"I am a survivor of abuse."
Gloria Viseras bezeichnet sich selbst als Überlebende. Sie war Turnerin, Olympiateilnehmerin 1980 für Spanien. Ihr damaliger Trainer habe sie sexuell missbraucht. Vier Jahre lang, da sei sie zwischen 12 und 15 gewesen. Häufig geschah es im Aufwärmraum, berichtet sie:
"Es war eine Vergewaltigung, er vergewaltigte mich. Er begann mit Massagen und dann überschritt er die Grenzen bis zum Geschlechtsverkehr. Entweder dort oder im Hotelzimmer. Einmal war sogar eine Mannschaftskollegin im Bett neben mir und tat so, als ob sie schläft, und sie hat alles gesehen. Sie war auch ein Opfer, also wir waren alle im selben Boot. Er kontrollierte uns alle."
Bulimie und Selbstmordversuch
Heute ist Gloria Viseras 51. Erst seit kurzem kann sie über das sprechen, was sie als Kind erlebt hat.
"Du versuchst nicht daran zu denken. Aber das ist hart, denn Missbrauch hat viele schlimme Folgen. Von Selbstmordversuchen bis zu Bulimie, ich hatte zwölf Jahre Bulimie. Aber Du denkst immer noch, es ist ein großes Geheimnis und Du willst nicht, dass es jemand weiß."
Erst eine Therapie half ihr das Schweigen zu brechen. Ihr damaliger Trainer ist inzwischen nicht mehr im Amt. Die Vorwürfe und Anschuldigungen von Gloria Viseras und anderen hat er zurückgewiesen und ist auch gerichtlich dagegen vorgegangen. Ein Verfahren läuft noch.
Die Stimme erheben
Gloria Viseras erzählt ihre Geschichte, weil sie sexualisierte Gewalt im Sport verhindern und auch andere Betroffene zum Sprechen bringen will. Deshalb arbeitet sie im Forschungsprojekt Voice.
In acht europäischen Ländern von Großbritannien über Dänemark, Österreich, Belgien, Spanien, Deutschland, Slowenien und Ungarn sollen Betroffene ihre persönliche Geschichte erzählen.
"Ich habe selber viel Sport gemacht, vor allem Tennis, und auch ich bin im Sportumfeld sexuell missbraucht worden. Ich bin also nicht nur als Wissenschaftler dabei, sondern auch als jemand, der das Problem aus eigener Erfahrung kennt."
Der Soziologe Mike Hartill forscht an der Edgehill Universität in Großbritannien vor allem zum Thema sexueller Missbrauch von Jungen im Sport.
"Jungen im Sport lernen zu tun, was ihnen gesagt wird. Sie werden erzogen, ihre Trainer zu verehren und die Leute, die den Sport dominieren. Sie sollen sich nicht beschweren und Schmerzen ertragen und andere körperlich niedermachen. Wenn ein Junge in so einem Umfeld sexuell missbraucht wird, ist es für ihn fast unmöglich, darüber zu sprechen. Weil es das Gegenteil von dem ist, wie Du in diesem Sport zu sein hast. Nämlich der Angreifer und ganz sicher nicht das Opfer."
Deshalb appelliert Mike Hartill vor allem an Männer, die in ihrer Kindheit oder Jugend im Sport sexuell missbraucht worden sind, sich zu melden.
Anhörungen im geschützten Raum
Und ihre Geschichte den beteiligten Wissenschaftlern in ihrem Land zu erzählen. In einem zweiten Schritt können die Betroffenen an sogenannten Anhörungen teilnehmen, erläutert Projektkoordinatorin Bettina Rulofs an der Sporthochschule Köln:
"Das heißt, dass die Betroffenen die Möglichkeit bekommen, in einem geschützten Rahmen über ihre Gewalterfahrungen im Sport zu berichten. Und zu diesen Anhörungen möchten wird dann auch Verantwortungsträgerinnen aus dem Sport einladen, um zu gewährleisten, dass die Erfahrungen, die Betroffene gemacht haben, auch bei denjenigen ankommen, die in Führung und Leitung von Sportverbänden, Sportvereinen tätig sind."
In allen Ländern sind in allen Phasen des Projektes Opferschutzorganisationen mit dabei, so dass die Betroffenen jederzeit Unterstützung von Experten auf diesem Gebiet haben.
Ihre Geschichten sind die Basis auf der anschließend Schutzkonzepte erarbeitet werden – die sollen sexualisierte Gewalt im Sport in Zukunft verhindern.
Ein großes Ziel. Die teilnehmenden Länder haben sich unterschiedlich intensiv damit auseinandergesetzt. In Großbritannien etwa gibt es seit etwa 15 Jahren eine unabhängige Kinderschutzeinheit im Sport. Sie gehört zum dortigen Kinderschutzbund. Verbände und Vereine bekommen erst dann staatliche Förderung, wenn sie die verschiedenen Präventionskonzepte umgesetzt haben.
In Deutschland befasst sich der organisierte Sport seit dem Missbrauchsskandal in kirchlichen Einrichtungen vor sechs Jahren verstärkt mit dem Thema. Noch fehlen etwa Zahlen etwa über die Häufigkeit sexualisierter Gewalt im Sport. Eine Studie dazu ist in Arbeit, im November soll es Ergebnisse geben.
In anderen Teilnehmerländern sei dagegen noch nicht soviel zum Thema gearbeitet worden, sagt Koordinatorin Bettina Rulofs und nennt Slowenien, Ungarn und Spanien als Beispiel.
Gloria Viseras hat mit ihrer Geschichte sexualisierte Gewalt im Sport in Spanien zum Thema gemacht – in der Öffentlichkeit und vor Gericht.
"Für mich ist es immer noch nicht leicht, darüber zu sprechen. Aber ich denke, es ist wichtig, dass die Gesellschaft das Problem erkennt und dass Eltern lernen, auf die Hinweise zu achten, ob ein Kind missbraucht wurde. Und die einzige Möglichkeit ist, darüber zu sprechen und es nicht mehr als Tabu zu behandeln."
"Endlich Worte finden" - Die Arbeit des Forschungsprojekts VOICE ist auch Thema des DLF-Sportgesprächs.