Archiv

Sexualisierte Gewalt in der EKD
"Jeder Verdachtsfall muss öffentlich gemacht werden“

Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann fordert von der evangelischen Kirche, die Vergangenheit aufzuarbeiten, Verdachtsfälle an die Staatsanwaltschaft zu übergeben und Täter aus dem Dienst zu nehmen. Diese hätten das Vertrauen des Amtes verspielt - und das sei nun schwer wieder aufzubauen.

Margot Käßmann im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 08.11.2021
Margot Käßmann, Theologin, steht vor der niedersächsischen Staatskanzlei.
Die Theologin Margot Käßmann fordert eine bessere Aufarbeitung sexueller Gewalt innerhalb der Evangelischen Kirche. (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte)
Bei der Jahrestagung der Evangelischen Kirche, die vom 7. bis zum 10. November digital stattfindet, wird auch über die Opfer von sexualisierter Gewalt gesprochen. Margot Käßmann, ehemalige EKD-Ratsvorsitzende, sagte im Dlf, dass die Vergangenheit aufgearbeitet und in Zukunft anders gehandelt werden müsse. "Warum wurden Täter geschützt? Warum wurden Verbrechen vertuscht, weil man offensichtlich meinte, Kirche zu schützen? Und das widerspricht unserer Grundeinstellung, dass die Kirche zuerst die Opfer zu schützen hat", so Käßmann.
"Die Idee vom Pastor, der unantastbar ist, den man nicht hinterfragt, das ist ein absolut falsches Amtsverständnis." Die Täter sexuellen Missbrauchs haben das Vertrauen des Amtes verspielt. Es sei schwer, das wieder aufzubauen, sagte Käßmann. "In Zukunft muss jeder Verdachtsfall öffentlich gemacht werden. Ich denke, da kann es keine innerkirchliche Aufklärung geben, sondern es muss an die Staatsanwaltschaft gegeben werden." Täter sollten aus dem Dienst genommen und nicht versetzt werden, so Käßmann weiter.
Die EKD ist die Dachorganisation für die 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland, die 20,2 Millionen Mitglieder zählen. Ursprünglich war die Tagung der EKD in Präsenz in Bremen geplant. Nach einem Impfdurchbruch und der angespannten Corona-Lage findet sie digital statt. In diesem Jahr steht unter anderem die Wahl eines neuen Rates der EKD auf der Tagesordnung.
EKD-Schriftzug
Missbrauchsskandal in der EKD - Versuch einer Zwischenbilanz
Seit elf Jahren ist der Missbrauchsskandal auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland Thema. Experten, die sich seit Jahrzehnten mit dem Thema sexualisierte Gewalt in Institutionen beschäftigen, äußern ihre ganz persönliche Sicht auf Erfahrungen mit der Institution Kirche.

Das Interview im Wortlaut:
Münchenberg: Frau Käßmann, heute wird drei Stunden über das Thema sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche gesprochen. Ist der Zeitrahmen angemessen?
Käßmann: Den Zeitrahmen können wir jetzt nicht in Stunden bemessen und sicher ist das Thema nach den drei Stunden auf gar keinen Fall irgendwie zu Ende bearbeitet. Es ist ja bitter, wenn wir jetzt wie eben im Beitrag hören müssen, dass die Betroffenen, die Opfer von sexualisierter Gewalt erklären, dass unsere Kirche das nicht energisch genug aufklärt. Und ich denke, wir müssen hören, was die Forderungen sind, und uns auch noch mal deutlichmachen: Wer sind eigentlich die Täter und warum wurden hier Täter geschützt, warum wurden Verbrechen – das sind Straftaten – vertuscht, weil man offensichtlich meinte, Kirche schützen zu müssen. Und das widerspricht ja unserer Grundüberzeugung, dass die Kirche zu allererst die Opfer in unserer Gesellschaft zu schützen hat.

