"Ich kann sagen, dass ich in der Zeit zwischen 1960 und 1964 in Köln weit mehr als 200 Mal missbraucht wurde, und dass mich das bis heute – ich bin 71 Jahre – nach wie vor verfolgt."
Rolf Kraus schwieg Jahrzehntelang über den Missbrauch. Erst vor einem Jahr wandte er sich an das Erzbistum Köln, von dort bekam er 5.000 Euro, die Standardsumme zur Anerkennung des Leids. Zudem bekam er einen Gesprächstermin mit Rainer Maria Woelki persönlich. Die Folgen der sexualisierten Gewalt prägen sein Leben bis heute: "Es gibt Nächte, wo Sie im Bett liegen, da steht der besagte Priester neben Ihnen, Sie haben Schweißausbrüche, Angstgefühle, weil Sie glauben, er würde wieder in Sie eindringen und andere Sachen mit Ihnen veranstalten. Das ist unglaublich."
"Anerkennungsleistungen" von 5.000 und 50.000 Euro
Nachdem die Deutsche Bischofskonferenz im vergangenen September die UKA, die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen, ins Leben rief, wandte sich auch Rolf Kraus an dieses Gremium. Die Kommission, die seit Januar tätig ist, kann Summen zwischen 5.000 und 50.000 Euro auszahlen – in besonders schweren Fällen auch mehr. Doch nach welchen Kriterien erfolgt die Einstufung?
"Das ist Alter des Betroffenen zur Zeit des Missbrauchs, die Häufigkeit und Zeitspanne der Tat, ob es ein Abhängigkeitsverhältnis gab, wie es zum Beispiel in Heimen und Internaten der Fall ist.", sagt Margarete Reske. Die pensionierte Richterin ist die Vorsitzende der Kommission. "Die weitere Frage wäre: Wurde eine besondere Hilfsbedürftigkeit des Opfers ausgenützt? Und auch: Wie sind die körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Missbrauchs und wie sind die weiteren Folgen für das weitere Leben?"
Und auch Frage des institutionellen Versagens der Kirche spiele bei der Bewertung eine Rolle, sagt Margarete Reske. Bei der Höhe der so genannten "Anerkennungsleistungen" orientiere man sich an Urteilen staatlicher Gerichte: "Das ist keine einfache Frage, aber wir haben ja die Verfahrensordnung, die auf die Schmerzensgelder verweist, die von staatlichen Gerichten für vergleichbare Missbrauchsfälle zuerkannt werden. Das heißt Beträge, die auch aktuell bei den Gerichten berücksichtigt werden."
"Man kann diese Kriterien einfach nicht nachvollziehen"
Bei einigen Betroffenen, deren Antrag bereits bewilligt wurde, hat die geringe Höhe der Zahlungen auch zu Enttäuschungen geführt, sagt Jens Windel, der sich in einem Aktionsbündnis mehrerer Betroffeneninitiativen engagiert: "Vom Aktionsbündnis haben wir halt von mehreren Betroffenen schon gehört, dass es vernichtend war, die Antwort, die sie erhalten haben. Und ich weiß, dass teilweise Auszahlungen in Höhe von 7.000 oder 8.000 Euro überwiesen wurden sind. Man kann diese Kriterien einfach nicht nachvollziehen, von daher ist es sehr schwer, damit auch umzugehen."
Das gilt auch für Rolf Kraus. Obwohl er jahrelang schwer missbraucht wurde, hat der Kölner nun von der UKA lediglich 15.000 zugebilligt bekommen: Kraus: "Ich behaupte, selbst mit einer Million Euro können die das, was uns allen passiert ist, nicht gut machen. Aber zumindest das, was man in der Bischofskonferenz beschlossen hatte, die Grenze von fünf- bis 50.000 auszuzahlen, da sollte in meinem Fall der Höchstbetrag angesetzt worden sein."
Auszahlungen sorgen für Enttäuschungen
10.000 Euro bekam Rolf Kraus überwiesen, da die vorher vom Erzbistum Köln gezahlten 5.000 abgezogen wurden. Es gehe ihm nicht um das Geld, betont der 71-Jährige, aber das Verfahren und die niedrige "Anerkennungsleistung" sei ein weiterer Tiefschlag. Kraus: "Das ist wiederum eine glatte Vergewaltigung."
Jens Windel, der im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz mitarbeitet, kritisiert das Vorgehen der Kommission: "Man hat überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, wie die UKA zu dieser Entscheidungsfindung gekommen ist. Zu dieser Zahl, die dann überwiesen wird."
