Patrick war zehn, als seine Eltern ihn ins Heim schickten. Die Mutter, erzählt er, habe sich für ihre Karriere als Sängerin interessiert, nicht für ihren Sohn. Der Vater betrieb ein Restaurant und war nachmittags und abends nicht zu Hause. So kam Patrick kurz vor seinem zehnten Geburtstag ins katholische Don-Bosco-Heim in Berlin-Wannsee, idyllisch im Grünen gelegen.
Er erzählt: "Mein Vater hat es nur mit schönen Bildern betitelt. Da gibt’s viele Kinder. Du wirst da glücklich sein. Es gibt einen Fussballplatz, Spielplätze und außerdem kannst Du ja jedes Wochenende zu uns kommen."
Aber Patrick, ein blonder, groß gewachsener Junge, der mit Begeisterung Fußball spielte, wollte nicht ins Heim.
"Ich habe eigentlich bitterlich gekämpft, zu Hause bei meinem Vater bleiben zu können. Aber ich hatte keine Chance."
"Ich sollte nach der Schule zu ihm kommen"
Patrick lebte mit 17 Kindern und Jugendlichen in einer Wohngruppe und war mit zehn Jahren der jüngste. Er war erst vier Monate im Don-Bosco-Heim und hatte sich noch nicht an sein neues Leben im Heim gewöhnt, als der Missbrauch begann.
"Das Mittagessen fand immer im Esssaal statt für alle Gruppen, und ich bin nach dem Essen, weil ich mich mit irgendeinem Jungen treffen wollte, aus dem Esssaal herausgerannt und habe dann einen Pater angerempelt. Ich bin dann erschrocken stehengeblieben, und er meinte oder fragte mich, ob ich nicht wüsste, dass Rennen verboten wäre - was ich bejaht habe, dass ich das weiß. Und dann hat er gesagt: Er hat mich schon längere Zeit beobachtet und er möchte jetzt mal ein Gespräch mit mir führen. Und hat mir dann gesagt, dass ich nach der Schule zu ihm kommen soll."
Die erste Vergewaltigung
Die Patres des Salesianer-Ordens trugen in der Woche ganz normale Kleidung. Nur sonntags liefen sie in schwarzen Ordenskutten mit weißem Kragen über das Gelände. Patrick hatte die Verabredung mit dem Pater vergessen. Nach dem Abendbrot fand der Pater ihn draußen, erinnerte ihn an das geplante Treffen und sagte: "Jetzt komm mit."
"Und dann bin ich mit ihm mitgegangen in seinen Raum, den er dann abgeschlossen hat. Und dann hat er gesagt, dass mein Verhalten sehr auffällig ist, und zur Strafe müsste ich mich jetzt ausziehen. Das habe ich dann aber nicht gemacht. Dann hat er mich angeschrien. Und vor lauter Angst habe ich mich dann ausgezogen. Er hat mich dann berührt am ganzen Körper und mich auf einen Tisch gelegt und hat dann versucht, in mich einzudringen, was aber nicht funktioniert hat."
Er sei ein "naives Kind" gewesen, erinnert sich Patrick. Über Sex habe er bis dahin nie nachgedacht in seinem Leben.
"Daraufhin sollte ich sein Glied in den Mund nehmen. Und so lange hat er an mir herumgespielt, bis er gekommen ist - und das war’s dann das erste Mal. Und er hat dann noch gesagt, ich sollte das niemand erzählen. Das würde mir sowieso keiner glauben. Und wir sehen uns noch weiterhin."
Auch die Opfer wurden zu Tätern
Tatsächlich missbrauchte der etwa 30-jährige Pater Patrick noch zwei Mal. Dann ließ er von ihm ab - weil es ihm nicht gelungen sei, in ihn einzudringen, erzählt Patrick.
"Erst später habe ich dann mit Jugendlichen oder mit Gleichaltrigen mal auf dem Spielplatz drüber geredet und erfuhr dann, dass das Gruppenleben sehr sexualisiert war in vielen Gruppen – auch dass ältere Jugendliche jüngere Jugendliche missbrauchten."