"Dieses Vertrauen zurückzugewinnen, das ist eine schwierige Aufgabe"

Münchenberg: Sie sind trotzdem eine Insiderin. Wie ist denn Ihr Eindruck? Die Kritiker, die Betroffenen werfen der EKD vor, dass sie sich vor diesem schwierigen Thema weggeduckt habe und vielleicht auch ein bisschen darauf gehofft hat, dass man sich hinter den Katholiken verstecken kann, weil die ganze Debatte hat sich ja zuletzt in diese Richtung hin fokussiert. Wie ist da Ihr Eindruck? Wie geht die EKD mit dem Problem um?
Käßmann: Mein Eindruck ist, dass versucht wird, mit dem Problem - es ist ja nicht ein Problem, sondern mit diesen Straftaten offensiv umzugehen, aber da natürlich auch ein Schock darüber ist, was passieren konnte und dass es Verdachtsfälle offensichtlich gab. Ich meine, Frau Kracht hat auch gesagt, man brauchte mal eine Aussage wie "Du bist nicht allein." Sie ist ja auch Mitglied unserer Kirche. Ich weiß gar nicht, ob sie es noch ist. Aber jedenfalls: Wer ist da die Kirche? – Diese Idee vom Pastor, der irgendwie unantastbar ist, oder dem Diakon, den man nicht hinterfragt in seinem Handeln, ich denke, das ist auch ein absolut falsches Amtsverständnis. Ich muss sagen, für mich ist auch bitter, dass es da offensichtlich Kollegen gab, die das Vertrauen, welches das Amt eines Pfarrers, eines Diakons, eines Priesters mit sich bringt, derartig verspielt haben, weil dieses Vertrauen zurückzugewinnen, ich denke, das ist eine enorm schwierige Aufgabe.
Matthias Katsch, Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch e.V., spricht während einer Pressekonferenz, um Bilanz nach 10 Jahren des "Missbrauchsskandal" am Berliner Canisius-Kolleg zu ziehen.
Sexueller Missbrauch - Schleppende Aufarbeitung der Kirchen
Sexuelle Gewalt an einer Vielzahl von Schülern am Canisius-Kolleg: Nach diesem erschütternden Befund 2010 wurden immer mehr Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen bekannt. Seitdem ist von außen betrachtet viel passiert – doch Betroffene und Experten sehen die Aufarbeitung erst am Anfang.

"In Zukunft muss jeder Verdachtsfall sofort öffentlich gemacht werden"

Münchenberg: Nun hat auch der scheidende EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm gesagt, er sei mit dem Umgang des Themas nicht zufrieden. Die Frage stellt sich aber schon: Er war sieben Jahre im Amt und hätte vielleicht auch mehr tun können.
Käßmann: Heinrich Bedford-Strohm hat gesagt, wir wollen es nicht an Personen festmachen. Das möchte ich auch nicht tun. Aber ganz klar muss sein, es muss um Transparenz gehen. In Zukunft muss jeder Verdachtsfall sofort öffentlich gemacht werden. Ich denke auch, da kann es keine innerkirchliche Aufklärung geben, sondern das muss an Staatsanwaltschaft übergeben werden, wenn es sich um Straftaten handelt. Täter müssen konsequent aus dem Dienst genommen werden. Das kann nicht sein, dass ein Täter versetzt wird, wie es in der Vergangenheit war.
Das ist das für die Zukunft und was die Vergangenheit betrifft, denke ich, hilft nur, glasklar zu hören, was die Opfer zu sagen haben, und zu fragen, wie können wir jetzt als Kirche diesen Opfern zur Seite stehen.
Münchenberg: Es gibt auch Forderungen nach der Einsetzung einer Wahrheitskommission, mehr Unabhängigkeit bei der Überprüfung von den Institutionen der Kirche. Wäre das aus Ihrer Sicht auch ein sinnvoller Schritt?
Käßmann: Ich denke, das wäre ein sinnvoller Schritt, weil es ja auch entlastet, wenn wir sagen, wir übergeben das nach außen. Bischof Tutu, der anglikanische Erzbischof von Südafrika, hat damals ja auch einer Wahrheits- und Versöhnungskommission vorgesessen, und er hat gesagt: Versöhnung ist nur möglich, wenn die Opfer gehört werden und Täter ihre Taten bekennen. Das war auch ein sehr schmerzhafter Prozess und ich denke, unsere Kirche muss diesen schmerzhaften Weg gehen, weil es ist bitter auch zu hören, was sich da vollziehen konnte in Gemeinden, und dass dann Opfern, die das angezeigt haben, nicht geglaubt wurde, dass dann auch Verfahren verschleppt wurden und dass Gemeinden dann auch gemeint haben, sie müssen ihren Pfarrer oder ihren Diakon schützen und nicht das Kind oder die Jugendliche, die missbraucht wurde. Ich denke, es ist schmerzhaft, das anzusehen. Wir brauchen dafür auch eine Sprache. Wir haben allzu lange offensichtlich darüber nicht gesprochen und ich denke, die Vergangenheit aufzuarbeiten und in Zukunft anders zu handeln, das gehört zusammen.

