandes:
"Wir haben in der Stiftung Sepp Herberger satzungsgemäß die Möglichkeit aus dem sogenannten DFB-Sozialwerk Unterstützung zu leisten. Das können Einmal-Unterstützungen sein. Es können aber auch laufende monatliche Zahlungen sein. Ich habe den Auftrag gegeben, zu prüfen, ob dieser Fall sich hier eignet und ob wir satzungsgemäß und gesetzeskonform Hilfestellungen leisten können."
Mitarbeitende der Stiftung wenden sich an das Crowdfunding.
Fragen der Entschädigung ungeklärt
Nadine möchte nach wie vor anonym bleiben. Aber der Stiftung hätte sie ihren Namen und ihre Einkommensverhältnisse detailliert offenlegen müssen. Fragen dazu hätten nicht ausreichend geklärt werden können. In einem anonymisierten Fernsehinterview für "Sport Inside" schildert sie uns den Eindruck, der bei ihr nach der Kontaktaufnahme der DFB-Stiftung zurückbleibt:
"Ich weiß, dass der Verband sehr geneigt dazu ist, ganz viel in Kinderschutz zu tun, in Gewaltprävention in jeglicher Art für Kinder zu tun. Aber dass er im Umgang mit Betroffenen, und denen, bei denen die Prävention nicht gegriffen hat, so amateurhaft und so stümperhaft vorgeht, fand ich sehr erstaunlich und erschreckend."
Letztendlich Lösung zwischen DFB und Nadine
Wir konfrontieren Stephan Osnabrügge vom DFB und spielen ihm die Aussage von Nadine vor:
"Das kann ich nur bedauern, dass das als amateurhaft und stümperhaft empfunden wird. Aus unserer Sicht ist es schlicht Gesetzesanwendung von Gesetzen, denen wir unterworfen sind. Die machen wir nicht. Und möglicherweise könnte man das auch erklären, wenn man die Chance dazu hätte, es zu erklären. Die Chance haben wir aber leider nicht, weil kein unmittelbarer Kontakt besteht."
Auf Wunsch von Stephan Osnabrügge geben wir seine Daten an Nadine weiter. Beide kommen ins Gespräch und inzwischen gibt es eine Lösung.
Sport setzt auf Prävention und nicht auf Entschädigung
Ein Einzelfall. Generell setzt der Sport auf Prävention, will sexualisierte Gewalt in der Zukunft verhindern. Für eine Entschädigung sieht sich der organisierte Sport nicht zuständig. Das sei Sache des Staates, erklären DFB und Deutscher Olympischer Sportbund übereinstimmend. Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation "Innocence in Danger" teilt diese Auffassung nicht:
"Ich finde, da muss sich jeder Verein, jeder Verband schon sehr genau überlegen, was müssen wir an Wiedergutmachung leisten. Ob das immer Geld ist, vermag ich nicht zu sagen, aber das Signal zu sagen: ‘Wir gucken jetzt so ein bisschen, aber richtig aufräumen sollen die anderen und bezahlen sollen sie es übrigens auch‘. Und wenn das das Signal ist, das nach innen gerichtet ist, dann wundert’s mich nicht so sehr, dass sich nicht so rasend viele Betroffene aufgefordert fühlen, sich doch mitzuteilen."
Lediglich 93 Betroffene haben sich gemeldet
Auf den Aufruf der Aufarbeitungskommission an Betroffene aus dem Sport haben sich lediglich 93 Menschen gemeldet. Sehr wenige, gehen Expertinnen und Experten doch davon aus, dass es im Sport mehr Betroffene geben könnte als etwa in der katholischen Kirche. Der Deutsche Fußball-Bund und der Deutsche Olympische Sportbund mit seinen Fachverbänden hatten den Aufruf unterstützt, aber offenbar die Zielgruppe nicht erreicht.
Nadine hat sich bei der Kommission gemeldet, ihre Geschichte erzählt. Am Dienstag (13.10.2020) wird sie nach den beiden Interviews einen weiteren Schritt wagen, bei einer Veranstaltung der Kommission anonym vor Publikum sprechen.
Gehört werden ist Wertschätzung
Öffentlich gehört zu werden, empfindet die ehemalige Fußballerin als Wertschätzung. Für sie ist es ein Privileg, sagt sie, dass sie ihre Stimme wiedergefunden hat und über die Taten sprechen kann:
"Und natürlich bringt es für mich auch etwas, gehört zu werden und eine Reaktion zu bekommen von außen. Wenn man nicht redet, bekommt man auch keine Reaktion. Das war auch sehr ungewohnt für mich. Aber auch sehr, sehr heilsam in vielen Dingen."
Betroffene können sich an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch wenden.