Ein neues Buch wirft dem früheren Papst und Präfekten der Glaubenskongregation vor, nur die Kirche geschützt zu haben. Im Sinne der Missbrauchs-Opfer habe Joseph Ratzinger nicht agiert, sagt Doris Reisinger, Theologin und gemeinsam mit Christoph Röhl Autorin des Buchs "Nur die Wahrheit rettet. Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger". Ludwig Ring-Eifel, Chef der katholischen Nachrichten-Agentur KNA, betont dagegen, Ratzinger habe das Mögliche getan – gegen Widerstände im Vatikan.
Ludwig Ring-Eifel: "Als Präfekt der Glaubenskongregation war er [Joseph Ratzinger] ein sehr aktiver Aufklärer. Er hat 2001 die weltweite kirchenrechtliche, strafrechtliche Verfolgung von Missbrauchstätern wieder möglich gemacht. Papst Johannes Paul II. hat 2001 ein Gesetz verabschiedet, das aus der Feder von Joseph Ratzinger stammt. Damit wurde es möglich, sämtliche Missbrauchs-Verfahren den Ortsbischöfen wegzunehmen und sie nach Rom zu geben. Dort wurden sie von einer Spezialabteilung der Glaubenskongregation verfolgt und dann auch entsprechend bestraft, bis hin zur Entlassung aus dem Priesterstand. Diese Höchststrafe hat Joseph Ratzinger im Alleingang gegen den Widerstand anderer wichtiger, mächtiger Leute in der Kurie damals durchgesetzt. Es wird immer gesagt, er sei damals der mächtigste Mann in der Kurie. Das stimmt nicht. Der mächtigste Mann in der Kurie war ein Kardinal, Sodano, der einen ganz anderen Kurs in dieser Sache gefahren hat. Wenn Ratzinger damals nicht dieses Gesetz und diese Institution der Verfolgung dieser Straftaten in Rom etabliert hätte, dann wären wir heute noch bei der Verfolgung dieser Straftaten noch ganz am Anfang."
Doris Reisinger: "Joseph Ratzinger war kein Aufklärer. Er kam schon 1982 als Präfekt der Glaubenskongration mit Fällen in Berührung, für die er konkret selbst zuständig war und in denen er nicht gehandelt hat. Da ist der Fall des US-amerikanischen Priesters Stephen Kiesle, damals hat der Bischof von Oakland Ratzinger flehentlich gebeten, diesen verurteilten Sexualstraftäter zu laisieren, also aus dem Priesterstand zu entlassen. Ratzinger hat den Bischof jahrelang hingehalten. Dieses Muster, dass Joseph Ratzinger nicht handelt, wiederholte sich unter anderem in den 1990er-Jahren, als im Vatikan Berichte eingehen von massenhafter sexualisierter Gewalt gegen Ordensfrauen. Er hat einfach gar nicht darauf reagiert. Es wiederholte sich im Fall von Lawrence Murphy, der viele gehörlose Kinder missbraucht hat. Da hat sich Ratzingers Behörde dafür eingesetzt, das Verfahren zu stoppen. Das Spezialgesetz von 2001 hat Joseph Ratzinger nicht im Alleingang durchgesetzt. Bischöfe in der englischsprachigen Welt hatten schon jahrelang darum gekämpft. Ich deute den Erlass von 2001 so, dass Joseph Ratzinger versucht hat, solange wie möglich nichts in dieser Sache zu tun und sich dann nicht mehr wehren konnte.
Zuständigkeit für Sexualstrafsachen umstritten
Ludwig Ring-Eifel: Joseph Ratzinger habe, als er Anfang der 1980er-Jahre seine Arbeit in der Glaubenskongregation begann, getan, was er konnte. Das Kirchenrecht in der Neufassung von 1983 habe sexuellen Missbrauch deutlich milder bestraft als das alte Kirchenrecht von 1917.
"Er war nur noch zuständig für Fälle, wo solche Verbrechen im Rahmen der Beichte geschehen sind. Für die anderen Fälle war er gar nicht mehr zuständig … Das konnte er natürlich nicht von heute auf morgen ändern."
Doris Reisinger: "Ich glaube nicht, dass er nicht zuständig war. Die Frage, wer in Rom zuständig ist, war für Sexualstrafsachen chronisch umstritten".
Es habe eine organisierte Verantwortungslosigkeit gegeben, auch deswegen, damit niemand verantwortlich gemacht werden könne, wenn etwas schief geht.
"Joseph Ratzinger hätte dafür kämpfen können, seine Zuständigkeit durchzusetzen. Es scheint keine Spur dafür zu geben, dass er ernsthaft versucht hat, vor 2001 diese Fälle irgendwie an seine Behörde zu ziehen oder in den Fällen, die bei ihm gelandet sind, so zu handeln, dass er klargemacht hätte: ,Ich habe hier eine klare Linie.‘"
Empathie für die Opfer von Missbrauch
Ludwig Ring-Eifel: "Ich habe kein Quentchen Zweifel daran, dass ihm diese extremen Verletzungen, die den Opfern zugefügt wurden, unglaublich nahe gegangen sind und, dass er alles versucht hat, was in seiner Macht stand, um solche Dinge in Zukunft zu verhindern und um die Täter auch angemessen zu verfolgen."
Doris Reisinger: "Er gießt, wenn er über Missbrauch spricht, das Mitleid mit den Opfern in eins mit dem persönlichen Leid, das er erlebt, weil er das aushalten muss. Ich glaube nicht, dass er annähernd empathisch begriffen hat, was das für Betroffene bedeutet. Sonst hätte er nicht als Seelsorger mit ihnen gesprochen, sondern aus einer Verantwortungsposition heraus und er hätte aus dieser Verantwortungsposition seine Machtfülle anders genutzt, um Betroffenen gerecht zu werden."
Warum sexualisierte Gewalt gegen Schutzbefohlene nur ein Zölibatsverstoß ist
Ludwig Ring-Eifel: "Das liegt in der Logik dieser Rechtsentwicklung. Nur dadurch, dass Ratzinger argumentieren konnte, dass das Verbrechen nicht nur die Opfer betrifft, sondern auch die Heiligkeit der Kirche und die Herrlichkeit der Sakramente verletzt, hatte er ein Argument, um es überhaupt an die Glaubenskongregation zu ziehen und es den anderen viel lascher agierenden Stellen im Vatikan – Klerus-Kongregation und Bischofskongregation etwa - zu entziehen."
Es sei ein "Trick", ein taktischer Schachzug gewesen, um im Vatikan überhaupt etwas bewirken und sich für Betroffene einsetzen zu können.
Doris Reisinger: "Wenn ein Priester mit gewandelten Hostien nicht ordentlich umgeht, dann ist das auf einer Stufe mit Priestern, die Kinder missbrauchen. Joseph Ratzinger hat sich nicht dafür eingesetzt, dass Betroffene Nebenkläger-Status haben, dass sie als Geschädigte in Erscheinung treten, Entschädigungen bekommen, überhaupt nur über die Urteile informiert werden. Das heißt für mich: Er hat sich nicht für Betroffene eingesetzt."
Ein System, in dem man strategisch taktieren müsse, um Verbrechen zu verfolgen und Kinder zu schützen, sei "in sich schon so verkommen, dass jemand, der dort Leitungsverantwortung hat, sich fragen muss, ob er diese in so einem System wahrnehmen will".