"Viele Menschen in unserem Land suchen nach Halt und Orientierung"

Münchenberg: Frau Käßmann, es geht ein Stück weit auch ums Geld. Der Vorwurf steht im Raum von Seiten der Betroffenen, die Landeskirchen versuchten, die Summen durch "Trickserei" bewusst niedrig zu halten. Ist das nicht ein ungeheurer Vorwurf?
Käßmann: Das ist ein ungeheurer Vorwurf. Ich kann mir das, muss ich jetzt auch sagen, eigentlich nicht vorstellen. Ich war elf Jahre Bischöfin und ich kann mir nicht vorstellen, dass da versucht wird, um Geld zu tricksen. So kenne ich meine Kirche eigentlich nicht.
Münchenberg: Nun ist die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt das eine; das andere ist schon auch eine grundsätzliche Frage, wie sich die Evangelische Kirche angesichts schwindender Mittel, Geldmittel, und auch weiterhin einer großen Anzahl von Mitgliedern, die austreten, aufstellen soll. Haben Sie da einen Rat?
Käßmann: Ich sehe zweierlei. Das eine ist die Frage, wie können wir unseren Glauben, in dem wir ja stehen, die Tradition, die Rituale, die biblischen Geschichten Menschen heute so vermitteln, dass wir ihnen sagen, da kannst Du Halt finden, wie Generationen vor uns in diesem christlichen Glauben Halt gefunden haben. Ich denke, viele Menschen in unserem Land suchen nach Halt und Orientierung, finden es aber offensichtlich nicht in unseren Kirchen. Also ist die Frage, wie können wir diese wunderbare christliche Botschaft, in deren Tradition ich mich aufgehoben fühle, besser vermitteln.
Das andere sind für uns die Gemeinden. Ich bin ja jeden zweiten Sonntag mindestens irgendwo in einer Gemeinde und frage mich: Wir haben so viele großartige diakonische Arbeit, Wohnungslosenhilfe, die Tafeln, Beratungsstelle für Hilfe- und Ratsuchende. Warum spiegelt sich das eigentlich nicht in unseren Gottesdiensten? Wir beraten draußen professionell Menschen in schwierigen Lebenslagen, aber die haben nicht den Eindruck, dass sie am Sonntag im Gottesdienst zuhause sind, sich da beheimaten. Ich meine, dass unser gottesdienstliches Leben und unser soziales Handeln stärker zusammenkommen müssen.

