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Sexualmoral in Deutschland im Wandel
Schamlose Zeiten?

Nie war unsere Gesellschaft freizügiger als heute - ein offener Umgang mit Sexualität ist alltäglich. Findet also eine fortschreitende Enthemmung statt? Oder wächst mit der Freizügigkeit auch die Scham? Damit beschäftigt sich auch die Ausstellung "Schamlos? Sexualmoral im Wandel" im Bonner Haus der Geschichte.

Von Dörte Hinrichs |
    Blick in die Ausstellung "Sexualmoral im Wandel" im Bonner Haus der Geschichte
    Blick in die Ausstellung "Sexualmoral im Wandel" im Bonner Haus der Geschichte (imago/stock&people/Sepp Spiegl)
    Ende der 1960er-Jahre waren es die Nacktbilder und das Paarungsverhalten der Kommune 1-Bewohner, die medienwirksam gegen die Monogamie und die damals gängige Sexualmoral rebellierten. Heute sind es die "Feuchtgebiete" in der Literatur oder die im Internet verkehrenden Vertreter der sogenannten "Generation Porno", die die Schamgrenzen ausloten oder gar überschreiten. Ist die Geschichte also eine Geschichte der fortschreitenden Enthemmung?
    "Empfindungen der Scham sind in hohem Maß abhängig vom kulturellen Raum, von Prägungen der Religion und des Zeitalters. Ihr Anlass trennt einzelne Menschen, ganze Epochen und Gesellschaften voneinander, (...) und nichts macht den Ablauf der Zeit anschaulicher als der Wandel jener Übereinkunft hinsichtlich des Gebotenen oder Erlaubten, welche wir Kultur nennen. Dieser Wandel nährt den stets naheliegenden Verdacht, die jeweils eigene Epoche sei besonders schamlos," schreibt der Journalist, Autor und Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg, Ulrich Greiner in seinem Buch "Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur". Doch die Geschichte, so Greiner, sei keine der fortschreitenden Enthemmung, dagegen sprächen die vielen Kontrollmechanismen, die unsere Zeit in hohem Maß bestimmen. Aber immer sei es das zweifelhafte Privileg der Älteren gewesen, den Verfall der Sitten wahrzunehmen. Die Entstehung neuer Sitten zu erkennen, sei weitaus schwieriger.
    Genau darum bemüht sich rückblickend die Bonner Ausstellung "Schamlos? Sexualmoral im Wandel". Sie greift beispielhaft die langfristigen Entwicklungslinien von 1945 bis heute auf, die Vorgeschichte und Nachwirkungen der 68er-Generation. Dr. Kornelia Lobmeier, Historikerin am Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig und Kuratorin der Ausstellung:
    "Natürlich hatte vor allen Dingen die katholische Kirche großen Einfluss genommen auf Politik, Gesetzgebung und hat versucht einer traditionellen Sexualmoral das Wort zu reden, indem also die voreheliche Keuschheit gepredigt wurde und die eheliche Treue. Tatsächlich aber ist auch hier wieder der Unterschied zwischen dem Propagierten und der gelebten Praxis."
    "Und da war es auch abgesprochen, wenn ich schwanger werde, dass, ich hatte Geld gespart, wird halt früher geheiratet. Über Liebe und Sexualität schweben immer noch die anerzogenen Hemmungen und als größte Bedrohung: Die Angst vor der ungewollten Schwangerschaft. Abtreibung ist verboten und ein Kind ohne Ehemann eine Schande."
    "Es war also so, dass man trotz Ächtung von vorehelichem Geschlechtsverkehr natürlich viele Paare bereits vor der Ehe Sex. Kontakte hatten, das wird auch in Umfragen des Allensbach Instituts in den 50er- und 60-er Jahren immer wieder deutlich. Und dafür spricht auch die große Zahl von sogenannten Muss-Ehen und nicht zuletzt auch die hohe Zahl von damals noch illegalen Schwangerschaftsabbrüchen ist hier zu beachten."
    Strafen für Abtreibungen und Kuppelei
    Die lag Schätzungen zufolge bei einer halben Million pro Jahr - und rund 10.000 Frauen starben jährlich an den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs. Die Einführung der Antibabypille wurde dann schließlich ein wichtiger Meilenstein für die Selbstbestimmung der Frau und die Geschichte der Frauenbewegung. Der langjährige Streit um den §218, um eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, war - und auch das lehrt die Ausstellung - vor allem ein bundesrepublikanisches Phänomen:
    "Auch in der DDR wurde Mitte der 60er Jahre die "Wunschkindpille" eingeführt. Erstaunlich ist zum Beispiel auch, dass die DDR bereits 1972 den §218, den sogenannten Abtreibungs-Paragrafen, reformierte und dort die Fristenlösung einführte. Aber anders als in der Bundesrepublik zum Beispiel war es kein Ergebnis einer langen gesellschaftlichen Diskussion und Forderung von Frauenverbänden und der sogenannten neuen Frauenbewegung wie in der BRD, sondern da kam es relativ unerwartet und als Gesetzvorschlag in die Volkskammer ein. Interessant ist auch, dass es das einzige Gesetz während der SED-Diktatur war, wo es bei der Volkskammerabstimmung auch Gegenstimmen gab."
    Zu der Zeit war im Westen der Republik nicht nur der Schwangerschaftsabbruch noch strafbar, auch wer nicht verheirateten Paaren Obhut gab, bekam Probleme:
    "Da war's ja nicht möglich bei ihm oder bei mir, das war damals nicht, dass man beim anderen übernachtet hat. In Gottes freier Natur ist es dann mal passiert."
