Karin Fischer: Dass die Sexualmoral sich in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewandelt hat, sieht jeder auf einen Blick, der Nachts durch private TV-Kanäle zappt. Ja, es war ein weiter Weg von der gesetzlich festgehaltenen Erfüllung ehelicher Pflichten früherer Jahrzehnte bis zu den Hunderten von halbnackten Mädchen, die via Selbstkapitalisierung bedürftigen Männern gebührenpflichtigen Pseudosex am Telefon anbieten, und das ganz freiwillig. Unter dem Titel "Schamlos? Sexualmoral im Wandel?" bietet jetzt das Zeitgeschichtliche Forum in Leipzig einen Überblick. Kornelia Lobmeier, die Kuratorin der Ausstellung, habe ich gefragt, wie sie den Wandel darstellt.
Kornelia Lobmeier: Wir haben uns bestimmte Aspekte ausgewählt, an denen wir das näher beleuchten. Eine erste Fragestellung ist, wie sich das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in den letzten sieben Jahrzehnten verändert hat - im Westen von dem propagierten Ideal des Mannes als Ernährer der Familie und der Frau, die sich auf die Rolle als treu sorgende Hausfrau und Mutter beschränken sollte. Aber wir zeigen auch den Vergleich zur Entwicklung im Osten. In der DDR sollte die Frau natürlich auch Hausfrau und Mutter sein und ihre Pflichten erfüllen, aber gleichzeitig auch Kollegin und Kameradin. Und wenn wir die Entwicklung heute ansehen, dann titeln Zeitschriften mit Schlagworten wie der verängstigte, der verunsicherte Mann, angesichts einer scheinbar überstrapazierten Gleichberechtigung der Frau. Auch das diskutieren wir.
Fischer: Diskutieren Sie auch, was das Thema Gleichberechtigung beziehungsweise Emanzipation der Frau und Annäherung von Geschlechterrollen dann mit Sexualmoral zu tun hat?
Lobmeier: Natürlich. Das ist dann ein weiteres Kapitel. Das ist das, wie sehr sich unsere Auffassung von Sitte und Anstand gewandelt hat: Was darf man sagen, was darf man zeigen, was darf man tun - von dem Keuschheitsgebot der 50er Jahre, wo die Frau unbefleckt in die Ehe gehen sollte, zu den scheinbar heute bindungslosen Menschen, die von einer Beziehung zur nächsten hoppen. Das wird natürlich auch thematisiert.
"Wir gehen in vielen Punkten deutlich sensibler an Themen heran als noch in den 70er Jahren"
Fischer: 900 Objekte sind in Ihrer Ausstellung zu sehen. Ist das eher Papierware, oder wie stellen Sie diese Themen dar?
Lobmeier: Es ist eine ganze Bandbreite von Objekten, die wir in der Ausstellung zeigen. Das sind dokumentarische Filmaufnahmen aus den 50er-, 60er-, 70er-Jahren, aber auch Dokumente, die durchaus von Interesse sein können, selbst so unscheinbar, wie sie da herkommen. Ein Beispiel nur ist die berühmte Schrift "X" von Beate Uhse, ein äußerlich völlig unscheinbares Dokument, bündelt sich doch dort aber wie unter einem Brennglas die Situation dieser Zeit. In der Schrift "X" hatte Beate Uhse Empfehlungen für natürliche Empfängnisverhütung gegeben, und das entsprach auch der Situation vieler Frauen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die unter der Not, dem Hunger, der Wohnungsnot und der Zukunftsungewissheit natürlich nicht ein zweites, drittes, viertes oder gar fünftes Kind bekommen wollten. Aber nach der offiziellen Lesart war der Beischlaf natürlich immer mit der Zeugung von Kindern verbunden. Sexuelle Lustbefriedigung kam da nicht vor und so waren viele gezwungen, dann zur Abtreibung zur Engelmacherin zu gehen mit verheerenden Folgen, und da war diese Schrift "X" ein Tropfen auf den heißen Stein und sie wurde über 30.000 Mal in kürzester Zeit verkauft, 1946, und das war eigentlich die Begründung des Beate Uhse Imperiums, das wir heute eher mit Erotik verbinden und nicht mit diesen grundsätzlichen Fragen der Sexualmoral.
Fischer: Wie beurteilen Sie das Gesetz zur Verschärfung des Sexualstrafrechts, das gerade jetzt im Bundestag beschlossen wurde, aus dieser historischen Perspektive, die Sie jetzt einnehmen können?
Lobmeier: Das ist auch ein wichtiges Anliegen unserer Ausstellung, nämlich lange Entwicklungslinien zu zeigen. Es ist aus der heutigen Sicht die aktuelle Diskussion um die Pädophilie-Haltung der Grünen in den Anfangsjahren nicht zu verstehen, wenn man nicht auch weiß, aus welchen Grundlagen das kam, dass man sich dort mit der Erziehung der 50er-Jahre auseinandersetzte und sexuelle Freiheit so weit interpretierte, dass es auch zu einem verharmlosenden Umgang mit Kindesmissbrauch kam. Aus heutiger Sicht ist das unverständlich und kaum zu erklären. Aus der damaligen Sicht war es eine Form der Abgrenzung, die wir heute natürlich nicht mehr gutheißen können. Und so zeigt sich das auch in vielen anderen Aspekten, dass wir in vielen Punkten deutlich sensibler an Themen herangehen wie vielleicht noch in den 70er-Jahren.
Fischer: Kornelia Lobmeier war das, die Kuratorin der Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig zum Wandel der Sexualmoral.
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