Menschen sollen gestärkt aus Gottesdienst herausgehen

Münchenberg: Sie sagen, die Gläubigen finden vielleicht keine Heimat bei den Gottesdiensten. Was muss oder sollte da anders sein?
Käßmann: Gestern habe ich gepredigt und dann sehe ich da oben drei Konfirmandinnen und zwei Konfirmanden sitzen, und dann frage ich mich, müssen die das jetzt absitzen, oder sagen die, da nehme ich was mit. Die Frage ist ja immer, fühlen Menschen sich da angesprochen, oder haben sie den Eindruck, ich sitze da eine dreiviertel Stunde und gehe dann wieder raus. Ich möchte, dass Menschen gestärkt für das Leben im Alltag der Welt, das oft schwer genug ist, aus diesem Gottesdienst wieder herausgehen, und ich sehe da eigentlich einen Schlüssel, dass es lebendige Orte sind, auf die ich mich freue.
Meine Mutter hat früher immer gesagt,, wenn ich diese Stunde am Sonntagmorgen nicht habe, halte ich die ganze Woche nicht durch, und wie werden Gottesdienste zu solchen Orten. Das ist für mich eine ganz zentrale Frage.
Münchenberg: Der bisherige Vorsitzende Bedford-Strohm stand für eine öffentliche Theologie. Das heißt, er hat in der Evangelischen Kirche zu aktuellen politischen Themen Stellung und Position bezogen. Ich nenne mal Migrationspolitik als ein Beispiel. Man hat selber ein Rettungsschiff gechartert. Das gefällt nicht allen, muss man sagen, in der Kirche. Ist die Evangelische Kirche zu politisch geworden?
Käßmann: Das sehe ich nicht so. Da werden Sie sich nicht wundern. Für mich gehört Verkündigung des Glaubens und Leben in der Welt unmittelbar zusammen. Du kannst natürlich nicht über einen Text predigen wie "Der Fremdling, der unter euch wohnt, den sollt ihr schützen" und sagen, das hat aber mit Fremden, die heute zu uns kommen, nichts zu tun. Oder "Selig sind, die Frieden stiften" und dann sagen, mit dem Frieden in dieser Welt hat das nichts zu tun, es geht nur um den inneren Frieden. Zu allererst geht es mir darum, von der Bibel zu erzählen, die Bibel zu übersetzen in unsere Zeit. Das tut die Kirche der Reformation. Aber damit nimmt sie immer auch Stellung zum öffentlichen Leben in einem Land, und das tut sie übrigens auch, wenn sie schweigt, und unsere Kirche hat manches Mal zu oft auch geschwiegen.

"Ich wünsche mir schon, dass die Gemeinden versuchen, lebendige Orte zu bleiben"

Münchenberg: Nun müssen die evangelischen Kirchen auch drastisch sparen. Was wird das für die tägliche Arbeit heißen, aber vielleicht auch für die Präsenz der Kirche in der Öffentlichkeit?
Käßmann: Ich denke, das wird für viele Kolleginnen und Kollegen im Pfarramt und ihre Gemeinden schwierig. Ich erlebe, dass Gemeinden sich fragen, wie wird das mit der Präsenz des Pfarrers, der Pfarrerin vor Ort, die doch oft auch eine ganz wichtige Figur sind der Seelsorge, der Identifikation der Gemeinde, um die sich die Gemeinde sammelt. Wenn ein Pfarrer, eine Pfarrerin dann 16 Dörfer zu versorgen hat, ändert sich das, und wie schaffen wir es, die Ortsgemeinden trotzdem lebendig zu halten. Das muss nicht am Geld hängen, aber ich wünsche mir schon, dass die Gemeinden versuchen, lebendige Orte zu bleiben, und dass wir da kreativ werden. Wir hatten hier in Niedersachsen mal die Idee, die Kirchen können sich ja öffnen. In der Evangelischen Kirche kann auch ein voll gültiger Gottesdienst von Menschen gehalten werden, die getauft sind, ohne ein ordiniertes Amt zu haben. Ich wünsche mir, dass die Gemeinden sich da nicht deprimieren lassen, wenn ein Pfarrer, eine Pfarrerin so viele Orte zu versorgen haben, sondern fragen, was können wir vor Ort tun, damit wir trotzdem lebendig Kirche bleiben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.