Am Anfang der langen Geschichte von Texten, die das Wesen der Liebe und des Eros besingen und absichtsvoll erkunden, stehen die Briefe von Abaelard und Héloise. Im Jahr 1115 wurde der Wanderprediger zum Liebhaber seiner erst 15-jährigen Schülerin. Beide sollten ihr Leben im Kloster beschließen, aber anders als der entmannte Abaelard fand sich Héloise nicht damit ab, den Körper ihres Geliebten nie mehr genießen zu können. In ihren Briefen beschwört sie offen das einstige Glück der mit Abaelard empfundenen Lust. Für Marilyn Yalom hallt Héloises leidenschaftlicher Ruf wie ein Echo durch die Jahrhunderte.
Frauen, die rückhaltlos geliebt haben
"Sie spricht für alle Frauen, die rückhaltlos geliebt haben und am Ende den geliebten Mann verloren. (...) 1871 wurden ihre sterblichen Überreste auf den Père-Lachaise-Friedhof in Paris überführt, wo sie jetzt unter einem Mausoleum in Form einer neugotischen Kapelle liegen. Als ich es unlängst besuchte, sah ich dort einen Strauß Narzissen und eine kleine Karte, auf der man das längst verstorbene Liebespaar um seinen Segen bat."
Dass sie durch das Klosterleben zur körperlichen Entsagung gezwungen wurde, quälte Héloise. Sexuelle Leidenschaft, stellt Marilyn Yalom gleich auf den ersten Seiten fest, hat für Franzosen eine eigene Berechtigung. Das aus Ehemann, Ehefrau und einem Geliebten bestehende "Standardtrio" - so formuliert Yalom es lässig - wurde im 13. Jahrhundert geschaffen. Die höfische Liebe beruhte auf so intensivem Begehren,dass sie sich offen über religiöse Verbote hinwegsetzte. Marilyn Yalom erklärt Lesern sehr genau, wie es dazu kam, dass der im 12. Jahrhundert lebende Chrétien de Troyes in seinem Poem Lancelot "dem Ehebruch zu Recht und Ehre" verhalf und warum Marie von Champagne die außereheliche Liebe zum erhabenen Ideal stilisierte. Zu den wichtigsten Büchern zählt für die Literaturwissenschaftlerin ein von Madame de la Fayette verfasster Roman.
Prinzessin, Ehemann und ihren potenziellen Liebhaber
"Man kann kein Buch über die französische Liebe schreiben, ohne sich mit dem 17. Jahrhundert und dem Roman "Die Prinzessin von Clèves" zu beschäftigen. Er ist der bedeutendste psychologische Roman jener Zeit. Wir haben die Dreierkonstellation - die Prinzessin, den Ehemann und ihren potenziellen Liebhaber, den Herzog von Nemours -, aber sie lehnt es ab, eine Affäre zu beginnen. Und auch nachdem ihr Mann gestorben ist, weicht sie der jetzt möglichen gewordenen Ehe mit dem Herzog aus. Sie fragt sich, ob er sich ihr gegenüber ein Leben lang loyal verhielte, und am Ende kommt sie zu dem Schluss, dass sie ihm nicht vertrauen kann und er nicht die Art Mann ist, den sie will."
"Bevor man etwas brennend begehrt, sollte man das Glück dessen prüfen, der es bereits besitzt". Mit diesem Satz schickte die Prinzessin ihren Freier weg. Der Skeptizismus prägte das 17. Jahrhundert und trug das kritische Denken hinein in die menschlichen Beziehungen. Marilyn Yalom hat Französische Literatur an der Stanford University gelehrt, doch erst lange nach ihrer Emeritierung fühlte sie sich frei, den Lesestoff ihres Lebens zu ordnen und diesen immer wieder auch erfrischend salopp zu kommentieren. Sie ergänzt ihre literatur- und kulturhistorischen Analysen durch Beobachtungen, die sie bei regelmäßigen Besuchen in Frankreich gemacht hat und veranschaulicht beiläufig - aber mit sicherem Gespür für Pointen - die Unterschiede im Liebesverständnis von Amerikanern und Franzosen. Yalom hat auch auf dem Feld der Gender-Studies geforscht und kam so in Kontakt mit der Feministin und Philosophin Elisabeth Badinter.
"Als ihr Ehemann Robert Badinter nach einer langen Regierungskarriere auf höchster Ebene in den französischen Senat gewählt wurde, sagte ich ganz gedankenlos: 'Ich weiß gar nicht, wie alt er ist.'