In der siebenköpfigen Kommission sitzen Juristen, Mediziner und Psychologen. Windel wundert sich, dass kein Betroffener berufen wurde: "Für mich wirkt das relativ kühl, wie die Anerkennung des Leids bearbeitet wird und es wäre gut, wenn ein Betroffener mit in dieser Kommission sitzen würde, um auch den anderen Mitgliedern ein Gefühl dafür zu geben."
Und Jens Windel hält die Berechnung der so genannten Anerkennungsleistung generell für fragwürdig: "Meines Erachtens wäre es sinnvoller gewesen, man hätte sich auf eine Summe geeinigt und ein jedes Missbrauchsopfer hätte diese Summe X bekommen. Dann wäre es nicht dazu gekommen, dass es lange Wartezeiten gäbe, dann hätte man nicht neu entscheiden müssen, wie hoch die Summe sein muss, es wäre um vieles einfacher geworden und die Kirche wäre glaubhafter geworden."
"Verfahren ist ein guter Kompromiss"
Als eine möglichen Summe nennt Windel einen Betrag zwischen 50.000 und 100.000 Euro für alle Betroffenen. Von einer solchen Regelung hält Margarete Reske nichts. Die Vorsitzende der UKA plädiert für eine an dem jeweiligen Fall orientierte Bemessung.
Reske: "Das betrifft nicht nur die Eingriffe selbst, sondern auch die Folgen. Es verkraftet ja nicht jeder Schmerzenszufügungen in gleicher Weise gut oder schlecht. Von daher ist das Verfahren ein guter Kompromiss. Es wäre, wenn man es andersherum denken würde, schwierig. Wenn man Leuten, die schwerste Misshandlungen erlitten haben, mit dem gleichen Betrag abfindet wie Leute, die vielleicht nur eine einzelne flüchtige Missbrauchshandlung beklagen."
"Das hat die Kirche aus mir gemacht"
Zu den Betroffenen, die bei der UKA einen Antrag gestellt haben, gehört auch Michael S. Er wurde als Kind von einem katholischen Priester im Siegerland missbraucht. Eine Tat, unter der er bis heute leidet. Er zeigt auf die Verletzungen, die er sich selbst zugefügt hat.
Michael S.: "Das hat die Kirche aus mir gemacht. Sie sehen meine Arme: Tausendmal hier rein geschnitten. So sehen die Beine auch aus. Sieht wie eine Verbrennung aus. Sind aber - wie oft ich da reingeschnitten habe? Das macht man ja nicht, weil es einem gut geht."
Lange konnte der heute 53-Jährige die Taten einigermaßen verdrängen. Doch als 2010 die sexualisierte Gewalt durch Priester in der Öffentlichkeit debattiert wurde, brach bei ihm ein Damm: "Wie der Missbrauchsskandal rauskam, habe ich innerhalb von vier Wochen mein Leben, wie es mal war, verloren. Ich habe massiv angefangen zu schneiden und dann ging nichts mehr. Und dann kam für mich der psychische Absturz."
Die Mühlen mahlen langsam
Michael S hatte sich 2015 an das zuständige Erzbistum Paderborn gewandt. Die Reaktion der Kirche war für ihn enttäuschend: Kein Wort der Entschuldigung; kommentarlos wurden ihm 5.000 Euro überwiesen. Nun – mit der Arbeit der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen hegt er neue Hoffnungen, zumindest eine größere Summe für das erlittene Leid zu erhalten. Doch die Mühlen der Kommission mahlen langsam. Fast 1.000 Anträge sind bei der Kommission bereits eingegangen. Man hoffe, pro Sitzung, die in der Regel einmal monatlich stattfindet, rund 30 Anträge abarbeiten zu können, sagt Margarete Reske: "Das ist unsere Hoffnung, aber es erweist sich manchmal, dass die einzelnen Fälle recht lange beraten werden. Das ist nichts, was einfach so schnell durchläuft."
Zehn Prozent der Fälle bearbeitet
Bislang konnten ca. zehn Prozent der Fälle bearbeitet werden. Reske: "Der Berg, der drückt uns auch ganz furchtbar. Es kann nicht alles so schnell abgearbeitet werden, wie die Antragssteller das erhoffen."
Die UKA will zuerst die Fälle der älteren Missbrauchsbetroffenen behandeln, die möglichweise nicht mehr lange leben. Jens Windel vom Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz fordert aber auch eine Priorisierung besonderer Härtefälle: "Um den Menschen auch die Möglichkeit zu geben, die in einer finanziellen Not stecken. Das sind ja nicht wenige Betroffene, die aufgrund ihrer Erlebnisse in den vorzeitigen Ruhestand gehen mussten und auch mit den finanziellen Verlusten zu kämpfen haben."