    Vibratoren und Dildos stehen in einem Sex-Shop der Beate Uhse AG.
    Vibratoren und Dildos in einem Sex-Shop der Beate Uhse AG: Bringt die Freizügigkeit auch Schamlosigkeit? (picture alliance / dpa)
    Zu der Zeit gibt es noch den Kuppelei-Paragrafen. Und hinter Glas sieht man den Strafbefehl gegen eine Wirtin, die einem unverheirateten Paar die Übernachtung ermöglicht hatte. Bis 1973 war Kuppelei strafbar und wurde mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Es ist nicht das einzige Gesetz, über das man in der Ausstellung staunt, auch die Schubkästen, die einzelne Klischees und Begriffe aufgreifen, bringen Erhellendes zutage - etwa über das sogenannte Kranzgeld:
    "Das Kranzgeld ist so der landläufige Name für einen Anspruch auf Entschädigung, wenn nach versprochener Heirat, der Geschlechtsverkehr vollzogen wurde, die Heirat aber nicht zustande kam. So eine Art Entschädigung für die verlorene Unschuld, das nannte man Kranzgeld. Das konnte man bis 1998 einklagen in der BRD, in der DDR war er schon in den 50er Jahren aufgehoben worden dieser Paragraf und es hat auch den Namen daher, dass der Myrtenkranz bei der Hochzeit ja auch die Unschuld anzeigen sollte. Und eine Braut, die die Unschuld verloren hatte, die galt ja als minderwertig. Und dafür hatte sie einen Anspruch auf Wertausgleich."
    Auswüchse eines florierenden Erotikmarktes findet man in der Ausstellungsabteilung "Sex sells".
    "Nach der Lockerung des Pornografie-Verbotes sah das dann so aus, dass die Zeitungskioske gepflastert waren mit entsprechenden Zeitschriften-Covern. Und es ist eben tatsächlich so, dass in den 70er-Jahren das enorm zunahm, nackte Haut zu zeigen. Und das waren nicht nur die vermeintlichen Schmuddelzeitschriften, die dann bekannt wurden, sondern es sind auch vermeintlich seriöse Zeitschriften wie der "Spiegel", "Stern" oder "Konkret", die mit solchen Titeln aufmachten. Und dieses Titelbild vom Spiegel von 1977 das mussten wir abdecken, weil wir das heute so einfach nicht mehr zeigen können."
    Unter der Überschrift "Die verkauften Lolitas" posiert eine 11-Jährige mit gespreizten Beinen, bekleidet nur mit halterlosen Strümpfen. Das Titelbild missachtet aus heutiger Sicht das Selbstbestimmungsrecht und die Würde des Kindes.
    Größter Wandel im Bereich der Homosexualität
    Im Zusammenhang mit der sexuellen Freizügigkeit, die die 68er-Generation propagierte, spricht Ulrich Greiner auch von einer "Schamvernichtungskampagne".
    "Ihr Ziel bestand darin, alle Schambedürfnisse und Intimitätsbedürfnisse als Relikte einer bürgerlichen Kultur zu begreifen, die es zu überwinden galt. Mit ihrer verlogenen Doppelmoral, die Sexualität ganz allgemein tabuisierte, Homosexualität und voreheliche Beziehungen unter Strafe stellte, heimlich aber Seitensprung, Missbrauch und Vergewaltigung praktizierte, hatte diese bürgerliche Kultur, so glaubte man, das Recht verwirkt, die freie, natürliche Entfaltung der Individuen noch länger zu behindern: durch leere Rituale, strafbewehrte Verhaltensregeln, sinnlose Kleidervorschriften."
    "1970 hatte es die Bundestagsabgeordnete von Bothmer gewagt, in Hosen in den Bundestag zu kommen und erntete eine Empörung, die dazu führte, dass viele Zuschriften kamen, wo sie unter anderem als unanständiges, würdeloses Weib, superrote Adelige beschimpft wurde und damals war das fast der Untergang des Abendlandes, dass Frauen in Hosen auftraten."
    Einen breiten Raum in der Bonner Ausstellung nimmt der gesellschaftliche Umgang mit der Homosexualität ein. Während Frauen die Frauen liebten nichts zu befürchten hatten, sah das für schwule Männer ganz anders aus:
    "Im Bereich der Homosexualität. gab es sicherlich den größten Wandel: Von der Strafbarkeit nach § 175 des Strafgesetzbuches, wo in den 50er- und 60er-Jahren noch bis zu 4.000 Verurteilungen pro Jahr erfolgten hin doch zu einer weitgehenden Anerkennung auch gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften, das war ein weiter Weg, der auch heftig umkämpft war."
    Dass das Private immer auch politisch ist, das zeigt die Ausstellung anhand zahlreicher Exponate und auch wie tief greifend sich Geschlechterbeziehungen und Sexualmoral gewandelt haben. Die Kuratorin, Dr. Kornelia Lobmeier kommt zu dem Schluss:
    "Wir sind inzwischen sehr viel liberaler, pluralistischer geworden und insgesamt glaube ich entspannter, was die Fragen im Umgang mit Sexualität und Sexualmoral betrifft. Es gibt sicherlich inzwischen eine Vielzahl von Lebensentwürfen, die gelebt werden können und auch akzeptiert sind weitestgehend. Das Bewusstsein aber auch, dass jeder Mensch ein Recht hat auf ein selbstbestimmtes Leben und ein Recht auch auf sein eigenes Schamgefühl, das ist sicherlich auch eine wichtige Erkenntnis."
    Die Ausstellung "Schamlos? Wandel der Sexualmoral" ist noch bis zum 14. Februar 2016 im Bonner "Haus der Geschichte" zu erleben.