Sie schnitt mir mit einem Lächeln das Wort ab und antwortete: 'Er ist achtundsechzig und schön wie ein Gott.' Ich war überrascht über diese ganz offen die sinnliche Liebe betonende Äußerung und konnte nur stammeln: 'Eine amerikanische Frau hätte niemals gesagt, was Sie gerade gesagt haben.'
'Wieso nicht?'
'Ich weiß nicht.'
'Was hätte sie denn gesagt?'
'Eher so etwas wie, er ist achtundsechzig und eine Nervensäge.'
Wir lachten beide, und ich versuchte, das Ganze etwas geradezurücken.
'Wahrscheinlich übertreibe ich. Vielleicht hätte eine amerikanische Frau gesagt: 'Er ist immer noch ganz gut in Form'.'"
Verschämte amerikanische Art
Später trägt Marilyn Yalom eine Erklärung der verschämten amerikanischen Art, über den Liebsten zu reden, nach, wenn sie erklärt, dass das amerikanische Liebesideal sich in einer Welt entwickelte, in der es vor allem darauf ankam, nicht zu verhungern. Eine Paarbeziehung war wichtig zum Überleben. Erfüllung in der Liebe war Luxus, ebenso wie Verführungskunst. Marilyn Yalom, fasziniert vom französischen Geschlechterkampf, kommt nicht umhin, Choderlos de Laclos' verruchten Roman "Gefährliche Liebschaften" auf die Favoritenliste zu setzen. In Frankreich gehört das Buch zur Pflichtlektüre in Abiturklassen.
"Die Erotik dieses Buches ist so lasterhaft. Es ist ausgeschlossen, dass es jemals Eingang ins Highschool-Programm der Vereinigten Staaten fände. Dabei zeigt es wunderbar, wohin die Liebe führt, wenn sie ganz auf das Sexuelle konzentriert bleibt. Es gibt keine Moral in dem Text. Er ist ein Meisterstück. Ich könnte ihn alle drei Jahre wiederlesen und die Lektüre wäre immer wieder aufs Neue eine Bereicherung."
Marilyn Yaloms Buch ist eine literarische Fundgrube. Sie registriert die kleinsten Verschiebungen im Liebesverständnis der Jahrhunderte und beschreibt den Wandel anhand ausgewählter Textstellen und der Lebensführung von Autoren. Wurde die Liebe im 17. Jahrhundert bei Racine grosso modo als etwas Unfreiwilliges dargestellt, so stand Julie de Lespinasse in der vorrevolutionären Zeit uneingeschränkt zu ihrem exzessiven Charakter. Sie hatte einen Salon, drei Liebhaber zur gleichen Zeit - dazu gehörte der berühmte Mathematiker und Philosoph d'Alembert -, und sie stilisierte sich in ihren Briefen als Romanfigur. "Was wir im Jahr 2011 verloren haben", meint Yalom, "ist der Kristallisationsprozess". Damit ist die Fähigkeit gemeint, den Geliebten oder die Geliebte mit Attributen auszustatten, die wir bewundern.
Kein Raum für Illusionen
"Es war Stendhal, der den Prozess der Kristallisation erfunden hat. Manchmal ging es dabei nur um Illusionen. Heute, wo man erst Sex hat und dann darauf wartet, dass ein tieferes Gefühl entsteht, bleibt kein Raum für Illusionen. Die Amerikaner pochen auf Offenheit und Transparenz in Beziehungen, während die Franzosen sich nicht gern in die Karten schauen lassen und Geheimnisse pflegen."
Im Schlusskapitel versucht die Autorin uns davon zu überzeugen, dass der Roman nicht länger der privilegierte Ort der Liebe ist, sondern das Kino, so schreibt sie, "die fundamental französische Vorstellung in die Welt trägt, dass Liebe die größte Herausforderung ist". Und natürlich packt sie den Leser mit der Schilderung des Valentinstages, wie er 2010 in der Küstenstadt Deauville gefeiert wurde. Man wünscht sich plötzlich selbst dabei gewesen zu sein, als ein paar hundert Paare eine Szene aus Claude Lelouchs Film "Ein Mann und eine Frau" nachspielten. Lelouchs Filmheld war in einer Nacht tausend Kilometer gefahren, um die Frau zu sehen, die er liebte. Am Strand fand er sie. Die beiden liefen aufeinander zu und fielen sich in die Arme. Die Bürger von Deauville, so Marilyn Yalom, küssten sich lange und leidenschaftlich.
Marilyn Yalom: „Wie die Franzosen die Liebe erfanden. Neunhundert Jahre Leidenschaft". Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Meßner, Graf Verlag, München 2013, 443 Seiten, 22,99 EUR