Da gibt es den Gesangslehrer, der bei seinen männlichen Studenten mit einem beherzten Griff in den Schritt überprüft, ob die Stimme auch richtig gestützt wird, denn so sei das am effektivsten. Oder den Dirigenten, der die Sopranistin nach der Bühnen/Orchesterprobe in seine Garderobe bittet und sich aus Zeitgründen vor ihr umzieht, sie verstehe doch sicher, dass die Arbeit ihn immer errege. Oder Orchestermusiker und -musikerinnen, die bei einem Probespiel auch die körperlichen Vorzüge der Kandidatinnen und Kandidaten angeregt diskutieren. Häufig bleibt das auf einer eher anekdotischen Ebene, aber auch im Bereich der klassischen Musik gibt es sexuelle Belästigung und sexuellen Missbrauch.
Klassischer Musikbetrieb: extrem hierarchisch aufgebaut
Wie auch nicht, schließlich sind auch Musiker Menschen, ist auch und gerade der klassische Musikbetrieb in Orchestern, Theatern und Plattenfirmen extrem hierarchisch aufgebaut. Es geht ja bei sexueller Belästigung und sexuellem Missbrauch nie um Liebe, nur bedingt um Sex, sondern vor allem um Macht.
Im Klassikbetrieb wird diese Macht auch noch metaphysisch überhöht. Da ist der Kunstpriester in seinem Tempel, dem sich das Publikum ohnehin nur demütig nähert, weil er die Zuhörer mittels seines Genies an etwas Göttlichem teilhaben lässt. Wer will da schon so kleinlich sein und moralisch argumentieren, wenn es doch um die heilige Kunst geht? Auf diese Weise entsteht im geschützten Raum der Kunst ein Klima der Heiligenverehrung, in dem sich die Opfer viel zu lange nicht trauten, an die Öffentlichkeit zu gehen.
Im Zuge der großen Sexismusdebatte in anderen gesellschaftlichen Bereichen scheint der fest installierte Schutzschild unserer Musikhohepriester nun aber zu bröckeln. Das ist auf jeden Fall zu begrüßen. Denn man kann es nicht oft genug wiederholen: Auch Genialität berechtigt niemanden dazu, seine Position zu missbrauchen, vor allem nicht dazu, sich sexuellen Zugriff zu erlauben, wo er nicht freiwillig gegeben wird.
Kunst entsteht vorzugsweise in geschützten Räumen
Gleichzeitig ist das Thema heikel, denn Kunst entsteht vorzugsweise in geschützten Räumen, in denen gesamtgesellschaftliche Regeln mitunter nur eingeschränkt gelten. Da verschwimmen in Proben und Aufführung schon mal die Grenzen zwischen Spiel und Realität und im Taumel einer Liebesszene landet die Zunge der Sängerin tief im Rachen eines Sängers, der das weder wollte noch damit gerechnet hat. Unangenehm? Ja klar. Sexueller Missbrauch? Wohl eher nicht.
Wenn ein Künstler oder eine Künstlerin hingegen seine Position benutzt, um sexuelle Handlung bei Schutzbefohlenen, gar Minderjährigen zu erpressen, muss über solche Feinheiten nicht mehr diskutiert werden, dann müssen gerichtsfeste Beweise her. Erst dann kann auch öffentlich darüber berichtet werden, wobei die Unschuldsvermutung weiterhin gelten muss. Je näher man hinschaut, umso komplizierter wird es, gerade wenn es so private Dinge wie Sexualität betrifft.
Es käme nun also darauf an, neben den künstlerischen Freiräumen auch jene Räume zu schaffen, in denen die Opfer der Übergriffe ernst genommen werden. Wo derartige Vorwürfe nicht totgeschwiegen oder mit Hinweis auf die künstlerische Größe des Täters entschuldigt werden. Das ist nicht nur eine Herausforderung für die Theaterleitungen, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Für ein Klima zu sorgen, in dem der Mächtige sich nicht alles erlauben kann, und in dem der Machtlose nicht auch noch Angst vor Jobverlust und Karriereende haben muss, wenn ihm Unrecht geschehen ist.