"Das ist, wie der Name 'Letter of Intent' schon sagt, eine Absichtserklärung, die auf eine gemeinsame Erklärung mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs, also dem Beauftragten der Bundesregierung, zielt."
Sagt Prälat Martin Dutzmann, kooptiertes Mitglied des Beauftragtenrates der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt.
"Und wir haben in diesem 'Letter of Intent' jetzt in Aussicht gestellt, dass es für alle Landeskirchen eine oder mehrere unabhängige Aufarbeitungskommissionen geben wird, die sowohl Melde- und Anlaufstellen als auch Beschwerdestellen sind, die auch die quantitative Dimension sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche erfasst, damit man regionale oder eben auch systemische Schwerpunkte erkennen kann."
Schleppende Aufarbeitung
Die katholische Kirche ist schon weiter. Im Juni unterzeichnete die Bischofskonferenz keinen "Letter of Intent", sondern eine "Gemeinsame Erklärung über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland". Und zwar mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig.
"Bischof Ackermann stand ständig in Rückkopplung mit den 26 weiteren Ortsbischöfen und konnte immer wieder Rückkopplung holen in den ständigen Ratssitzungen der Bischöfe, sodass wir tatsächlich - ich glaube es war im November 2019 - über die wesentlichen Punkte der vereinbarten gemeinsamen Erklärung Einvernehmen hatten. Bei der evangelischen Kirche hatte ich den Eindruck, dass zunächst erst mal die 12. Synode in Dresden, aber auch die Einrichtung eines Betroffenen-Beirates und auch die Beauftragung eines umfassenden Forschungsvorhabens im Vordergrund stand. Und wir sind dann im Juno zusammen gekommen, um zu klären, was wir seitens meines Amtes und der Unabhängigen Aufarbeitungskommission und des Betroffenenrates bei der Evangelischen Kirche in Bezug auf die Aufarbeitung noch vermissen."
Standards lassen auf sich warten
Dabei hatte die Evangelische Kirche im vergangenen Jahr die Entwicklung von Aufarbeitungsstandards öffentlich angekündigt, doch die Einlösung des Versprechens dauerte. Johannes-Wilhelm Rörig selbst musste jetzt vorstellig werden, damit es wenigstens zu einen "Letter of Intent" kam, gibt Prälat Dutzmann zu.
"Der UBSKM hat mit Recht sehr gedrängt. Wir haben gesagt, wir schaffen das jetzt nicht innerhalb von drei Wochen. Das muss ja mit 20 Landeskirchen sorgfältig abgestimmt werden. Aber wir schaffen das gewiss im Herbst. Und bis dahin schreiben wir öffentlich einsehbar unsere Absicht, dieses zu tun, fest. Damit bindet sich die EKD und binden sich die Landeskirchen."
Beim Thema Aufarbeitung und Zusammenarbeit mit der staatlichen Stelle des Unabhängigen Beauftragten gibt es bei den Kirchen offensichtlich unterschiedliche Geschwindigkeiten, sagt Johannes-Wilhelm Rörig:
"Also in Bezug auf die unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch ist die katholische Kirche in Deutschland aus meiner Sicht tatsächlich in einer Vorreiterrolle. Die evangelische Kirche hat vielleicht eine Zeitlang gedacht, dass sie verzichten kann auf einheitliche Standards und Kriterien bei der Aufarbeitung, vielleicht auch verzichten kann auf fest formulierte Strukturen. Ich kann das nicht ausschließen, dass einige Landeskirchen bis heute die Hoffnung haben oder hatten, dass sie um eine unabhängige Aufarbeitung von Missbrauch in ihrem Bereich herumkommen."
Missbrauchsstudie in Auftrag gegeben
Nimmt also die evangelische Kirche, oder nehmen zumindest einige Landeskirchen die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs nicht ernst? Prälat Martin Dutzmann weist das zurück. So würde etwa die nun anstehende Studie finanziell zum größten Teil von den 20 Landeskirchen getragen. Und:
"Die Landeskirchen stehen sehr dahinter, was Sie schon daran erkennen können, dass viele Landeskirchen - wahrscheinlich demnächst alle Landeskirchen - die Gewaltschutzrichtlinie der EKD übernommen haben, hier und da mit einigen Modifikationen. Andere aber auch ohne Modifikationen. Dass die Landeskirchen im Wesentlichen - die EKD gibt auch etwas dazu - besagte Aufarbeitungsstudie finanzieren werden. Und in den Landeskirchen haben Sie Strukturen der Aufarbeitung und können schon erkennen, dass es sehr ernst genommen wird."
"Ein unabhängiger Forschungsverbund soll von Oktober an in mehreren Teilstudien Ursachen und Spezifika von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche" untersuchen, heißt es bei der EKD. Die Studie kostet 3,6 Millionen Euro, innerhalb von drei Jahren sollen Ergebnisse vorliegen. Sie werde intensiv von Betroffenen begleitet. Anders als in der MHG-Studie, die nur katholische Priester und Diakone in den Blick nahm, erfasst das evangelische Pendant neben Pfarrerinnen und Pfarrern auch haupt- und nebenberuflich Mitarbeitende sowie Ehrenamtliche.
"Studien ersetzen keine Aufarbeitung"
"Diese Studien, die jetzt in Auftrag gegeben werden, helfen hier und heute den Betroffenen, die sich bei der Evangelischen Kirche oder der Diakonie gemeldet haben, oder den Betroffenen, die sich in den nächsten Monaten und Jahren melden werden, erst mal überhaupt nicht."
Hält Kerstin Claus dagegen. Sie ist als evangelisches Mitglied im Betroffenenrat beim UBSKM. Frühestens im Oktober 2023 würden die ersten Ergebnisse der systemischen Studien vorliegen. Eine Analyse von Problemlagen, keine Problemlösungen.
"Wenn es sehr gut läuft, dann werden diese Studien dazu führen, dass auch schrittweise sich die systemischen Strukturen innerhalb der Landeskirchen verändern. Aber das dauert", so Claus. "Studien sind keine Aufarbeitung und sie ersetzen keine Aufarbeitung. Das weiß die EKD. So wie die MHG-Studie der Bischofskonferenz durchaus viel Bewegung in die weitere Entwicklung auf katholischer Seite gebracht hat, so werden auch diese Studien etwas leisten, aber sie leisten keine Aufarbeitung."
Kritik an zentraler Anlaufstelle ".help"
Ob diese Studien Handlungsempfehlungen aussprechen und ob diese dann auch von den Verantwortlichen umgesetzt werden, ist noch völlig offen. Die Evangelische Kirche verweist in ihrer letzten Pressemitteilung zum Thema auch auf die "unabhängige ‚Zentrale Anlaufstelle .help‘ für Betroffene." Auch hier sieht Kerstin Claus, die selbst in ihrer Jugend Opfer eines übergriffigen Pfarrers wurde, erhebliche Defizite.
"Die geht zurück auf eine starke Forderung beim Hearing Kirchenaufarbeitung im Sommer 2018. Und dann hat die Kirche gesagt: Okay, wir haben keine zentrale Anlaufstelle, also schaffen wir eine. Was macht diese Anlaufstelle? Wenn Sie da anrufen, dann werden sie grob gefragt nach dem Kontext und dann werden Sie verwiesen - oh Wunder - auf die jeweiligen Meldestellen, die kirchlichen Meldestellen der Landeskirchen. Dass ich diesen Titel anmaßend finde, weil ich nicht weiß, wem hier geholfen wird – Help - den Betroffenen oder der Landeskirche, dass man endlich eine Anlaufstelle vorweisen kann?"
Wer sich an die EKD-Anlaufstelle wende, stehe in der Gefahr, von den kirchlichen Strukturen überrumpelt zu werden. Es gebe für die Betroffenen keine wirkliche Hilfe, kritisiert Kerstin Claus.
"Die Anstrengungen reichen nicht"
"Das ist für Betroffene nicht das, was sie brauchen, wenn sie sich erstmalig mit diesem Thema auseinandersetzen und anzeigen wollen. Denn Betroffene brauchen einen Prozess der Begleitung. Welche Optionen habe ich? Was will ich? Will ich wirklich mit Kirche direkt reden? Wie behalte ich die Hoheit über das, was ich der Kirche sage? Die Anlaufstelle ".help" ist für Betroffene nicht hilfreich. Ich kann sie tatsächlich Betroffenen auch nicht empfehlen, weil man nicht in der außerkirchlichen Begleitung über einen gewissen Zeitraum bleiben kann, sondern letztendlich wieder auf die kirchlichen Strukturen verwiesen wird."
Zwischenfazit: Die Evangelische Kirche geht mit einem "Letter of Intent" an die Öffentlichkeit, verweist auf anstehende systemische Studien und auf ihre ".help"-Anlaufstelle. Zudem gibt es den 11-Punkte-Plan, in dem unter anderem die Beteiligung der Betroffenen festgeschrieben wird oder die Eruierung, "wie eine wissenschaftlich seriöse Ausleuchtung des sog. Dunkelfeldes in der evangelischen Kirche und der Diakonie erfolgen und gelingen kann." Für die Betroffene Kerstin Claus ist das alles nicht genug.
"Ich habe für mich die Wahrnehmung, dass die Synode letztes Jahr, wo dem Thema Missbrauch-sexuelle Gewalt ja ein großer Platz eingeräumt wurde, gefühlt eher so etwas wie ein Abschluss war. Wir haben den 11-Punkte-Plan ins Leben gerufen. Und wir rufen jetzt noch die Studien aus, damit sind wir durch. Und das ist in meinen Augen die verkehrte Perspektive, denn die evangelische Kirche steht am Anfang. Die Anstrengungen der Evangelischen Kirche reichen bis heute nicht."