Sexuelle Gewalt gehörte im Don-Bosco-Heim zum Alltag. Was der missbrauchende Pater vorlebte, taten auch die Jugendlichen. Patrick wurde Zeuge, wie ein jüngerer Mitbewohner von einem der älteren missbraucht wurde. Als Patrick elf war, wurde er selbst zum Spielzeug eines Jugendlichen.
"Er hat mich für Zigaretten an andere vermietet"
"Im Anschluss darauf hat sich ein vier Jahre älterer Jugendlicher an mich gewendet und hat mich missbraucht und hat gesagt, wenn ich das erzählen würde, würde er mich umbringen und auch sich danach. Und das habe ich geglaubt. Ich musste mich immer ihm zur Verfügung stellen, wann er es wollte. Er hat mich dann auch für Zigaretten an andere vermietet sozusagen. Und ich hab’s versucht, den Erziehern immer begreiflich zu machen, indem ich rumgeschrien hab, ausgerastet bin."
Jahrelang wurde er von seinem Zimmernachbarn zum Anal- und Oralverkehr gezwungen – bis er sich eines Tages dazu durchrang, dem leitenden Erzieher seiner Gruppe zu berichten, was tagtäglich passierte. Aber die Tür des Büros stand offen, und auf dem Flur beobachtete der Zimmernachbar die Szene. Patrick musste seinen Plan aufgeben.
Erst auf einer Fahrt der Heimbewohner nach Österreich konnte er sich von seinem Peiniger lösen. Ein gleichaltriger österreichischer Junge hielt ihn davon ab, sich einen Wasserfall hinabzustürzen. Ihm vertraute Patrick alles an und konnte sich danach von dem brutalen Mitbewohner emanzipieren.
"Ich wollte es besser machen als die Erzieher in dem Heim"
1978 zog Patrick zu seiner Mutter, die getrennt vom Vater lebte. Er verließ das Heim und wechselte die Schule.
"Ich hatte den Wunsch, Erzieher zu werden, es besser zu machen als die Erzieher in dem Heim. Und dafür brauchte ich einen guten Schulabschluss. Und deshalb habe ich mich an der neuen Schule um 180 Grad verändert. Habe gut mitgemacht, super Zeugnisse bekommen, Schulsprecher geworden, in einer Band gespielt. Da war der Missbrauch außen vor."
Später holten Patrick die Erfahrungen aus dem Don-Bosco-Heim ein. In den 1980er-Jahren hatte er eine glückliche Beziehung zu einem gleichaltrigen Mann. Es war bislang Patricks letzte.
"Das ist schwierig, weil durch den Missbrauch das Vertrauen kaputt gemacht wurde, was man braucht, um Freundschaften zu halten, Freundschaften einzugehen."
"Die Bilder aus dem Heim sind gut abgespeichert"
Seit 2014 ist er berufsunfähig - als Erzieher und Autismus-Therapeut. Häufig leidet Patrick unter "Flashbacks" - unter Rückblenden in die Zeit des Missbrauchs, die den heute 54-Jährigen in die Depression treiben.
"Die Bilder, die in meinem Kopf sind, kann man sich so vorstellen, als ob das Videokassetten sind. Ich hole mir eine Videokassette und ich sehe alles, was passiert ist, ich rieche alles, als ob ich in der Situation direkt drin bin. Und da sind zum Beispiel alle Bilder aus der Zeit des Don-Bosco-Heims gut abgespeichert."
Wer ist nun zuständig für den Fall Patrick? Pressesprecher Stefan Förner vom Erzbistum Berlin sagt, seine Diözese sei durchaus zuständig, denn der Missbrauch sei in Berlin passiert. Aber die viel zitierte Studie der Deutschen Bischofskonferenz, in der sich die katholische Kirche Ende September zu 3.677 Missbrauchsfällen ihrer Priester bekannte, bezieht sich nicht auf das Geschehen in den Einrichtungen der Ordensgemeinschaften.
Stefan Förner: "Unser Bischof sagt immer: Diese Studie ist kein Schlusspunkt, sondern ein Doppelpunkt. Wir sind jetzt gehalten, aus den Ergebnissen der Studie zu lernen."
In diesem Zusammenhang sagt Pressesprecher Förner, der Erzbischof wolle künftig mehr auf die Opfer hören:
"Erzbischof Koch hat in seinem Brief zur Veröffentlichung der Studie ausdrücklich auch eingeladen, alle, Betroffene, aber auch Zeugen, andere, die sich damit beschäftigt haben, Angehörige, sich zu melden und zu sagen: Was fehlt Euch denn noch? Was sollen wir denn tun? Was können wir denn tun?"
"Wir glauben Euch"
Für Patrick ist klar, was ihm fehlt. Eine wirkliche Entschädigung. Der Pater, der ihn missbrauchte, ist 2011 gestorben. Schadensersatz kann also nur von der katholischen Kirche insgesamt oder vom Orden der Salesianer kommen. Mit dieser Erwartung ist Patrick nicht allein: Mehr als 200 Betroffene haben sich bei den Salesianern wegen Missbrauchs beschwert, davon 138 wegen sexueller Übergriffe. Von den früheren Bewohnern des Don-Bosco-Heims in Berlin meldeten sich 24 bei dem Orden, davon 19 wegen sexueller Übergriffe. Den Pater, der Patrick missbrauchte, nannten zwei weitere Heimbewohner als Täter.
In einem Brief an die Deutsche Provinz der Salesianer Don Boscos hat Patrick 450 000 Euro Entschädigung von dem Orden gefordert – für 15 Jahre Verdienstausfall vom Zeitpunkt der Berufsunfähigkeit bis zur Rente. Von den Salesianern erhielt er vor sieben Jahren lediglich die übliche Zahlung zur "Anerkennung" seines Leids: 5000 Euro.
Stefan Förner sagt: "Wir hören euch zu. Wir glauben euch. Ich denke, das ist auch schon begonnen worden mit diesen Zahlungen in Anerkennung des Leids, zu sagen: Eure Geschichte ist wahr. Wir können Sie nicht verifizieren. Wir können womöglich gar kein Verfahren führen, weil der Beschuldigte verstorben ist oder weil der Fall zu weit zurückliegt, aber wir nehmen erst mal eure Geschichte, euer Leid ernst und glauben euch und ziehen dann aber auch weitere Konsequenzen."
"Der Missbrauch hat mein Leben in den Abgrund geschickt"
Anders als Förners Worte klingt die E-Mail, die Patrick vom Missbrauchsbeauftragten des Salesianer-Ordens Janko Jochimsen auf seine Schadensersatzforderung hin erhielt. Darin heißt es, man folge derzeit dem "System" der Anerkennungszahlungen:
"Eine nachträgliche Erhöhung oder eine weitere Leistung in Einzelfällen würde dieses System unterlaufen und zu einer Ungleichbehandlung führen."
Diesen negativen Bescheid vom 20. November erhielt Patrick übrigens erst am 29. November per E-Mail – nachdem der Deutschlandfunk nachgefragt hatte, warum Patrick keine Antwort erhalten habe. Man wolle die gegenwärtige "Systematik" der Zahlungen überprüfen, erklärt Pater Alfons Friedrich, Sprecher der Arbeitsgruppe für Missbrauch der Salesianer. Vorerst also bleibt Patrick mit seinen Bildern im Kopf und mit seiner Niedergeschlagenheit allein.
Er sagt: "Ich denke, der jahrelange Missbrauch hat meine Persönlichkeit so stark verändert, dass ich wenig Vertrauen in die Menschheit, in Menschen habe, dass ich zu oft depressiv bin, zu oft die Bilder im Kopf habe, oft auch suizidale Gedanken habe. Ich denke, der Missbrauch hat, wenn man es ganz böse sagen will, mein Leben in den Abgrund geschickt."
Patrick steht nun nur noch der juristische Weg zur Entschädigung offen. Aber den Rechtsanwalt, den er dafür braucht, kann er sich nicht leisten.
Redaktioneller Hinweis: Patrick betreibt eine Website zum sexuellen Missbrauch im Berliner Don Bosco Heim: